Mindestpersonalbemessung

Die Auseinandersetzung an der Berliner Charité
Carsten Becker/Stephan Gummert/Ulla Hedemann. Lunapark21 – Heft 22

An der Charité in Berlin führt die konsequente Umsetzung von Marktmechanismen wie Effizienzsteigerung, Budget gesteuerte Personalbemessung und Umsatzerwartungen von drei bis fünf Prozent pro Jahr zu einer Brutalisierung der Arbeitsbedingung. Eine entscheidende Rolle spielen dabei Stellenabbau und Arbeitsverdichtung. Der durch Fallpauschalen gesteuerte Erlöswahn hat in Europas größter Uniklinik zum Abbau von mehreren hundert Vollzeitkräften geführt. Dabei hat der Personalbedarf wegen gestiegener Patientenzahlen und verkürzter Liegedauer objektiv zugenommen. An der Charité kann das nur durch den massiven Einsatz von Leiharbeit sowie einem enormen Aufbau von Überstunden und Mehrarbeit kompensiert werden.

Das beschriebene Systemversagen ist in der Klinik kein abstraktes Phänomen sondern wird in jedem Bereich und in jeder Schicht tagtäglich durchlitten. Im Spannungsfeld von Patientengefährdung, psychischer und physischer Belastung der Beschäftigten sowie mangelnder ideeller und materieller Wertschätzung wächst ein Widerstandspotential heran. Dieses gilt es zu nutzen, um Negativwirkungen des Systemversagens zu bekämpfen.

2011 haben die Beschäftigten einen erfolgreichen Streik geführt. Die Folge ist ein hoher Bewusstseinsstand, der mit der Losung „Widerstand ist möglich, Widerstand lohnt!“ gut auf den Punkt gebracht wird. Durch kontinuierliche Information, Kommunikation und Präsenz der Gewerkschaftsgruppe im Betrieb konnte dieses Bewusstsein gehalten werden. Nun kann es erneut genutzt werden um die eigene Arbeitssituation unmittelbar und konkret zu verändern. Das ist die Grundlage des Tarifkonflikts zu den Themen Mindestbesetzung, gesundheitsfördernde Maßnahmen und Ausbildungsqualität.

Auslöser: Leasingstopp
Die Charité als öffentliche Einrichtung steht als Resultat der Berliner Sparpolitik und der zu geringen Refinanzierung durch die Krankenkassen unter enormen ökonomischen Zwängen. Diese werden zum innerbetrieblichen Kampfmittel. Jedes Wirtschaftsjahr soll wenigstens eine schwarze Null erreicht werden. Im ersten Quartal 2012 schien dieses Ziel ernsthaft in Gefahr und der Vorstand suchte nach schnellen und harten Lösungen. Ein Potenzial zur Ergebnisverbesserung fand sich bei den Kosten für Leasingkräfte im Pflegebereich. Faktisch über Nacht kam es zu einem absoluten Leasingstopp und der Vorgabe, das zu gering bemessene Stammpersonal und sogar Auszubildende als Kompensationskräfte einzusetzen. In der Konsequenz bedeutete dies einen massiven Aufwuchs von Überstunden und Mehrarbeit. Die Unterbesetzung von Schichten führte zu prekären Arbeitssituationen.

Der nicht durch Neueinstellungen beim Stammpersonal ausgeglichene Leasingstopp war die Initialzündung der neuen Tarifbewegung. Der Arbeitgeber wurde noch im Juni 2012 zu Tarifverhandlungen über „Mindestbesetzung, gesundheitsfördernde Maßnahmen und Ausbildungsqualität“ aufgefordert. Die Tarifkommission stand nun vor der Herausforderung, diese Schlagwörter mit konkreten, mobilsierungsfähigen und rechtlich abgesicherten Forderungen zu untermauern.

Vom Abstrakten zum Konkreten
Verschiedene Arbeitsgruppen erschlossen Themenfelder, die zeitnah mit Beschäftigten rückgekoppelt wurden. In einem vorbildlichen Austausch zwischen betrieblicher Basis und Fachexpertise, wie sie in der Tarifkommission vorhanden ist, kristallisierte sich schnell die Notwendigkeit einer Quotierung von Personal zu Patient in bettenführenden Bereichen heraus. Diese Quoten kommen jedoch nicht aus dem luftleeren Raum. So gibt es in einigen vergleichbaren Ländern Pflegekraft-Patient-Quoten. Und nicht zuletzt existieren wissenschaftliche Studien, die einen Zusammenhang von Personalbemessung und Genesungsverlauf belegen. Anders formuliert: Gute Arbeitsbedingungen und gute Patientenversorgung bedingen einander. Dieser Aspekt wird noch wichtig sein, wenn es darum geht, außerbetriebliche Unterstützung für den bevorstehenden Arbeitskampf zu gewinnen. Immer weniger Menschen wollen in den Pflegeberuf. Zugleich ist jeder Mensch potentieller Patient, also von den schlechten Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern womöglich betroffen.

Strategie Unverbindlichkeit
Trotz klarer Aufforderung und einer begleitenden Pressekonferenz tat sich die Charité-Spitze schwer, angemessen zu reagieren. Da es in Deutschland keinen Referenztarifvertrag zu der Thematik gibt, sah der Arbeitgeber die Aufnahme von konkreten Verhandlungen als sehr problematisch an. Erst Ende 2012 kam es zu unverbindlichen Vorgesprächen. In diesen wenig zielführenden, abtastenden und auf Verzögerung ausgelegten Gesprächen bestritt die Charité die tarifvertragliche Regelbarkeit und führte sogar die im Grundgesetz verankerte unternehmerische Freiheit an, die durch die Gewerkschaftsforderungen tangiert, wenn nicht sogar eingeschränkt werde.

Diese privatwirtschaftliche Sicht eines Klinikums, das sich in öffentlichem Eigentum befindet, wurde der Gewerkschaft dann auch noch einmal in Schriftform mitgeteilt. Das führte zu einem wochenlangen Prüfungsprozess durch ver.di-Juristen, was die Interaktion mit dem Arbeitgeber zum Erliegen brachte.

Im Spätsommer 2012 platzierten wir unser Tarifprojekt gezielt im politischen Raum. Die Partei Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus griff das Thema mit einer parlamentarischen Initiative für eine gesetzliche Regelung von Mindestpersonalbemessung in Krankenhäusern auf. Diese Initiative wurde mit einem Hearing der Bundestagsfraktion verbunden. Ver.di-Charité stellte eine Referentin und einen Referenten für das Podium und mehr als 130 Betriebs- und Personalräte sowie sonstige Gäste diskutierten das Thema.

Dieses Hearing trug dazu bei, den scheinbaren Widerspruch zwischen tariflicher und gesetzlicher Herbeiführung einer Mindestbesetzung in Krankenhäusern aufzulösen. Beide Möglichkeiten ergänzen einander. Die Notwendigkeit einer tariflichen Lösung besteht schon deshalb, weil die Bundesregierung und die Arbeitgeberverbände eine gesetzliche Regelung grundsätzlich ab-lehnen.

Im Rahmen des Hearings wurde auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vorgelegt, das die grundsätzliche Machbarkeit von Tarifverträgen zur Personalbemessung bejahte. Dieses Gutachten beflügelte auch ausstehende gewerkschaftliche Prüfungsprozesse zur rechtlichen Zulässigkeit der Forderungen. Wir erlebten eine beispielhafte Interaktion zwischen betrieblicher und parlamentarischer Aktivität. Mittlerweile befindet sich die Personalbemessungsthematik nicht nur im Wahlprogramm der Linken, sondern auch in den Programmen von Sozialdemokraten und Grünen.

Unabhängig von den außerbetrieblichen Aktivitäten war es in dieser Interimsphase nötig, weiteren innerbetrieblichen Druck auszuüben. Dazu bedienten wir uns eines Mobilisierungs- und Aktivierungskonzepts unterhalb von Streikaktivitäten mit dem Namen „Notruf-Charité“. Dieses Konzept bietet Stationen und Bereichen eine Plattform zur Skandalisierung von prekären Arbeitssituationen. In einem Offenen Brief an die Geschäftsleitung wurden Missstände schonungslos benannt und konkrete Forderungen zur Behebung derselben formuliert. Wir entwickelten ein Arsenal von Widerstandshandlungen, um die Forderungen durchzusetzen. Ver.di bietet hier nur den formalen Handlungsrahmen; es gibt nicht die übliche Stellvertreterpolitik. Vielmehr werden die Beschäftigten selbst zu handelnden Subjekten. Die Offenen Briefe der jeweiligen Akteure werden durch ver.di betriebsöffentlich gemacht, so dass ein breiter Beschäftigtenkreis einbezogenwird und für den die potentiellen Erfolge nachvollziehbar werden.

Carsten Becker, Stephan Gummert und Ulla Hedemann sind aktiv in der ver.di-Betriebsgruppe an der Charité ,

Nachtrag: Seit dem 5. Juni ist die Charité erneut und nunmehr rechtlich abgesichert zu Tarifverhandlungen mit dem Kern Mindestbesetzung aufgefordert. Bei Redaktionsschluss ist nicht abzusehen, ob der Arbeitgeber an den Verhandlungstisch kommt oder durch Arbeitskampfmaßnahmen dorthin gezwungen werden muss.


Die Charité
ist mit ca. 13000 Beschäftigten und über 3200 Betten Europas größtes Uniklinikum. Es besteht aus den Campi Mitte, Virchow und Benjamin Franklin und gehört zu 100 Prozent dem Land Berlin. Die Gewerkschaft hatte lange einen schweren Stand, durch die Tarifflucht des Landes galt mehrere Jahre lang kein Tarifvertrag. 2006 erreichte ver.di durch einen Streik vor allem in einigen OP-Bereichen eine Vereinbarung, die langsam an das Tarifniveau des restlichen öffentlichen Dienstes heranführte. 2011 folgte ein auf den Stationen breit befolgter, erfolgreicher Arbeitskampf: Während der Streikwoche fielen bis zu 90 Prozent der Operationen aus, fast die Hälfte der Betten wurde geschlossen. Die Konflikte haben das Selbstbewusstsein der Beschäftigten vergrößert und den Zusammenhalt in der ver.di-Betriebsgruppe gestärkt. Jetzt geht es um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch einen Tarifvertrag, der personelle Mindeststandards festlegt. (www.charite.verdi.de)

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