Vom Schock zum nuklearen Rollback?

Warum der Krieg in der Ukraine auch ohne Atomwaffen ein „Atomkrieg“ werden könnte und ein Uran-Embargo bisher unter den Tisch fällt.

Rafael Grossi ist besorgt. In friedlicheren Zeiten tritt der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, IAEA, vor allem als Fürsprecher der Atomindustrie in Erscheinung. „Atomkraft ist Teil der Lösung“, lautet Grossis Werbebotschaft. Doch jetzt ist Krieg in Europa, und Atomkraftwerke sind mehr denn je Teil des Problems.

Denn auch wenn Putin keine Atomwaffen einsetzt, ist die nukleare Bedrohung in der Ukraine omnipräsent. Das Land deckt mehr als 50 Prozent seines Strombedarfs mit dem Betrieb von insgesamt 15 Reaktorblöcken an vier Standorten. Die überalterten Meiler sowjetischer Bauart sind zweifelsohne auch in Friedenszeiten ein wachsendes Sicherheitsrisiko, doch im Krieg steigt die Gefahr um ein Vielfaches. Das weiß auch Grossi, als er nach dem Beschuss eines Nebengebäudes der größten Atomanlage Europas in Saporischschja im Südosten der Ukraine feststellt: „Wir sind einer Katastrophe knapp entgangen.“ Als der IAEA-Chef vorschlägt, Russland und die Ukraine sollten Rahmenbedingungen vereinbaren, die eine „erhöhte nukleare Gefährdungslage durch den Krieg ausschließen“, wirkt das angesichts der Kriegsrealität geradezu hilflos grotesk.

Vom Stromausfall zum Super-GAU

Tatsächlich gehört der gezielte Angriff eines Reaktors etwa aus der Luft zu den weniger wahrscheinlichen Szenarien – Russland wäre von den Folgen einer Atomkatastrophe in der Ukraine schließlich ebenfalls betroffen. Unbeabsichtigte Treffer sind eher ein Grund zur Sorge. Die größte Gefahr für Atomanlagen im Kriegsgebiet ist jedoch erschreckend banal: Stromausfall. Eine längere Unterbrechung der externen Stromversorgung kann bei einem AKW zu einem Versagen der Kühlsysteme und schließlich zur Kernschmelze führen. Bei einem Ausfall des Stromnetzes übernehmen zunächst Notstromaggregate die Reaktorkühlung. Kritisch wird die Situation jedoch, wenn die Kraftstoff-Reserven für den Betrieb der Notstromgeneratoren aufgebraucht sind. Das ist spätestens nach einigen Tagen der Fall. Wenn der Treibstoff-Nachschub dann nicht oder nicht rechtzeitig kommt, ist der Super-GAU unausweichlich. Diese Gefahr betrifft nicht nur laufende AKW, auch heruntergef ahrene Reaktoren und nassgelagerte Brennstäbe benötigen aufgrund der Nachzerfallswärme eine aktive Kühlung, ansonsten droht ebenfalls die Kernschmelze. Mit dem Abschalten der Reaktoren wäre das Ausmaß eines möglichen Unfalls zwar gemindert, die Gefahr jedoch keinesfalls gebannt.

Atomkraft ist nicht krisentauglich

Die fragile Lage an den Atomanlagen in der Ukraine bedeutet eine zusätzliche Sorge für die Menschen, die ohnehin unter den Bedingungen des Krieges leben müssen. Gleichzeitig sind die Reaktoren im Kriegsgebiet eine Bedrohung für den gesamten Kontinent. Denn ein schweres Atomunglück in der Ukraine würde sich unweigerlich auch auf andere Länder auswirken.

Auch wenn die aktuelle Situation mit besetzten Atomanlagen und Kampfhandlungen auf dem AKW-Gelände beispiellos ist, so ist sie bezeichnend für das Kernproblem: Atomstaaten leisten sich eine unbeherrschbare Technik, deren größtes Potential in der Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen liegt. Kein AKW weltweit ist sicherheitstechnisch für den Kriegsfall ausgelegt. Atomkraft ist eine Schönwetter-Technologie – in der Krise offenbart sie ihre Anfälligkeit. Das betrifft nicht allein Kriegs- und Terrorgefahren, sondern auch Klimaveränderungen mit langanhaltenden Hitzeperioden, überheizten Flüssen oder Sturmfluten, die für den Betrieb von Atomkraftwerken zum Problem werden können.

Das „schöne Wetter“ ist auch in Europa längst vorbei. Der Streit um Atomkraft geht jedoch weiter, ungeachtet der Risiken, die mit dem Krieg in der Ukraine offensichtlich geworden sind. In Deutschland hat sie sogar noch einmal Fahrt aufgenommen – wenige Monate vor dem gesetzlichen Abschalttermin der drei letzten deutschen Atomkraftwerke am 31. Dezember.

Atomausstieg als Alibi für die verpatzte Energiewende

Als Anfang März am AKW in Saporischschja die Kampfhandlungen einsetzten und selbst den Atomlobbyisten von der IAEA der Atem stockte, ertönte zeitgleich aus Bayern der Ruf nach einer Rückkehr zur Atomkraft: Angesichts der Auswirkungen des Krieges auf die Energieversorgung sollten die Laufzeiten der deutschen AKW über Ende 2022 hinaus für mehrere Jahre verlängert werden. Die lauteste Stimme gehört Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der den Ausbau der Windkraft in Bayern mit überzogenen Abstandsregelungen für Windräder zur Wohnbebauung bisher verunmöglicht hat.

Der Verdacht liegt nahe, dass Söder mit seiner Forderung nach längeren Laufzeiten vor allem von den eigenen energiepolitischen Fehlern ablenken will. Denn die Entscheidung über den Weiterbetrieb der Atommeiler ist eigentlich Bundessache und erfordert eine Gesetzesänderung, für die es realistisch keine Mehrheit gibt. Obwohl selbst die AKW-Betreiber verhalten sind, steigt auch die neue CDU-Spitze in die Debatte ein. Parteichef Friedrich Merz stellt den Atomausstieg sogar grundsätzlich infrage. Damit stiehlt er sich für die Versäumnisse seiner Partei bei der Energiewende aus der Verantwortung: Schuld war im Zweifel der Atomausstieg. Das ist jedoch ebenso einfach wie falsch.

Die von CDU und CSU angezettelte Atom-Debatte kommt angesichts der nuklearen Bedrohungslage in der Ukraine nicht nur zur Unzeit, sie verhehlt auch die Tatsachen – und lenkt ab von der eigentlich notwendigen Diskussion über Energiesparmaßnahmen und die Transformation des Energiesektors.

Sicherheitstechnisch riskant – energiepolitisch kontraproduktiv

Die letzten drei AKW Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland haben einen Anteil von nur etwa sechs Prozent im deutschen Strommix. Der vermeintliche Nutzen durch eine Beibehaltung dieser Kapazitäten steht in keinem Verhältnis zu den Kosten und sicherheitstechnischen Problemen, die Laufzeitverlängerungen mit sich bringen würden. Denn der Betrieb der Atomanlagen wurde in den vergangenen Jahren auf das Abschaltdatum Ende 2022 ausgerichtet. Das betrifft sowohl die Personalplanung als auch sicherheitsrelevante Nachrüstungen und Prüfungen. Alle drei AKW haben eine Betriebsdauer von 30 Jahren längst überschritten und weisen bereits teils erhebliche technische Mängel auf. Eine Verlängerung der Laufzeiten würde sich über mehrere Jahre erstrecken und wäre sicherheitstechnisch nicht verantwortbar. Die Betreiber müssten die Reaktoren zudem mit neuen Brennelementen beladen. Das allein braucht jedoch einen Vorlauf von etwa eineinhalb Jahren, da Brennelemente k eine Massenware sind, sondern auf die jeweilige Anlage angepasst werden müssen.

Ganz unabhängig davon wäre die deutsche Energiekrise im Kern mit Atomkraft nicht ansatzweise lösbar. Denn für Heizwärme und Industrieprozesse, die etwa 85 Prozent des deutschen Gasverbrauchs ausmachen, spielt Atomstrom keine Rolle. Bei der übergangsweisen Verstromung von fossilem Gas ist der Optimalfall außerdem, dass die Zufuhr nur dann erfolgt, wenn Erneuerbare nicht ausreichend Strom liefern können. Um die Lücken zu schließen, muss ein Kraftwerk schnell rauf- und wieder runtergefahren werden können. Das ist bei Gaskraftwerken der Fall, Atomkraftwerke funktionieren jedoch nach dem Grundlastprinzip und können gerade das nicht leisten. Die Folge ist, dass Atomstrom Erneuerbare aus den Netzen verdrängt, sobald eine Überlastung des Stromnetzes bei Überkapazitäten droht. Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken würden somit die Energiewende weiter ausbremsen und wären daher energiepolitisch nicht nur sinnlos, sondern sogar kontr aproduktiv.

Die Mär von der nuklearen Energieunabhängigkeit

Dass Atomkraft die Abhängigkeit von russischen Energieimporten verringert, gehört zu den größten Mythen der aktuellen Atom-Debatte. Tatsächlich ist Russland ein zentraler Player entlang der gesamten nuklearen Produktionskette. In den vergangenen Jahren hat Putin seinen Einfluss im Atombereich mit dem russischen Staatskonzern Rosatom weltweit erfolgreich ausgebaut. Rund 20 Prozent des in der EU benötigten Natururans stammen laut der europäischen Atomgemeinschaft Euratom aus Russland. Weitere 20 Prozent kommen aus dem verbündeten Kasachstan. Bei der für die Brennstoffherstellung notwendigen Urananreicherung nutzt die EU zu 26 Prozent russische Kapazitäten. Das letzte bayerische Atomkraftwerk Isar 2 läuft laut Betreiberin Preussen-Elektra seit Jahren sogar fast ausschließlich mit Uran aus Russland und Kasachstan, ein geringer Anteil stammt zudem aus Kanada, wo Russland ebenfalls Beteiligungen an Uranminen hält. Markus Söder sollte das bekannt se in und dennoch argumentiert er mit der Energieunabhängigkeit von Putin für längere AKW-Laufzeiten.

Sanktionen wurden im Nuklearsektor bislang nicht gegen Russland verhängt. 18 Reaktoren in der EU sind abhängig von Brennelementen, die ausschließlich in Russland produziert werden. Frankreichs Atomgeschäfte sind ebenfalls eng verstrickt mit dem russischen Staatskonzern Rosatom. Während die marode französische Atomindustrie wirtschaftlich von der russischen Investitionsbereitschaft profitiert hat, hat Russland die Partnerschaft vor allem geostrategisch genutzt.

Nicht nur Europa, auch die USA sind abhängig von Russlands Atomindustrie. Das Uran für US-amerikanische Atommeiler stammt aktuell zu etwa 50 Prozent aus Russland, Kasachstan und Usbekistan. Russlands Macht im Atombereich ist insgesamt so groß, dass der Westen unter einem möglichen Atom-Embargo offenbar mehr leiden würde als Russland, und es deshalb bislang unterlässt, ein solches zu verhängen.

Rollback statt Energiewende?

War der Uranpreis jahrelang im Keller, so treiben Krieg und Energiekrise ihn jetzt in die Höhe. Finanzinstitute raten Anleger:innen mittlerweile vehement zu Investitionen in Uran-Aktien. Bald könnte es für die Industrie wieder lukrativ werden, neue Minen zu erschließen – auf Kosten der Menschen – oftmals indigen Bevölkerungen –, die in umgebenden Gebieten leben und den Uranabbau mit ihrer Gesundheit und einem dauerhaft verseuchten Lebensraum bezahlen.

Es ist denkbar, dass die Weltkrise die westliche Atomwirtschaft beflügelt und diese sich in Abkopplung von Russland neu aufstellt. Das dreckige und gefährliche Geschäft mit Uran könnte wieder laufen. Auch in Deutschland könnte die Uran-Industrie von den Entwicklungen profitieren. Die Auslastung der Urananreicherungslage in Gronau und der finanziell maroden französischen Brennelementefabrik in Lingen könnte steigen. Die beiden Fabriken sind vom Atomausstieg ausgenommen und setzen die Produktion von Brennstoff für AKW im Ausland auch nach 2022 fort.

Mit einem nuklearen Rollback hätte die Weltgemeinschaft auch energiepolitisch die falschen Schlüsse aus der Krisensituation gezogen und eher den Schritt zurück als nach vorn gewagt.

Sofern hoffentlich kein schlimmeres Unglück an den Atomanlagen in der Ukraine geschieht, wird IAEA-Chef Rafael Grossi seinen globalen Werbefeldzug für die „nukleare Lösung“ fortsetzen. Und auch CDU und CSU werden weiter lauthals über den deutschen Atomausstieg jammern.

Sicherheit und Resilienz sind auf Basis des atomar-fossilen Energiesystems jedoch nicht möglich, weder global noch lokal. Putins Krieg in der Ukraine zeigt auf bittere Weise, was in den vergangenen Jahrzehnten energiepolitisch falsch gelaufen ist. Diese Fehler sind jedoch nicht zu beheben, indem man einfach nur die Bezugsquellen ändert. Das politisch ebenso Notwendige wie Machbare wäre ein konsequenter Systemwechsel hin zu den Erneuerbaren Energien – nicht nur für den Klimaschutz, sondern auch für den Frieden.

Angela Wolff lebt in Flensburg und schreibt regelmäßig Artikel zu energiepolitischen Themen. Sie war Campaignerin bei der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt und arbeitet aktuell als Referentin für Atompolitik beim BUND in Berlin.