Schmelztiegel des modernen Industrieproletariats

Wenn von WissenschaftlerInnen die Frage gestellt wird, wo in unserer heutigen Welt denn das Industrieproletariat zu finden sei, dann muss die Antwort heißen: in Guandong und Shenzhen. Hier wird für die Welt produziert. Auf der Liste der weltweit wichtigsten Flughäfen nimmt jener von Shenzhen Platz 24 ein. Hongkong hat den wichtigsten und größten Frachtflughafen der Welt. Die Güter, die hier umgeschlagen werden, stammen aus Shenzhen. Auch hier zeigt sich wieder die enge Verbindung zwischen beiden Städten.

Um es klar zu sagen: Der I-Pod mit dem Menschen in Deutschland sich auf dem Weg zur Arbeit ablenken, das Smartphone welches für viele ein ständiger Begleiter ist, der Fernseher mit dem neueste Serien angeschaut werden, Laptops, PCs, Küchenmaschinen, eigentlich alles, was irgendwie mit Elektronik zu tun hat – die Chance, dass all diese Dinge von Shenzhen via Hongkong in die heimischen Wohnzimmer geflogen worden ist, liegt bei über 90 Prozent.

Shenzhen ist ein Beispiel dafür, wie sich Dinge in ihr Gegenteil verwandeln können. Im 19. Jahrhundert war die Region rund um das Perlfluss-Delta Schauplatz des Opiumkrieges, mit welchem sich Großbritannien und andere europäische Großmächte China gefügig machten. Hongkong wurde damals zur britischen Kronkolonie, welche erst 1997 wieder abgetreten wurde.

Über viele Jahrzehnte war Shenzhen mit seinen 3.000 EinwohnerInnen ein Beispiel für die Rückständigkeit Chinas. 1980 wurden vom chinesischen Regime Weichen gestellt, um diese Situation schlagartig zu ändern. Shenzhen wurde zur ersten Sonderwirtschaftszone der Volksrepublik erklärt. Das hügelige und fruchtbare Ackerland der Gegend wurde planiert, um Platz zu schaffen für die Entwicklungen, die da kommen sollten.

Sonderwirtschaftszonen als Kern chinesischer Entwicklungsstrategie

Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Herangehensweise an Sonderwirtschaftszonen (es gibt derzeit fünf von ihnen in China) ist eine Frage: Wie kann man an ausländisches Industrieknowhow herankommen, es sich aneignen und schließlich selber für den Export produzieren? Das ist eine Frage, mit der in vergangenen Jahrhunderten jede aufstrebende Industrienation konfrontiert war. Deutschland war zum Beispiel im 18. und 19. Jahrhundert in Großbritannien für seine Industriespionage berüchtigt. Ohne geklautes britisches Wissen hätte es Krupp und Thyssen in ihrer bekannten Form nie gegeben. Das ist nicht ohne Ironie, betrachtet man die heutige Sorge deutscher Großkonzerne vor chinesischem „Wissenstransfer“.

Die Sonderwirtschaftszone Shenzhen spielte bei diesem Wissenstransfer eine wesentliche Rolle, und wieder ging es dabei auch um den „Zwilling“ Hongkong. Im Wesentlichen war die Zone zum Zeitpunkt ihrer Gründung eine große Einladung an das Hongkonger Kapital: „Kommt her und produziert bei uns. Die Löhne sind billig und ihr müsst keine Steuern oder Zölle zahlen.“ Die Werbung funktionierte, die Hongkonger kamen. Noch immer werden 75 Prozent der in Shenzhen tätigen Unternehmen, das sind 9.000 an der Zahl, durch Hongkonger Auslandskapital finanziert.

Der wissenschaftliche Dienst des deutschen Bundestages befasste sich 2018 ausführlich mit dem Thema Sonderwirtschaftszonen. Dabei wird ausführlich aus einer Makroanalyse Chinas von Dirk Bronger und Johannes Wamser zitiert. Sie bezeichnen die chinesischen Sonderwirtschaftszonen als „Versuchsfelder für marktwirtschaftliche Experimente“ und schreiben weiter: „Die Küste mit ihren komparativen Vorteilen als mögliche Exportbasis vor Augen wurde als Standort ausländischer Direktinvestitionen anvisiert, und so erfolgte die Standortwahl in den südchinesischen Provinzen Guandong und Fujian, die in unmittelbarer Nähe zu Hongkong und Taiwan liegen: Shenzhen und Zhuhai im Hinterland von Hongkong, Xiamen gegenüber Taiwan und Shantou in der Mitte zwischen beiden gelegen. (…) Mit der Standortwahl war die Erwartung verknüpft, dass die festlandchinesischen Regionen von der Leistungskraft Hongkongs und Taiwans profitieren würden (…). Mit der Einrichtung d er vier SWZ verfolgte man außerdem die langgehegte Zielsetzung, eine wichtige Voraussetzung für die politische (Wieder-)Vereinigung mit den „Provinzen“ Hongkong und Taiwan auf dem (Um-)Weg einer wirtschaftlichen Integration zu erreichen.“ Aus der Sicht des chinesischen Regimes stellt die Hongkonger Protestbewegung ein großes strategisches Hindernis für diese Pläne dar. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, wie das Regime über seine Integrationspolitik potentielle Totengräber seiner Herrschaft erzeugt hat. Je kürzer die Verbindungswege zwischen Hongkong und dem Festland, desto kürzer der Weg, den Funken des Aufstands zurücklegen müssen.

Technologiesprünge und Ausbeutung: Huawei,Foxconn und Co

Ren Zhengfei ist ein Name, den man kennen sollte. Ursprünglich arbeitete er am Forschungsinstitut der Volksbefreiungsarmee, um dort der chinesischen IT auf die Sprünge zu helfen. 1987 gründete er den Huawei-Konzern und siedelte diesen in Shenzhen an. Das Startkapital betrug umgerechnet 9.000 Euro.

Ganz im Sinne der Strategie der Sonderwirtschaftszonen befasste sich Huawei in den ersten Jahren mit Technologietransfer, indem man Dienstleistungen für Hongkonger Unternehmen verrichtete. Dort wartete und installierte der chinesische Konzern Telefonanlagen. Als nächsten Schritt begann Huawei damit, diese Anlagen auf das chinesische Festland zu importieren und von Shenzhen aus in andere chinesische Regionen weiterzuverkaufen. Ganz nebenbei eignete man sich so ein Expertenwissen in der Telekommunikation an, welches in den kommenden Jahrzehnten stetig erweitert wurde.

2018 machte Huawei einen Gewinn von 7.87 Milliarden Euro. Aus dem Startup ist ein Weltkonzern mit 180.000 Beschäftigten geworden. Der Technologietransfer funktioniert längst zweigleisig. Schon lange kopiert China nicht mehr nur ausländische Technologien. Ein Problem, mit dem sich die USA in ihrem Handelskrieg gegen China konfrontiert sehen, ist, dass wachsende Teile amerikanischer Infrastruktur mit Kommunikationstechnologien des Huawei-Konzerns funktionieren. Auch die Forschungseinrichtung CERN in der Schweiz läuft mit Huawei-Knowhow.

Den Preis für dieses rasante Wachstum zahlen arbeitende Menschen. Ein großer Teil von ihnen sind WanderarbeiterInnen aus den inneren Regionen Chinas. In China besteht ein großes Ungleichgewicht zwischen den Sonderwirtschaftszonen und anderen Landesteilen, die entweder ländlich oder durch marode Staatsbetriebe geprägt sind. Aus diesen Gegenden stammen die 30 Millionen ArbeitsmigrantInnen, die in der Region Guangdong arbeiten. Ihnen ist es gesetzlich verboten, sich dauerhaft in der Nähe ihres Arbeitsplatzes niederzulassen.

Auch der Foxconn-Konzern produziert in Shenzhen. Er ist einer der weltweit größten Hersteller von Elektronik und Computertechnik. Zu seinen Auftraggebern zählen Hewlett-Packard, Dell, Apple, Nintendo, Microsoft und Intel. Mehr als 80 Prozent der für Foxconn arbeitenden Menschen sind Wanderarbeiter. 2010 machte Foxconn internationale Schlagzeilen, weil es in den Produktionsstätten des Konzerns zu einer Selbstmordserie kam: Die Leute hielten die 80-Stundenwochen, den Arbeitsdruck und das militarisierte Arbeitsregime nicht aus. Inzwischen hält die Digitalisierung Einzug: 60.000 Beschäftigte wurden im Jahr 2016 entlassen und durch Roboter ersetzt. Der technologische Wandel, an dem China kräftig mitgewirkt hat, führt auch im Land selbst zu Konflikten.

Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren in Shenzhen zu Massenstreiks. Die Menschen fordern höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und das Recht auf von der Kommunistischen Partei unabhängige gewerkschaftliche Organisierung. Im August 2018 nahmen Spezialeinheiten der Polizei in der Stadt 50 Personen fest, denen die Gründung einer solchen Gewerkschaft vorgeworfen wurde. Das Regime hat Angst vor einer unabhängigen Arbeiterbewegung, die hier im Schmelztiegel des modernen Industrieproletariats entstehen könnte.

Christan Bunke lebt in Wien und ist bei Lunapark21 für „Ort & Zeit“ verantwortlich.


ort & zeit

Ort Sonderwirtschaftszone Shenzhen, VR China, Region Südchina, Provinz Guandong

Fläche 1991 Quadratkilometer

Einwohnerzahl 1950 3.000 Einwohnerzahl 2011 12.470.000

Angrenzende Gewässer Perlflussdelta, südchinesisches Meer

Bedeutende Nachbarstadt Hongkong

Wichtige Parole Lasst den Westwind herein. Reichtum ist ruhmvoll. Deng Xiaoping, 1980

Hongkongs industrieller Nachbar

Wer die Proteste in Hongkong verstehen möchte, muss auch die chinesische Provinz Guandong im Blick haben, und hier insbesondere die Großstadt Shenzhen. Shenzhen grenzt direkt an Hongkong an. Getrennt werden die beiden Städte nur durch die Flüsse Sham-Chun und Sha-Tau-Kok. Im deutschsprachigen Raum wurde Shenzhen einer größeren Öffentlichkeit bekannt, als Mitte August Berichte verbreitet wurden, wonach chinesische militärische Aufstandsbekämpfungseinheiten dort zusammengezogen wurden – ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung der Protestbewegung in Hongkong.

Shenzhen ist vielfach mit Hongkong verbunden. Ohne Shenzhen wäre Hongkong nicht überlebensfähig. Shenzhen produziert einen großen Teil des Strombedarfs von Hongkong. Täglich strömen hunderttausende Menschen von Shenzhen nach Hongkong, um dort zu arbeiten. Sie wohnen lieber in Shenzhen, weil sie sich das Leben in Hongkong nicht leisten können. Gleichzeitig machen viele BewohnerInnen Hongkongs ihren Wocheneinkauf am liebsten in Shenzhen, eben weil es dort einfach billiger ist. Um Hongkong noch enger an China zu binden, wurde 2018 mit der Hongkong-Zughai-Macao-Brücke die längste Brücke der Welt eröffnet. Sie kostete 15 Milliarden Euro und ist 15 Kilometer lang.

Es findet ein täglicher Austausch zwischen beiden Metropolen statt. Das bedeutet aber auch, dass regimekritische Bewegungen potentiell nach Shenzhen übergreifen können. Die gestiegene Militärpräsenz in Shenzhen richtet sich somit nicht nur an den Unruheherd auf der anderen Seite des Flusses. Sie soll auch der eigenen Bevölkerung die Konsequenzen eines Aufstands vor Augen führen.