Schweinesystem

Eine Branche mit Gewicht

Dass Schweine-Töten, Schweine-Zerlegen und Schweine-
 Verwursten eine wichtige Branche im Kapitalismus sein könnte, galt bis vor wenigen Jahrzehnten in Westeuropa als unwahrscheinlich. In den USA freilich war diese Branche vor 120 Jahren so groß und innovativ, dass das dort praktizierte Schlachten am fließenden Band zum Vorbild wurde für die Fließbandfertigung in den Ford´schen Autowerken. Inzwischen ist die Fleischbranche in Deutschland durch Industrialisierung, Kapitalkonzentration, hohe Exportquote und das Werkarbeiter-Vertragssystem zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor geworden. Der Umsatz lag 2018 bei 42,5 Milliarden Euro. Die Gewinnmarge ist hoch. Rund 123.000 Menschen sind beschäftigt. Dabei sind die Fleischereien (die zum Handwerk zählen) mit weiteren 139.000 Beschäftigten noch nicht berücksichtigt. In den letzten Jahrzehnten gab es eine erhebliche Konzentration in der Fleichwirtschaft. 1993 gab es 350 Schweine-Schlachtereien. Heute sind es noch 120.

2018 wurden in Deutschland acht Millionen Tonnen Fleisch (überwiegend Schweinefleisch) erzeugt. Die Formulierung „erzeugt“ ist schönfärberisch. Tatsächlich wird die genannte Fleischmenge durch das Töten von Tieren, die zuvor zu mehr als 95 Prozent in Massentierhaltung gemästet wurden, gewonnen. Es sind 57 Millionen geschlachtete Schweine pro Jahr. Hinzu kommen 3,1 Millionen Rinder, 1,1 Millionen Schafe, 320.000 Kälber und 1,2 Milliarden Hühner, Enten, Gänse und Truthühner.

Exportwirtschaft

In den 1990er Jahren war Deutschland noch Importeur von Schweinefleisch. Die Schlachthöfe waren regional verteilt und orientierten sich primär auf den regionalen Bedarf. Das hat sich grundlegend geändert. Von den erwähnten acht Millionen Tonnen Fleisch, die in Deutschland 2018 erzeugt wurden, wurden 5,7 Millionen Tonnen exportiert. Die Exportquote (der Anteil der Exporte an der gesamten Fleischerzeugung) liegt damit bei gut 70 Prozent. Das lässt in dieser Hinsicht sogar die deutsche Autoindustrie (mit einer Exportquote von rund 52 Prozent) alt aussehen. Der Weltmarktanteil der deutschen Schweine-Exporte liegt bei neun Prozent. Das entspricht ziemlich exakt dem Weltmarktanteil der deutschen Wirtschaft als Ganzes am Welthandel.

Mehr als ein Viertel der Fleischexporte gehen nach China. Genauer gesagt: Sie gingen dorthin. Seit dem 12. September 2020 – wenige Tage nach dem ersten Auftreten der Afrikanischen Schweinepest in Deutschland – hat die VR China den Import von Schweinefleisch aus Deutschland gestoppt. Südkorea erließ ein entsprechendes Verbot kurz zuvor. Andere Länder dürften folgen. Vor allem das Exportverbot nach China führt in der Fleischbranche zu erheblichen Verlusten – auch deshalb, weil auch Schweine-Tierteile wie Ohren und Pfoten, die in Europa nicht auf den Teller kommen, dorthin exportiert werden konnten.

Eine Ironie liegt hier darin, dass die Afrikanische Schweinepest seit einigen Jahren in China wütet. Dort mussten 2019 rund 130 Millionen Schweine (bis zu einem Drittel des Gesamtbestands von 400 Millionen Tieren) zur Eindämmung der Seuche gekeult (vorzeitig getötet) werden. Seither boomte der deutsche Schweinefleischexport nach China.

Tönnies und das Werkvertragssystem

Die Tönnies-Gruppe ist Marktführer in Deutschland. Ihr Marktanteil bei Schlachtung und Schweinefleischverarbeitung liegt bei 20 Prozent (gefolgt von den Konkurrenten Westfleisch und Vion). Tönnies beschäftigt 16.500 Menschen und erzielte 2019 einen Umsatz von 7,3 Milliarden Euro.

Die Lohnkosten in der Branche machen weniger als 8 Prozent aus. Dennoch herrscht in den Schlachtereien ein extremes 
Ausbeutungssystem. Die große Mehrheit der Beschäftigten bei Tönnies – und eine Mehrheit der Beschäftigten
in der gesamten Fleischbranche – arbeitet auf Basis von Werkverträgen. Um den Mindestlohn zu unter-
laufen, treten die Fleischkonzerne einen Großteil der Arbeit an (meist ausländische) Dienstleistungsunternehmen ab, die ohne Rücksicht auf Mindestlöhne auf Werkvertragsbasis arbeiten lassen. In der EU sind diese Werksverträge seit 2007 auch offiziell zugelassen. Das Fleischverarbeitungsunternehmen schließt mit den Subunternehmen einen Vertrag über eine bestimmte Anzahl von Leistungen des Schlachtens und Zerlegens. Es ist dann Sache des Subunternehmers, entsprechende Arbeitskräfte anzuheuern. Es sind fast ausschließlich osteuropäische Beschäftigte. Der katholische Priester Peter Kossen kümmert sich seit Jahren um die Werkvertragler. Er spricht von „sklavenartigen Zuständen“, von „Menschenhandel“ und von „Wegwerfmenschen“, die das Schweinesystem der Tönnies & Co. charakterisieren würden. Exportiert wird übrigens auch dorthin, wo sehr viele der Arbeitskräfte herkommen – nach Rumänien und Bulgarien.

Tönnies als Immobilienspekulant

Der Milliardär Clemens Tönnies ist mit 33 Prozent an der „me and all Hotels GmbH“ beteiligt. Der Mehrheitseigner dieser Hotelgruppe ist die Lindner Hotel AG. Die 2015 gegründete Lindner-Hotel-Tochter baut in Stuttgart im ehemaligen Hauptbahnhof, dem unter Denkmalschutz stehenden Bonatz-Bau, ein neues Vier-Sterne-Hotel. Im Rahmen der Arbeiten am Projekt Stuttgart 21 wurden zwei Flügel des historischen Gebäudes komplett abgerissen. Das Hauptgebäude wurde 2019 entkernt; alle Service-Einrichtungen – Toiletten inklusive – wurden geschlossen bzw. herausgenommen, obgleich der eigentliche neue Bahnhof im Keller auch laut Planungen der Deutschen Bahn AG frühestens 2025 den Betrieb aufnehmen soll. Solange gibt es für diese Einrichtungen Provisorien in Containern und Nebengebäuden. Vorher aber steigt neu aus dem Bonatz-Bau – das Hotel mit dem Vier- Sterne-Schweinchen-Status. Der Architekt, der das Hotel planen und umsetzen soll, heißt Christoph Ingen hoven. Ingenhoven wiederum hat (gemeinsam mit Frei Otto) in den 1990er Jahren den Stuttgart21-Bahnhof entworfen. Während Frei Otto sich bereits 2010 von dem Vorhaben lossagte und da-bei Sicherheitsbedenken äußerte, ist Ingenhoven weiter bei Stuttgart21 und an anderen damit zusammenhängenden Immobilien-Projekten beteiligt. So nun auch beim erwähnten 4-Sterne-Hotel im Bonatzbau. Damit gibt es eine Verbindung zwischen dem größten Infrastrukturprojekt in Deutschland (mit mehr als 10 Milliarden Euro Investitionssumme), das auf den Abbau der Schienenkapazität um gut 30 Prozent, auf weitere Bahnprivatisierung und Förderung des Autoverkehrs hinausläuft, und dem größten Profiteur bei der aufsteigenden Fleischwirtschaft. Das Wirtschaftsmagazin Forbes schätzt das Vermögen der Tönnies-Familie (im Wesentlichen Clemens Tönnies und Robert Tönnies) auf gut fünf Milliarden Euro.