Stupid Work 2.0

Auslagerung schafft nicht nur prekäre, sondern auch monotone Jobs
Jörn Boewe. Lunapark21 – Heft 28

„Gelernt hab ich KFZ-Mechaniker“, sagt Karsten. Aber obwohl er in der Autoindustrie arbeitet, würde der 28-Jährige heute in seinem Beruf nichts mehr finden. „Ich bin zu lange raus«“, sagt er. Seit fünf Jahren baut Karsten mit an Autos, die zu den modernsten gehören, die in Deutschland produziert werden. Es klingt paradox, aber es ist genau dieser Job, der ihn dequalifiziert hat.

Wenn man sieht, worin seine Arbeit besteht, wird auch klar, warum das so ist. Karsten legt Felgen und Reifen auf ein Fließband. Mehr nicht. Das macht er den ganzen Tag. „Reifenmontage“ nennt sich das, wobei die eigentliche Montage vollautomatisch durch eine Maschine erledigt wird. Karsten ist nur ihr Handlanger, „Produktionshelfer“ steht in seinem Arbeitsvertrag. SCHEDL Automotive System Service heißt das Unternehmen, bei dem er beschäftigt ist. Die Werkshalle steht in einem Leipziger Industriegebiet an der Alten Seehausener Straße, Ecke BMW-Allee. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, liegt das futuristisch anmutende, preisgekrönte Zentralgebäude des Leipziger BMW-Werks. SCHEDL ist einer von etwa zwei Dutzend sogenannten Industriedienstleistern an der Peripherie von BMW und Porsche.

Monoton, vernetzt, gespalten
Die beiden Automobilkonzerne haben hier 2004/2005 Endmontagewerke auf der grünen Wiese errichtet. Nicht nur die neueste Technik kam zum Einsatz, sondern auch die neuesten Konzepte der Fabrikorganisation: Konzentration auf die Kernkompetenzen, geringe Fertigungstiefen und möglichst viel Outsourcing von Anfang an. Von der „wandlungsfähigen“, „modularen“, „vernetzten“ oder „atmenden“ Fabrik ist die Rede. Gemeint sind eng verzahnte Produktionsverbünde: Unabhängige Unternehmen bilden einen gemeinsamen Betrieb – wohlgemerkt: technisch gesehen, nicht juristisch. Es sind Verbünde zwischen sehr ungleichen Partnern: BMW und Porsche stehen im Zentrum und diktieren den Zuliefer-Dienstleistern, die sich an ihrer Peripherie gruppieren, per Werkvertrag die Bedingungen. Die Verträge haben üblicherweise Laufzeiten von wenigen Jahren und sind an bestimmte Modellserien gekoppelt. Ob es nach deren Auslaufen zu einem Folgeauftrag kommt, ist für die Werkvertragsnehmer ungewiss. Diese Planungsunsicherheit reichen sie unmittelbar an ihre Beschäftigten weiter: Befristete Arbeitsverträge und hohe Leiharbeitsquoten sind die Regel. In den meisten Unternehmen existieren keine Tarifverträge, und selbst dort, wo es welche gibt, liegen die Löhne deutlich unter dem Niveau der Autoindustrie – und die Arbeitszeiten darüber.

Das penetrante Bestreben, möglichst viele Fertigungsschritte auszulagern, wirkt aber nicht nur als Prekarisierungsmotor. Es führt auch zu einer fortschreitenden Fragmentierung der Arbeit, zur Abspaltung von immer mehr einfachen, „minderwertigen“ Tätigkeiten auf der einen und einer Bündelung qualifizierter, „hochwertiger“ Arbeitsschritte auf der anderen Seite.
Die Reifenmontage bei SCHEDL ist kein Einzelfall. Bei Faurecia Emission Controls sortieren Beschäftigte von Industrierobotern geschweißte Auspuffanlagen auf „Sequenzwagen“, die später direkt an die Produktionslinie bei Porsche rollen. Die genaue Reihenfolge der Auspufftypen wird ihnen von einem Onlinedrucker vorgegeben, der wie ein antikes Orakel in der Mitte ihrer Produktionshalle steht und den Takt vorgibt. Beim „Outbound-Logistiker“ AFG pappen Beschäftigte tagein-tagaus immer dieselben Klebefolien auf BMW-Motorhauben. Bei ThyssenKrupp montieren sie mit wenigen Handgriffen Achsen. Beim Industrielogistiker Schnellecke werden Elektrokarren mit Teilen bestückt und an die Porsche-Montagelinie gefahren usw.

Diese neuen Arbeitsplätze sind nicht nur durch schlechtere Bezahlung und Prekarität gekennzeichnet, meint der Industriesoziologe Harald Wolf vom Soziologischen Forschungsinstitut der Universität Göttingen, der die Arbeitsbeziehungen in den neuen „vernetzten Fabriken“ in einem Forschungsprojekt der Hans-Böckler-Stiftung untersucht. „Das sind auch zum großen Teil ›bad jobs‹, mit einem hohen Grad an Monotonie und repetitiven Tätigkeiten.“

„Drinnen“ und „draußen“
Nun gibt es Monotonie in der Automobilindustrie seit der Erfindung der Fließbandproduktion vor gut 100 Jahren und nicht erst, seit BMW und Porsche in Leipzig produzieren. Im Osten also nichts Neues? Doch, meinen Industriesoziologen wie Wolf oder sein Kollege Wolfgang Menz vom Münchner Institut für Sozialforschung (ISF). Die neue Qualität des Outsourcings, mit der die erst vor einem Jahrzehnt in Leipzig errichteten Fabriken arbeiten, hat bestimmte Trends zur Fragmentierung von Arbeit verschärft: Schon bei der Konzeption der „vernetzten Fabrik“ wurden nicht einfach monotone Arbeitsplätze ausgelagert, sondern systematische einfache, wenig Qualifikation verlangende Tätigkeitselemente neu sortiert, aus dem Feld der Kernkompetenzen „abgespalten“ und an den prekären Rand verschoben.
Die juristische Form, in der diese Marginalisierung von Arbeit heute in großem Maßstab erfolgt – der Werkvertrag – wirkt womöglich als Katalysator für die weitere „Degradation von Arbeit“, die Arbeitsentwertung, meint Wolfgang Menz vom Münchner ISF. Der Auftraggeber darf beim Werkvertrag – anders als bei der Leiharbeit – die Beschäftigten nicht anleiten. „Dies“, so Menz, „könnte ein Anreiz sein, Tätigkeiten weiter zu standardisieren und zu vereinfachen.“ Auf solche Trends stoßen Industriesoziologen wie Menz und Wolf allerdings eher „am Rande“ von Untersuchungen, bei denen andere Fragen im Fokus stehen, wie Prekarität, Gerechtigkeitsansprüche, Interessenorientierungen. Eine systematische Forschung zur Auswirkung neuer industrieller und arbeitsrechtlicher Beziehungen auf die Arbeitsinhalte findet bislang praktisch nicht statt.

Die fortschreitende Simplifizierung und Abwertung der Arbeit am Rand ist die Kehrseite der Entwicklung im Zentrum. Auch bei BMW und Porsche wird am Fließband gearbeitet, aber anders. Selbst wo Dienstleister und Auftraggeber auf demselben Gelände arbeiten, ist der Unterschied zwischen „drinnen“ und „draußen“ nicht zu übersehen. Das Band, auf dem die Fahrzeuge bei BMW stehen, ist ein schöner weicher Holzboden, es gibt Hubtische, mit denen die Beschäftigten individuell die für sie ergonomisch angenehmste Arbeitsposition anpassen können. Es gibt ein Fitnesscenter und betriebliche Gesundheitsberatung. Und erst im vergangenen Jahr hat das Unternehmen mit der Leipziger Uni einen Kooperationsvertrag über ein gemeinsames Ergonomieprojekt abgeschlossen.

Die Gründe hierfür liegen in den Unternehmen selbst: BMW und Porsche haben nicht nur größere Investitionsmöglichkeiten, für sie ist auch klar, dass sie langfristig in Leipzig bleiben. Die Werkvertragsunternehmen an der Peripherie tendieren, schon aufgrund der kurzen Laufzeiten ihrer Kooperationsverträge, dazu, mit möglichst niedrigen Investitionen möglichst schnell maximale Gewinne zu erzielen. „Viele Belastungen bei den Dienstleistern entstehen schon daraus, dass sie ihren Beschäftigten keine adäquaten Arbeitsmittel zur Verfügung stellen“, sagt Wolf. Analog gilt dies für die Art und Weise der Arbeitsorganisation und Arbeitsplatzgestaltung: Wenn bestimmte Arbeitsgänge bei BMW und Porsche „drinnen“ durchgeführt würden, gäbe es womöglich Anreize, Abläufe anders zu organisieren, etwa „Automatisierungslücken zu schließen“. Wo Unternehmen nicht weiter als drei, vier Jahre in die Zukunft planen können, gibt es dafür keinen Grund. Die Lücken werden mit billig verfügbarer flexibler Arbeitskraft gestopft, die der Arbeitsmarkt, gerade in Ostdeutschland, immer noch hergibt.

Mit der Spaltung in „drinnen“ und „draußen“ geht aber auch ein Mitbestimmungs- und Machtgefälle einher, das als Trendverstärker wirkt. Dass die Arbeit bei BMW und Porsche um ein Vielfaches humaner organisiert ist, hat viel mit der starken Stellung von Betriebsräten und IG Metall zu tun. Die Beschäftigteninteressen zählen hier etwas, weil die organisierten Belegschaften eine Macht sind. In den prekären Randzonen ist das anders: Sofern dort überhaupt Betriebsräte existieren, werden ihre Mitbestimmungsrechte – nicht de jure, aber de facto – durch eine Vielzahl von Faktoren beschnitten: Angefangen vom hohen Anteil befristeter und Leiharbeitsverhältnisse bis hin zur extremen Abhängigkeit von den Produktionsvorgaben der Endmontagewerke. Selbst so grundlegende Mitbestimmungsrechte wie die Mitsprache bei Schichtplanung und Arbeitszeiten werden zur Makulatur, wenn sich alle nach dem Produktionstakt eines übermächtigen Endmontagewerks richten müssen. Ulrich Brinkmann und Oliver Nachtwey haben diesen Trend als „Postdemokratie im Betrieb“ beschrieben.

Technik, Arbeit, Kapitalismus
Anders als man noch vor einigen Jahrzehnten glaubte oder hoffte, hat die fortschreitende Automatisierung in der Industrie die (verbliebenen) Arbeiter nicht von stumpfsinnigen Tätigkeiten befreit. Drastischer noch als im Automobilbau kann man das in der Solarindustrie studieren. Photovoltaik ist zweifellos eine Zukunftstechnologie der Energieversorgung. Für die Zukunft der Arbeit steht die Branche aber hoffentlich nicht. Wie kaum eine andere hat sie Hightech- und Manufakturarbeit kombiniert. Ein Arbeiter aus der Solarfabrik im thüringischen Arnstadt – vormals Bosch, jetzt Solar World – beschreibt seine Arbeit so: „Man steht tagein, tagaus an der Anlage, bestückt sie mit Material, guckt, ob alles läuft, und nimmt wieder raus, was hinten rauskommt.“ Im Branchenjargon nennt sich sein Beruf „Operator“, er selbst beschreibt sich als „Knöpfchendrücker“.

Führt Automatisierung in der Industrie zwangsläufig zu mehr monotoner Arbeit? Ist die Technik schuld? Und entwickelt sich die Technik nach eigenen, technischen Gesetzen? Oder bringt der Kapitalismus vielleicht immer nur die spezifische Art von Technik hervor, die seinen konkreten Verwertungsbedingungen am adäquatesten entspricht? Wenn die potentiellen „Handlanger“ und „Knöpfchendrücker“ im Überfluss verfügbar sind – unter anderem infolge der rot-grünen Hartz-Reformen – stellt man sich vielleicht auch die entsprechenden Maschinen in die Werkshalle – und zieht alternative Optionen der Fertigungsorganisation erst gar nicht in Erwägung.

Technik, jedenfalls in ihren oben skizzierten konkreten Formen, ist ein enormer Beschleuniger der Enthumanisierung von Arbeit – die eigentliche Triebkraft ist sie eher nicht. Selbst in den Engineeringabteilungen großer Konzerne berichten Beschäftigte von ähnlichen Trends. Entwicklungsaufgaben werden in immer kleinere „workpackages“ fragmentiert, um sie besser an externe Partner vergeben zu können. Da werden Ingenieurbüros mit geisttötenden Statikberechnungen beauftragt, von deren Bedeutung in der Gesamtkonstruktion sie keinen Schimmer haben können. Die „Internen“ dagegen sind völlig mit der Koordination der „Externen“ ausgelastet. Der ganzheitliche Blick, den ein Ingenieur für eine Entwicklungsaufgabe braucht, kommt in diesem Organisationsmodell nicht mehr vor. Am Ende muss man froh sein, wenn nur ein Kompaktwagen beim Elchtest umkippt und kein Mittelstreckenflugzeug abstürzt.

„Arbeit ist die große Selbstbegegnung des Menschen“, schrieb der Dichter Georg Maurer 1962. Vierzig Jahre später hieß es „Hauptsache Arbeit“. Selbst dort, wo seit einigen Jahren die Forderung nach „Guter Arbeit“ erhoben wird, geht es selten über die Frage der Vermeidung gesundheitlicher Gefahren hinaus. Die Vorstellung, dass gute Arbeit mit Kreativität und Überwindung von Entfremdung zu tun hat, und dass es ein gesellschaftliches Ziel sein könnte, Arbeit human zu organisieren, ist von fixen Ideen wie dem „Ende der Arbeitsgesellschaft“ und dem „bedingungslosen Grundeinkommen“ an den Rand gedrängt worden. In Zeiten, wo ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde als sozialpolitische Jahrhundertreform gilt, sind wir von einer Debatte über den Zustand der Arbeit weit entfernt. Doch da die Arbeit, und leider auch die stupide, bislang nicht aus der Welt verschwunden ist, kann sich das auch wieder ändern.

Jörn Boewe betreibt gemeinsam mit Johannes Schulten das Berliner Journalistenbüro work in progress: www.work-in-progress-journalisten.blogspot.com