Personalbemessung gegen Pflegnotstand

Der dramatische Personalmangel in den Kliniken könnte durch eine gesetzliche Festschreibung personeller Mindeststandards bekämpft werden
Harald Weinberg. Lunapark21 – Heft 22

Der Befund ist klar: In der Bundesrepublik ist die Arbeitsbelastung der Pflegekräfte so hoch, wie zumindest in den vergangenen Jahrzehnten nicht. Das ist ungesund für die Pflegenden, das kann auch sehr ungesund für die Patientinnen und Patienten werden. Selbst die FDP leugnet das nicht mehr.

In der Debatte zu dem Antrag der Partei Die Linke auf Einführung einer Mindestpersonalbemessung in Krankenhäusern sagte der Bundestagsabgeordnete Lars Lindemann (FDP): „Man müsste blind sein, wollte man nicht sehen, dass in der Tat die Qualität der Patientenversorgung unter Personalmangel leidet. Auch die Stichwörter von enormem wirtschaftlichen Druck auf die Krankenhäuser und in dessen Folge unhaltbaren Zuständen, massiven Überstunden, gefährlicher Pflege und lebensbedrohlichen Situationen sind leider nicht nur rhetorische Übertreibung.“

Nicht erst seit Einführung der Fallpauschalen (DRG, siehe Seite 38 ff) steigt die Belastung der Pflegekräfte deutlich. Nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes ist die Arbeitsbelastung gemessen in Fällen pro Pflegekraft zwischen 1995 und 2007 um 25,2 Prozent gestiegen.

1992 wurde hierzulande die Pflegepersonalbemessung eingeführt. Mit diesem Instrument wurde die Zahl der Vollzeitstellen in der Krankenhauspflege um rund 21000 erhöht. Seit die Regelung 1995 aus Kostengründen wieder abgeschafft wurde, sank die Zahl der Pflegekräfte wieder. Sie lag 2011 um 12000 Vollzeitstellen unter dem Niveau von 1991. Dabei sprach man bereits 1991 von einem „Pflegenotstand“. Seither sind sowohl Fallzahl als auch Fallschwere deutlich angestiegen. Die Konsequenz: Es werden mehr Pflegekräfte geraucht und wir brauchen ein Instrument, das dies nachhaltig sichert.

Ein Blick darauf, wie andere Länder mit der Frage der Personalbemessung umgehen, kann hilfreich sein. Sicherlich gibt es in anderen Gesundheitssystemen Finanzierungsrahmen, die sich von den deutschen Fallpauschalen unterscheiden. Da Deutschland im internationalen Vergleich durch eine besonders hohe Arbeitsdichte für die Pflegenden auffällt, ist aber zu erwarten, dass der positive Effekt personeller Mindeststandards hierzulande mindestens so hoch ausfallen würde wie anderswo.

Kalifornien
In Kalifornien wurden 1999 bis 2004 „Mandatory nurse-to-patient-ratios“, verpflichtende Pflegekraft-zu-Patienten-Verhältniszahlen eingeführt. Diese sind jeweils für die verschiedenen medizinischen Bereiche festgelegt, zum Beispiel auf Neugeborenen-Stationen mit 1:4, wobei die Mutter als eine Patientin gilt und das Neugeborene als weiterer Patient. Krankenhausmanger und Konservative haben versucht, dieses Gesetz zu verhindern. Die Gewerkschaften brauchten zwölf Jahre, um die Regelung durchzusetzen. Allerdings waren die untersuchten Wirkungen so positiv, dass die Regelung mittlerweile auch unter Krankenhausmanagern Zustimmung findet:

Die kalifornischen Pflegekräfte sind deutlich weniger überlastet als die in den Vergleichsstatten New Jersey und Pennsylvania (29% zu 34 bzw. 36%). Gleiches gilt für den Anteil der mit ihrem Arbeitsplatz unzufriedenen Pflegekräfte (20 zu 26 bzw. 29%).
Während der Krankenhausbehandlung starben in Kalifornien 13,9 Prozent weniger Patienten als in New Jersey und zehn Prozent weniger als in Pennsylvania. Ebenfalls gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen einer besseren Pflegepersonalausstattung und einer verringerten Mortalität in den 30 Tagen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sowie einen ähnlichen Zusammenhang bei Krankenhausinfektionen.

Man hat untersucht, welche Auswirkungen es hat, wenn man einer Pflegekraft einen Patienten weniger zuteilt. Das brachte eine um 24 Prozent kürzere Verweildauer auf Intensivstationen und eine um 31 Prozent verkürzte Verweildauer auf Normalstationen. Hierdurch können die Mehrausgaben bei den Personalkosten überkompensiert werden. Nachdem das Gesetz 2004 in Kraft getreten war, gab es 60 Prozent mehr Bewerber aus anderen Bundesstaaten. Es zeigte sich, dass bessere Arbeitsbedingungen helfen können, dem Fachkräftemangel abzuhelfen. Es wird geschätzt, dass eine zusätzliche Pflegekraft rund 60000 US-Dollar an Kostenersparnis im Krankenhaus selbst und – durch bessere Genesung – eine höhere Produktivität der Patientinnen und Patienten generiert.

Das kalifornische Beispiel hat Schule gemacht. Zwar hat der Widerstand der Lobbyisten in den anderen Staaten eine vergleichbare Regelung bislang verhindert. In immerhin sieben Staaten sind Pflegekräfte per Gesetz an der Aufstellung von Pflegeplänen beteiligt (Texas, Nevada, Ohio, Connecticut, Washington, Illinois und Oregon). Die Pläne werden von einem Komitee, meist paritätisch aus Vertretern des Krankenhausmanagements und der Pflegekräfte gebildet, mit Gültigkeit für jedes einzelne Krankenhaus aufgestellt. In fünf weiteren Staaten sind Krankenhäuser dazu verpflichtet, die Ausstattung mit Pflegekräften zu veröffentlichen.

Australien
In Australien gibt es zwei Staaten mit Regelungen zur Mindestpersonalbemessung. Sie sind dort Bedingung für eine Finanzierung der Krankenhäuser. Wie in Kalifornien wurden auch in Victoria für die verschiedenen Krankenhausbereiche unterschiedliche Personalzahlen pro Patient festgelegt. Sie unterscheiden sich in der Früh-, Spät- und Nachtschicht. Ebenso differieren sie bezüglich der Größe und der Lage eines Krankenhauses. Ganz ähnlich sind die Regelungen in New South Wales. Untersuchungen über die Regelung in Victoria zeigen, dass 2650 ausgebildete Pflegekräfte, die aber nicht als Pfleger arbeiteten, nach Inkrafttreten wieder in diesen Beruf eingestiegen sind.

Südkorea
1999 wurde in Südkorea ein System mit finanziellen Anreizen geschaffen, um den Pflegedienst zu stärken. Dies hatte vor allem das Ziel, die übliche Pflege durch Familienangehörige – die regelmäßig zu Komplikationen führt – zurückzudrängen. Allerdings hat diese Regelung wenig bewirkt. Rein finanzielle Anreize scheinen eher zu versickern.

Schlussfolgerungen
Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Wege, das Problem einer zu schlechten Personalausstattung in der Pflege zu lösen. Erstens – und das war der Vorschlag von Lars Lindemann in seiner Bundestagsrede – kann man die Behandlungsqualität in Krankenhäusern erfassen und gute Qualität belohnen. Das bringt jedoch erhebliche Schwierigkeiten mit sich. Wie misst man Behandlungsqualität? Wenn man sie zum Beispiel an einer geringen Sterblichkeits-, Infektions- oder Rehospitalisierungsrate festmacht, dann sorgt das dafür, dass Krankenhäuser gerne junge Patienten und einfache Fälle aufnehmen, die anderen aber meiden. Denn dann ist auch ohne Verbesserungen in der Pflege davon auszugehen, dass der Qualitätsindikator und damit die Vergütung des Krankenhauses ansteigen. Das wäre aber absurd – ein klassischer Fehlanreiz mit ungewollten Folgewirkungen.

Deswegen ist es sinnvoller, den anderen Weg zu gehen und eine Mindestpersonalbemessung verbindlich vorzuschreiben sowie diese entsprechend zu sanktionieren. Hierzu gibt es derzeit einen Versuch über das Mittel eines Tarifvertrags an der Berliner Charité, der in den kommenden Monaten womöglich in einen Arbeitskampf münden wird. Die Kolleginnen und Kollegen haben dort bereits jetzt einiges erreicht: Sie haben die Logik der Krankenhauspolitik der vergangenen Jahrzehnte in Frage gestellt und damit auf die politische Agenda gesetzt. (Siehe Mindestpersonalbemessung).

Neben der Auseinandersetzung um Tarifverträge ist das Thema Personalbemessung auch Gegenstand der parlamentarischen Debatte. Die Linksfraktion hat eine entsprechende Initiative im Bundestag gestartet, die helfen soll, die Personalnot in den Krankenhäusern und Alternativen dazu zum Thema des politischen Mainstreams zu machen. Die Linke stellte eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung (Bundestags-Drucksache 17/13041), brachte einen Antrag ein (Bundestags-Drucksache 17/12095) und veranstaltete ein Hearing mit Betriebs- und Personalräten sowie Pflegekräften. Im Juni folgte auf Antrag der Linksfraktion eine öffentliche Expertenanhörung im Bundestag.

Auch bei den anderen Fraktionen besteht mittlerweile eine größere Sensibilität für diese Frage, die sich teilweise in den Wahlprogrammen niederschlägt. Sicher hängt das damit zusammen, dass das Thema immer mehr öffentliche Aufmerksamkeit erhält. Obwohl eine Ablehnung des Antrags der Linkspartei zu erwarten ist, kann er die öffentliche Wahrnehmung verstärken. Das ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt wichtig, dass die Krankenhauspolitik in der nächsten Wahlperiode voraussichtlich einen zentralen Stellenwert einnehmen wird. Die betrieblichen und parlamentarischen Aktivitäten sind ein gutes Beispiel dafür, wie auf der gewerkschaftlichen und auf der politischen Ebene gemeinsam für eine sinnvolle Idee, die Aussicht auf Erfolg hat, eingetreten werden kann. Bis eine Mindestpersonalbemessung jedoch umgesetzt ist, kann es noch lange dauern. Es ist zu hoffen, dass wir dafür weniger als die zwölf Jahre brauchen, die es in Kalifornien gedauert hat.

Harald Weinberg ist Bundestagsabgeordneter und Obmann der Linksfraktion im Gesundheitsausschuss des Bundestags

Literatur:
Linda Aiken u.a.: Implications of the California Nurse Staffing Mandate for Other States, Health Services Research, 45.4 (August 2010).
Michael Isfort: Pflegepersonalbemessung im Krankenhaus – oder zur Beharrlichkeit der Normativität. In: Pflege und Gesellschaft, 15. Jg. 2010 H.1

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