Die Corona-Krise und die Kultur
Schönere und größere Beerdigungen als zu zehnt im engsten Familienkreis und ohne Leichenschmaus waren heuer zwischen 16. März und 1. Mai in Österreich nicht möglich. Am 15. März wurde der öffentliche Raum zur Eindämmung der Corona-Virus-Infektionen für komplett geschlossen erklärt und das öffentliche Leben auf ein Minimum an notwendigen Wegen eingeschränkt.
Seit dem 1. Mai sind wieder mehr Trauergäste bei Begräbnissen zugelassen, bis zu dreißig, mit genau festgelegten Abstandsregeln: zu den anderen Trauergästen, zum Sarg und zum Grab, seit der Öffnung der Lokale am 14. Mai auch mit anschließendem Leichenschmaus. Eine „schöne Leich“, Ehren- und Staatsbegräbnisse lassen sich zwar damit noch immer nicht zustande bringen, aber wenigstens muss keine Trauerfeier mehr ohne bezahlten Trauerredner und ohne bezahlte Trauermusik auskommen. Die Literatur und die Musik haben einen Arbeitsbereich für sich zurückerobert.
Jedem darüber hinausgehenden Spielraum für Kunst- und Kulturveranstaltungen sind bis auf weiteres nur digital keine Grenzen gesetzt. Und ob in einem nächsten Schritt dem Publikum zehn Besuchsquadratmeter zugestanden werden oder ein Ein-Meter-Abstand im Schachbrettmuster vorgeschrieben wird, gut besuchte Veranstaltungen bzw. Großveranstaltungen mit einem zahlreicheren als verstreuten Publikum sind auf Monate hinaus, vielleicht sogar für das ganze Jahr, nicht mehr vorgesehen. Aus den Kunst- und Kultureinrichtungen hat diese Ausgangssituation Zulieferbetriebe für die globalen Geschäfts- und Vormachtmodelle von Google, Facebook, Amazon & Co. gemacht, für die sie nicht nur zum Nulltarif spielen, sondern die auch ohne irgendeinen erkennbaren Mittelrückfluss auf ihren Produktionskosten sitzen bleiben. Selbst die größten Karrieristen, Stars oder Rampensäue können sich höchstens per Streaming, Homeoffice oder bei Videokonferenzen als Teilnehmer einer einzigen gesamtgesellschaftlichen Benefizveranstaltung und Informations- und Beratungsgemeinschaft bewähren und zum Fenster hinaus- oder vom Balkon hinunterspielen, für Menschen, die sich dort gerade zufällig die Beine vertreten, aber nicht versammeln dürfen, oder von Fenster zu Fenster und Balkon zu Balkon zuhören und zusehen. Mehr als sich selbst und anderen Mut zusprechende Verzweiflungsakte sind das nicht.
Von einem Tag auf den anderen waren die meisten demokratischen Grund- und Freiheitsrechte weg und wurde jede Kritik daran mit der Begründung, für Gesundheit und Sicherheit sorgen zu müssen, gleich mitverboten. Das Ausmaß der Katastrophe erhielt sein mehrmals täglich aktualisiertes Zahlenaussehen, garniert mit dramatischen Bildern des Geschehens in den Ländern rundherum und Warnungen der höchsten Alarmstufe. Bald würde jeder von uns einen Corona-Toten kennen, so der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz am 30. März 2020 in der ORF-Hauptnachrichtensendung „Zeit im Bild“. Österreich lag ein nächstes Mal als „Versuchsstation des Weltuntergangs“ (Karl Kraus) am Boden – bis Ostern, um lt. Sebastian Kurz nach Ostern „wiederaufzuerstehen“.
Der Wettbewerb um die effizientesten Wegsperr- und Kontrollmöglichkeiten machte nicht einmal davor Halt, Aufenthalte von dazu nicht berechtigten Personen bis in die Wohnzimmer hinein überprüfen zu wollen und die Überwachung der persönlichen Bewegungsabläufe via Mobiltelefon bzw. Ortungschip zu planen. Parallel dazu setzten die später nie bewiesenen Behauptungen ein, „niemand (werde) zurückgelassen“ (Ulrike Lunacek, Kunst- und Kulturstaatssekretärin), „koste es, was es wolle“ (Sebastian Kurz). Wie sich bald darauf herausstellte, indem verpflichtend bestehende Entschädigungsrechte für entgangene Verdienste außer Kraft gesetzt und durch freiwillig gewährte Zuschussleistungen zu den Lebenshaltungskosten ersetzen wurden.
Für die Unmöglichkeit, ihre Berufe auszuüben, wurden den Kunst- und Kulturschaffenden zwei staatliche Unterstützungsfonds an die Seite gestellt, aus denen sie bis zum Ende des Sommers alternativ (wer aus dem einen Fonds etwas bekommt, bekommt vom anderen nichts) Geld beziehen können. Über ein paar hundert Euro pro Monat für ein paar Monate gehen diese Unterstützungen aber nicht hinaus. Sie sollen dafür eingetauscht werden, dass für Kunst- und Kulturschaffende mehr als ein halbes Jahr kein bezahltes Arbeiten möglich ist, nicht im eigenen Land und nicht jenseits der Landesgrenzen.
Abgeschafft wurden der grenzüberschreitende Personenverkehr genauso wie der Post-Flugverkehr. Wer seinen künstlerischen oder kulturellen Arbeitsplatz fall- oder teilweise oder überwiegend außerhalb seines eigenen Landes hat, wie beispielsweise in der Literatur in allen deutschsprachigen Ländern und Regionen, kann seine Zeit nur zuhause absitzen und auf bessere Zeiten warten, ob wenigstens die Frankfurter Buchmesse oder die Buch Wien im Herbst aufsperren oder das eine oder andere Literaturfestival durchgeführt wird und wieder Reisefreiheit herrscht, wenn schon die Leipziger Buchmesse und die Literaturfestivals in der ersten Jahreshälfte nicht stattfinden konnten. Das ist für keine Kunstsparte und nirgendwo besser, nur um die eine oder andere Nuance anders: internationale Auftritts- und Arbeitsmöglichkeiten an Ort und Stelle wurden entweder überhaupt abgesagt oder auf unsichere andere Zeitpunkte verschoben.
Proben für Stücke und Konzerte gibt es keine, Aufführungen sowieso nicht, außer als Künstler oder Künstlerin mit sich allein auf der Bühne oder mit zwei, drei anderen, vor leeren Stuhlreihen, verloren im Bühnenraum. Gastspiele, Tourneen oder Lesereisen sind in weite Fernen gerückt. Wann den Kunst- und Kultureinrichtungen und Kunst- und Kulturschaffenden unter solchen Voraussetzungen die Luft ausgeht, ist keine Frage eines längeren Zeitraums, sondern einer relativ kurzen Zeitspanne. Kabarettisten, die nicht im Fernsehen arbeiten, verlieren 100 Prozent ihrer Einnahmen. Dem gesamten nicht geförderten Bereich geht es nicht besser. Egal, wie es sich schmückt und bezeichnet, was immer zur Eindämmung der weiteren Verbreitung des Corona-Virus unternommen wurde und wird, es läuft auf geschlossene Kunst- und Kulturbetriebe und Berufsausübungsverbote für Kunst- und Kulturschaffende hinaus, auf eine umfassende Krise des gesamten kulturellen und sonstigen öffentlichen Lebens. Worin die Chancen dieser Krise bestehen sollen, kann von denen, die davon reden, dass in dieser Krise eine Chance liegt, zwar niemand sagen, da es aber ohnehin keine anderen Vorstellungen und Vorschläge von Seiten der Verantwortlichen gibt, wie sich die Situation bewältigen lässt, kann man gleich auch behaupten, dass darin eine Chance liege. Und ebenso gut kann man unter der Voraussetzung der so gut wie kompletten Schließung des öffentlichen Raums und der Einstellung des öffentlichen Lebens von „herausfordernden“ Zeiten sprechen und auf die „kreativen Lösungen“ der Kunst- und Kulturschaffenden setzen, wie sie mit dieser Situation von alleine fertig werden.
Dem politisch schöpferischen Umgang mit der Situation und ihren Folgen sind genauso wie bei der digitalen Verbreitung keine Grenzen gesetzt. Zur „Sterblichkeit“, „Normalsterblichkeit“ und „Unsterblichkeit“ hat sich die „Übersterblichkeit“ (höhere Todesraten als in Vergleichszeiträumen anderer Jahre) gesellt und zur schon vorher fragwürdigen „Normalität“ die noch fragwürdigere „neue Normalität“. Zu dieser neuen Normalität gehört u.a. auch die Wiederinbetriebnahme von Lokalen mit der Feststellung der Berechtigung zum gemeinsamen Besuch, durch wen auch immer – zumeist durch Nachfragen über die Zusammensetzung bei der geforderten vorherigen Reservierung. Zugelassen sind vier Erwachsene pro Tisch mit ihren minderjährigen Kindern im Einmeterabstand von Tisch zu Tisch. Insofern ist doch wieder kein Leichenschmaus möglich, jedenfalls an keiner gemeinsamen Tafel und nicht in einem Raum bzw. Lokal, denn selbst Gruppenreservierungen an getrennten Tischen bleiben verboten und auch das „Stehachterl“ und das „Fluchtachterl“ (ein letztes Glas im Stehen) an der Theke.
Am 5. Mai 2020 gab es im großen Festsaal des Wiener Rathauses, nach sieben Wochen Stillstand, auf Initiative der Stadt Wien mit 30 dazu eingeladenen Gästen ein erstes Forum „Kultur und Gesundheit“. Gekommen waren doppelt so viele, die über einen Großteil des Saals verteilt wurden. In der achten Woche nach den Schließungen nahmen die Proteste gegen die Nichtbehandlung der daraus resultierenden Probleme Fahrt auf. Der Blasmusikverband mit seinen 150.000 Mitgliedern protestierte ebenso wie die Kabarettszene und der gesamte Kunst-, Hoch- und Unterhaltungskulturbereich sowie die Parteikollegin des österreichischen Bundeskanzlers und niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und die von der SPÖ gestellte Wiener Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler gegen den Umgang der Bundesregierung mit der Kunst und Kultur. Die zentrale Forderung war, Kunst und Kultur auf Augenhöhe und Kunst- und Kulturschaffende nicht als Bittsteller zu behandeln. Zwischendurch wurde auch noch bei den Bewerbungsmöglichkeiten um Unterstützungen ein riesiges Datenleck bekannt, durch das die Privatadressen zahlreicher Kunst- und Kulturschaffender, auch solcher, die sich gar nicht um eine Unterstützung beworben hatten, öffentlich zugänglich gemacht wurden. Selbstverständlich ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen, da für den Staat die Sanktionsbestimmungen der Datenschutzgrundverordnung nicht gelten. Wenigstens musste das Verzeichnis vom Netz genommen werden und es arbeitet nun eine „Task Force“ des zuständigen Wirtschaftsministeriums an „Adaptierungen“.
Am 12. Mai 2020, zu Beginn der neunten Woche der Schließungen in Österreich, kam es schließlich auch von Seiten der Bundesregierung zu einer ersten direkten Gesprächsrunde von Kunst- und Kulturschaffenden mit Regierungsmitgliedern und Medizinern über die Probemöglichkeiten an Theatern und für Orchester und Chöre sowie die Wiederaufnahme von Dreharbeiten. Am Ende dieser Woche, am 15. Mai, gab die Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Ulrike Lunacek, mit der Begründung ihr Amt ab, es sei ihr keine Chance mehr gegeben worden, ihre Stärken und Fähigkeiten einzubringen. Zu Beginn der zehnten Schließungswoche wurde sie durch die frühere leitende Kulturbeamtin Andrea Mayer ersetzt, die von ihrer Leitungsfunktion im Büro des österreichischen Bundespräsidenten zurück ins Kunst- und Kulturressort wechselte. Von 29. Mai an kann auch außerhalb der eigenen vier Wände wieder für den Herbst geprobt und – falls durchführbar – aus dem bisherigen Repertoire gespielt werden, in aller gebotenen Reduktion auf vorerst maximal 100 Personen im Publikum mit einem Meter Mindestabstand.
Sport und Singen gehören in Österreich übrigens auch nicht zum dringenderen Bedarf, sie können daher beim wieder aufgenommenen Unterricht ebenso unterbleiben wie etliches andere im öffentlichen Leben mehr, bis jedenfalls zum ersten Schultag des neuen Schuljahres Anfang September. Allerdings wurde am 3. Juni das generelle Sing- und Turnverbot an Schulen aufgehoben, gesungen werden kann, wenn es zum üblicherweise nicht verpflichtenden Unterricht zählt, und geturnt wird dann, wenn sich freiwillig jemand außerhalb des regulären Unterrichts dazu findet.
In die ab 29. Mai für Kulturveranstaltungen vorgesehenen Lockerungen wurden nachträglich auch Begräbnisse und Hochzeiten einbezogen. An ihnen können somit, inklusive Leichenschmaus und Hochzeitsgesellschaft, ebenfalls wieder bis zu 100 Personen teilnehmen.
Gerhard Ruiss, *1951 in Ziersdorf/Niederösterreich, Autor, Musiker, Geschäftsführer der IG Autorinnen Autoren, lebt in Wien. Veröffentlichungen u.a.: Gesamtausgabe der Lieder Oswalds von Wolkenstein in Nachdichtungen, 2007–2011, Das 100. Jahr, Stück, UA 2014, Du meine Schöne. Liebeslieder nach Oswald von Wolkenstein, CD, 2017, Kanzlergedichte und Kanzlernachfolgegedichte, 2005 und 2017, Schundlyrik, 2018, Blech, Gedichte 2020; Auszeichnungen u.a. Medaille des österreichischen Buchhandels für besondere Verdienste um das Buch 2014.