quartalslüge II/MMXXII

„Tempolimit bringt nichts“

Wenige Tage nach der Bundestagswahl vom September 2021 stand fest: Bei den Koalitionsverhandlungen für eine Ampel-Regierung würde das Thema Tempolimit kein Streitpunkt sein. Der damalige Ko-Fraktionsvorsitzende der Grünen, Anton Hofreiter, verkündete bereits im Vorfeld der Verhandlungen die Kapitulation seiner Partei auf diesem Gebiet mit den Worten: „Ich halte nichts davon, einzelne Maßnahmen zur Bedingung zu machen.“ Entsprechend heißt es im Koalitionsvertrag klipp und klar: „Ein generelles Tempolimit wird es nicht geben.“ Seither flammt die Debatte über eine Geschwindigkeitsbegrenzung des Pkw-Verkehrs auf Autobahnen immer wieder auf – nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg. Dennoch bleiben die Ampel-Parteien, wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten, dabei: Es soll kein Tempolimit geben. Der FDP-Chef Christian Lindner argumentiert dabei auf zwei Ebenen. Erstens, dass im Fall eines Tempolimits „der Einfluss auf das Klima marginal ’93 sei. Und zweitens: „Es handelt sich um ein Symbolthema für die Verkehrssicherheit.“

Das ist eine doppelte Quartalslüge. Ein Tempolimit kann zu einer deutlichen Reduktion der CO2-Emissionen führen. Siehe dazu den Beitrag von Jürgen Bönig ab Seite 70. Vor allem führt ein Tempolimit zu einer deutlichen Reduktion der Verkehrsopfer. Siehe dazu den Beitrag von Klaus Gietinger ab Seite 65.

Und siehe die Grafik in dieser Quartalslüge. Für diese haben wir die Entwicklung der Straßenverkehrstoten auf deutschem Boden im Zeitraum 1906 bis 2020 zusammengestellt. Mit „deutschem Boden“ sind gemeint: 1906 bis 1945 das „Deutsche Reich“; 1946 bis 1990 die addierten Straßenverkehrstoten von DDR und BRD, wobei die DDR-Straßenverkehrstoten ab 1949 als Teil der Gesamtgrafik im unteren Bereich dieser Grafik abgebildet sind. Ab 1991 geht es um die Straßenverkehrstoten im vereinigten Deutschland. Dabei wurden im Zeitraum 1990 bis 2003 erneut die Straßenverkehrstoten auf dem Gebiet der Ex-DDR (ohne Ost-Berlin) am Boden der Gesamtgrafik abgebildet.

Aus dieser Grafik lassen sich fünf Tendenzen ablesen:

Erstens. Es gibt in den ersten sieben Jahrzehnten, seit es in Deutschland eine größere Zahl von Kraftfahrzeugen gibt, einen weitgehend kontinuierlichen Anstieg der Zahl der Straßenverkehrstoten. 1972 wurde hier das höchste Niveau erreicht, als es in Westdeutschland 19.193 und in der DDR 2460 Straßenverkehrstote gab. Addiert waren es 21.653.

Zweitens. Seit 1971 und bis 2020 gibt es einen deutlichen Rückgang dieser Opferzahlen. Dieser hat im Wesentlichen mit der wachsenden Verkehrsdichte, mit einem Rückgang der allgemeinen Durchschnittsgeschwindigkeit, mit verbesserten Sicherheitstechniken im Auto (Airbag; Knautschzone) und mit einer schnelleren Unfallhilfe und mit der verbesserten Gesundheitsversorgung in den Kliniken zu tun. Anzumerken ist: Ein Straßenverkehrstoter taucht in der Statistik nur dann als solcher auf, wenn der Betreffende binnen 30 Tagen nach einem Unfall an den Folgen desselben stirbt. Menschen, die später zu Tode kommen, werden nicht als Straßenverkehrstote erfasst.

Drittens. Alle Maßnahmen zur Aufhebung von Geschwindigkeitsbeschränkungen bzw. zur Einführung von Tempolimits haben erkennbare Auswirkungen auf die Zahl der Getöteten (und selbstverständlich auch auf die Zahl der Verletzten). Die Zahl der Straßenverkehrstoten stieg immer deutlich an, wenn Limits aufgehoben wurden. Und sie sank, wenn Geschwindigkeitsbeschränkungen angekündigt oder eingeführt wurden. Maßnahmen wie die finanzielle Ahndung bei Verstoß gegen die Gurtanlegepflicht und die Senkung der Grenzen für Alkohol im Blut („Promille-Grenze“) wirkten ebenfalls in Richtung Rettung von Menschenleben beziehungsweise Reduktion der Zahl der im Autoverkehr Verletzten.

Viertens. In der DDR galt generell ein Tempolimit von 100 auf Autobahnen (und von 80 km/h auf den übrigen Fernstraßen bzw. von 50 km/h innerorts). Die Folge war, dass es dort trotz ebenfalls deutlich steigender Pkw-Dichte zu keinem größeren Anstieg der Verkehrstoten kam bzw. dass es ab 1977 (mit 2782 Straßenverkehrstoten) und bis 1988 (mit 1649 im Straßenverkehr Getöteten) zu einen deutlichen Rückgang dieser Zahlen kam.

Fünftens. In Folge der deutschen Einheit wurde mit Datum 1.1.1992 das Tempolimit auf den Autobahnen in den neuen Bundesländern aufgehoben. Dies erfolgte gegen den Willen von mehr als 70 Prozent der dortigen Bevölkerung. In der Folge stieg die Zahl der Straßenverkehrstoten sprunghaft an; kurzzeitig gab es eine Verdopplung. Klaus Gietinger errechnete, dass es auf diese Weise zu „14.000 zusätzlichen Straßenverkehrstoten“ kam.

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) schrieb in ihrem Plädoyer für ein sofortiges Tempolimit von 100 Stundenkilometern auf den deutschen Autobahnen: „Mehr als 400 Menschen sterben jährlich allein auf deutschen Autobahnen, viele davon durch ein zu hohes Tempo. Mit jährlich drei Verkehrstoten pro 100 Kilometer Autobahn liegen wir über den Werten unserer Nachbarländer. 3.270 Menschen kamen 2018 im Straßenverkehr ums Leben. Ein Tempolimit rettet Leben – und wirkt gleichzeitig auch gegen Staus, denn durch eine Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit können die Bundesautobahnen mehr Verkehr bewältigen. Die Unfallhäufigkeit reduziert sich durch geringere Tempounterschiede zwischen den Fahrzeugen.“ Die DUH betont dabei, dass ein Tempolimit eine Maßnahme sei, die – anders als fast alle debattierten Maßnahmen für Klimaschutz und Verkehrssicherheit – sofort wirke: „Der Bau eines Windrades dauert im Schnitt sieben Jahre, das Tempolimit kann innerhalb weniger Wochen umgesetzt werden, ist so gut wie kostenfrei, spart über 9 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr und rettet ab Tag 1 Leben.“

Die Zahlen für die LP21-Statistik lieferte uns Klaus Gietinger. Die DUH-Studie siehe:

https://www.duh.de/tempolimit-jetzt/