Nationalismus außer Kontrolle

Zwei Jahre Pegida, zwanzig Jahre Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit

Im Frühjahr 1991 während einer Polenreise fragte ein anerkannter Wirtschaftshistoriker aus Poznan, wie lange es denn dauern werde, bis es die Gebiete der DDR auf Westniveau geschafft haben? Wir waren verdutzt. Die Frage hatten wir uns noch nicht gestellt. Nach einem kurzen Nachdenken begannen wir zu raten: 30 Jahre? 50? Nie? Es gab da mehrere gute Argumente in dieser Richtung. Dem freundlichen Kollegen waren unseren skeptischen Überlegungen nicht ganz fremd. „Nur“, fragte er dann weiter, „was heißt das für uns?“

Tatsächlich wurde von allen Bewohnern des Ostblocks nur den DDR-Bürgern aus rein nationalistischen Gründen ein direkter Beitritt zum Westen gestattet: Sie waren schließlich alle „Deutsche im Sinnen des Grundgesetzes“ und hatten daher ein, relatives, Anrecht auf bevorzugte Behandlung in der neuen Weltordnung. Dennoch stellten sich bald auch in Neufünfland einige hartnäckige Probleme heraus. Im Mai 1996 beschloss der Deutsche Bundestag, von der Bundesregierung nunmehr jährlich einen „Bericht zum Stand der Deutschen Einheit“ zu verlangen. In den zwanzig Jahren seither hat jede Regierung ihre jeweilige Sicht der Dinge auf etwa 100 Seiten kurz vor dem 3. Oktober veröffentlicht. Rasch entwickelte sich der Anhang mit den „Wirtschafts-Daten neue Länder“ zu einer Standard-Quelle vieler Interpretationen der Lage in Neufünfland. Insbesondere der Abstand vom Wirtschaftsniveau (West), gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, wurde daher regelmäßig im Herbst kommentiert. Selbst die frühere Verfügbarkeit und das breitere Datenangebot im Internet durch den Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder“ hat an dieser Gewohnheit nichts geändert: Der Stand der Wirtschaft in Neufünfland wird Ende September erörtert – wenn er überhaupt noch erörtert wird.

Denn das Interesse am Thema hat abgenommen. Seit Jahren liegen die neuen Länder mit Berlin stabil bei etwa 70 Prozent des BIP pro Kopf der alten Bundesländer. Eine Annäherung ist nicht in Sicht. Und seit dem Ende der Montagsdemonstrationen 2004 wird das auch kaum mehr als Skandal empfunden. Nicht im Westen – und auch nicht mehr im Osten: Hartz IV war die Vollendung der Deutschen Einheit.

In diesem Jahr allerdings hat es der Jahresbericht doch in die Schlagzeilen geschafft: Die so offene wie berechtigte Kritik der Bundesregierung an der ebenso offenen wie unberechtigten Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland hat überrascht. Leider ist die Diskussion seither in einigen Sackgassen stecken geblieben: Klar gibt es auch im Westen Deutschlands und überhaupt auch anderswo menschenfeindliche Angriffe auf Flüchtlinge – aber zwischen Ostsee und Erzgebirge offener und brutaler. Nicht erst seit gestern, sondern immer wieder seit 1990. Mit dem Zuzug von Flüchtenden im letzten Jahr oder islamistischem Terror hat die aktuelle Offensive der Rechten gar nichts zu tun: Pegida gründete sich im Oktober 2014 gegen eine Solidaritätsbewegung mit den kurdischen Kämpferinnen und Kämpfern in Kobane, die gegen den IS kämpfen. Und die soziale Lage im Osten? Es ist regelmäßig nicht die tatsächliche soziale Lage, sondern die private Angst vor einem möglichen Abstieg, die Solidarität verweigern lässt. Deshalb ist der neoliberale Radikalismus der AfD ihrer Mitgliedschaft durchaus angemessen.

Trotzdem steckt in der amtlichen Kritik der Bundesregierung an der Fremdenfeindlichkeit von Pegida und co. eine tiefe Heuchelei. Denn der Nationalismus, der mit der deutschen Einheit auch die Rückkehr in die erste Reihe der Weltpolitik gebracht hat, der stört sie nicht. Genau dieser Nationalismus prägt Ostdeutschland bis heute. Störend ist er für die Regierung nur dort, wo er nicht mehr kontrollierbar ist.

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