„Selbst in dem sagenhaften Atlantis brüllten in der Nacht, wo das Meer es verschlang, die Ersaufenden nach ihren Sklaven.“ So beschrieb Bertolt Brecht 1935 in „Fragen eines lesenden Arbeiters“ Katastrophenzeiten, in denen selbst die Herrschenden entdecken, dass sie angewiesen sind auf die Arbeit anderer Menschen.
In einem Moment der Stille und Nachdenklichkeit, etwa Mitte März, zu Beginn der Maßnahmen gegen die Pandemie, fand diese Entdeckung wieder statt. Plötzlich wurden andere „Leistungsträger“ beklatscht: Pflegepersonal, Ärztinnen, Menschen im Verkauf von Lebensmitteln und Botendienste. Als „lebensnotwendig“ wurden bei aller Virtualität jene erkannt, die uns Essen bringen, zu Trinken geben oder den Hintern abwischen. In dem Moment, als wir uns wegen der Ansteckungsgefahr besser nicht anfassen wollten, wurde sichtbar, dass wir als körperliche Wesen auf Andere und deren Arbeit angewiesen sind. Weil diese gesellschaftliche Arbeitsteilung im Kapitalismus die Form des Warenaustausches annimmt, verzichten wir in normalen Zeiten gerne auf den Gedanken, wer wohl wo diese Frucht angebaut, die Maske genäht, das Fleisch zerlegt, die Müsli-Körner eingetütet und die Milch transportiert hat.
Doch der Moment der Besinnung auf das „Lebensnotwendige“, auf die Kette der Arbeitenden, die all das schaffen, was wir kaufen und nutzen, und die für uns sorgen, ging schnell vorüber. Im einsetzenden Geplapper der Herrn Altmaier, des Möbelverkäufers Laschet und des unvermeidlichen Herrn Lindner um die Verluste der „Wirtschaft“ setzte sich wieder jene Vorstellung von „Leistungsträgern“ durch, die vorher gegolten hatte. Lebensnotwendig ist das, mit dem jemand Geld verdienen kann – also Möbelhäuser, Autokonzerne, Fußballspiel, Fluggesellschaften und Gastronomie. Und hofiert werden müssen die „Leistungsträger“, die die Leistung kommandieren, für die wir gegen Lohn die Arbeit machen, damit sie ihr Geld verwerten können.
Deshalb heißt es auch eigenartigerweise „Leistungsträger“, nicht „Leistungserbringer“, vergleichbar den Hosenträgern, die selber nicht die Hose tragen, sondern sie halten.
Aber wohin tragen die „Leistungsträger“ die Leistung der abhängig Beschäftigten – ins Steuerparadies, in Immobilienbesitz, Aktienhandel oder neue Anlagenfelder der Pharmaindustrie? Aber – nur ruhig – wir können den Trägern die Last abnehmen. Sie müssen gar nicht darüber bestimmen, welche Arbeit wie geleistet wird. Mit den Produktionsmitteln könnten wir ihnen auch die Sorge abnehmen, welches Betätigungsfeld für neue überflüssige Waren sie suchen müssen, wenn die Arbeit zu produktiv geworden ist. Dann würden wir uns in gesellschaftlich organisierter Produktion darauf besinnen, was „lebensnotwendig“ ist – und es werden eine Menge neuer und alter genussreicher Dinge und Tätigkeiten sein, deren Nutzung allerdings dann nicht mehr davon abhängt, ob uns jemand unsere Arbeitskraft gegen Lohn abkaufen und den Mehrwert unserer Arbeit wegtragen wird.
Jürgen Bönig schreibt Geisterbahn. Es werden keine Geister gewesen sein, die uns Lebensmittel, Toilettenpapier, Bücher und Zeitungen in die Quarantäne gebracht haben.