Wirklich Chancen? Oder doch eher Rollback-Gefahr?

Die eher vage Vision neuer Solidarität in den Zeiten der Pandemie

Bleib(t) gesund und solidarisch. Das stand unter vielen E-Mails, die in den letzten Wochen angesichts der Corona-Krise verschickt wurden. Das Wort Solidarität ist in diesen Wochen omnipräsent. Medien kommentieren, Virologen fordern sie, selbst die Kanzlerin appelliert in ihrer Fernsehansprache, solidarisch zu handeln. Aber was heißt solidarisch? Sind Menschen in der Krise besonders solidarisch? Und warum? Oder zeichnet sich ein gesellschaftlicher Rollback ab? Und was ist nach der Krise?

Was heißt Solidarität?

Solidarität ist ein situativ vielseitiger Begriff. Sie kann die Unterstützung und die gegenseitige Hilfe und das Eintreten für die Ideen, Aktivitäten und Ziele anderer bedeuten, den Zusammenhalt zwischen gleichgesinnten oder gleichgestellten Individuen und Gruppen oder den Einsatz für gemeinsame Werte ausdrücken. Solidarität kann sich von einer familiären Kleingruppe über kollektive politische autonome Zusammenhänge, Parteien und Gewerkschaften bis zu Staaten und Staatsgemeinschaften oder darüber hinaus erstrecken. Solidarität kann nicht verordnet werden, sondern sie muss hergestellt, also erarbeitet werden. Die Idee vom solidarischen Zusammenschluss aller Menschen war immer eine Schimäre.

Sind Menschen in der Krise besonders solidarisch?

Vom Corona-Virus sind angeblich alle Menschen gleich betroffen. Er macht vor Grenzen keinen halt und dringt in die Villen ebenso ein wie in die Hütten der Armen. Welch ein Irrtum! Die Corona-Krise trifft zwar alle Länder, aber nicht alle gleich. Die ökonomischen und sozialen Verluste sind ungleich verteilt und auch die Menschen sind aufgrund verschiedener Diskriminierungen in Bezug auf Klasse, Herkunft, Bildung, Religion, Alter und Geschlecht gespalten. „Die beste Prävention ist zu Hause bleiben. Und möglichst viel Abstand zu anderen Menschen halten“. Das wurde denjenigen, die über Nacht zu Risikogruppen geworden waren, geraten. Besonders schwer war es für die Älteren, die vorher aktiv waren und mitten aus der politischen Arbeit gerissen wurden. Schnell kamen die ersten Hilfeaufrufe und -angebote. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bat die Bürger, „aufeinander Acht zu geben“. Und auch Angela Merkel appellierte an die Nation und an das Verantwortungsbewusstsein der Menschen im Land; sie lobte die zahlreichen Nachbarschaftshilfen, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Solidarische Bekundungen kamen von allen Seiten: Vor online-Therapien jeder Art, um auf diese oder jene Weise den „Corona-Koller“ zu überstehen, konnten sich besonders ältere Frauen kaum retten. Die Ehe- und Familienfürsorge der christlichen Kirchen tröstete auf ihren Websites: „Gott ist immer hier und Jesus lebt. Wer mit dem Herzen sucht, kann ihn immer finden“. Gott hilft leider ebenso wenig wie beten, aber die Christin kann sich damit beschäftigen, ihn zu suchen. Die christlichen Kirchen preisen zu allen Zeiten die Solidarität in der Familie. Wobei gerade in der Krise deutlich wird, dass diese „Keimzelle der Gesellschaft“ nicht immer solidarisch ist. Was allerdings auch vor der Krise nicht der Fall war.

Selbst die bürgerliche Presse berichtet darüber, dass Stay at-home gefährlich werden kann. Jede vierte Frau ist in Deutschland einmal im Leben von partnerschaftlicher Gewalt betroffen – auch und besonders in ihrem Haus. Häusliche Gewalt macht auch vor den Kindern nicht Halt. Nicht alle haben das Glück, sich bei einer Freundin ausweinen zu können oder gar Unterschlupf zu finden. Die Frauenhäuser sind mit der Krise noch mehr überfüllt, Hilfetelefone sind überfordert.

SoziologInnen vom Deutschen Jugendinstituts (DJI) befragten mehr als 8.000 Eltern von Kindern zwischen drei und 15 Jahren und stellten fest, dass die Corona-Krise eine enorme Herausforderung für Eltern und Kinder darstellt. Das Ergebnis: „Zoff bleibt in dem durch die Krise erzwungenen Rückzug nicht aus“, vor allem weil die gewohnten Betreuungs- und Kommunikationsstrukturen wegfallen. In jeder fünften befragten Familie herrsche neuerdings häufig oder sehr häufig Streit, zumindest ein „konflikthaftes Klima“, heißt es. Ein Drittel der befragten Eltern sagte, dass ihr Kind Schwierigkeiten hat, mit den Kontaktbeschränkungen zurechtzukommen. Die Kinder würden sich einsam fühlen, Freunde, den Sport oder das Schulumfeld vermissen. Entgegen der Empfehlung von Virologen bezogen viele Familien mit kleinen Kindern die Großeltern weiter in die Betreuung der Kinder ein. Da sich an der Erhebung überdurchschnittlich viele Familien mit formal hohem Bildungsgrad und ohne finanzielle Sorgen beteiligt haben, vermuten sie, dass „die Situation für Familien in belasteten Lebenslagen“ noch schwieriger sei. Diese sollten nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass in diesen Familien mehr gestritten und geschlagen wird. Lange vor der Krise erstellte Studien aus der Frauenforschung zeigen keine schichtspezifischen Unterschiede. Man könnte aus den Ergebnissen auch schlussfolgern, dass die 1: 1 oder 2:1 Betreuung ohnehin nicht „kindgerecht“ ist.

Zeichnet sich in der Krise ein gesellschaftlicher Rollback ab?

Die Erkenntnis, dass Kinder schon in frühen Jahren Einrichtungen brauchen, in denen sie sich mit Gleichaltrigen treffen, dort spielen und sich solidarisieren können, hat sich nach langen Auseinandersetzungen mit Vertretern familistischer Ideologien nur mühsam durchgesetzt. Ebenso die Tatsache, dass Kinder in anderen als der Vater-Mutter-Kind Familie mindestens genauso gut aufwachsen können.

Nun kommt der Corona-Shutdown den Protagonistinnen der reaktionären „Demo für alle“-Kampagne um Hedwig von Beverfoerde scheinbar zu Hilfe. Sie (und andere konservative Kräfte) kämpfen seit Jahren verbissen gegen die Vielfalt der unterschiedlichen Lebensmodelle. Alles, was jenseits der heterosexuellen normativen Kleinfamilie angesiedelt ist, ist Teufelswerk, weshalb sich diese Kampagne insbesondere auf die Fahne geschrieben hat, die lieben Kleinen nicht nur vor sexueller Aufklärung zu schützen, sondern auch vor „Fremdbetreuung“ in Gruppen. „Die ersetzbare Mutter – ein Mythos hat Pause“, jubelt etwa Birgit Kelle, die sich als Antifeministin einen Namen mit Büchern wie „Muttertier“ gemacht hat. Sie freut sich, dass „die Mutter wieder in den Mittelpunkt des Haushalts“ rückt, wenn der Staat „als Nanny“ ausfällt und die Mutter an Heim und Herd gekoppelt ist. “Millionen von Familien stellen gerade fest, dass dann, wenn der Staat als Nanny ausfällt, die Familie und ja, die Mutter, wieder in den Mittelpunkt des Haushaltes rückt”, schreibt Kelle. Versucht wird wieder einmal ein Roll-Back; Wissenschaftlerinnen sagen: „Zurück in die 50er Jahre“. Schon damals war das Familienidyll eine Illusion. Auch wenn der Soziologe Helmut Schelsky „die Familie“ als das einzig wahre, krisenfeste Lebensmodell bezeichnete und dem „stabilisierenden kleingruppenhaften festen Zusammenhalt der Familie in den Notzeiten“, einen „hohen sozialen Bindungswert“ beimaß, war die Familie zugleich überfordert. Ganz abgesehen davon, dass auch damals in Westdeutschland fast vier Millionen Frauen „alleinstehend“ waren und 2,5 Millionen Kriegerwitwen ihr Kind oder ihre Kinder alleine erzogen.

Zurück zur „Normalität“?

„Der Lockdown ist mies, aber das Leben vorher war auch nicht der Knaller“, so der 1. Mai-Aufruf einer linken Gruppe aus Weimar. Corona verschärft bestehende Ungerechtigkeiten und macht offensichtlich, dass die kapitalistische Wachstumsgesellschaft nicht zukunftsfähig ist. Nicht alle können zu Hause bleiben. Frauen, ob als Krankenschwestern, Verkäuferinnen oder in anderen dienenden und helfenden Berufen, wollen nicht als „Heldinnen“ gefeiert und nicht als die dauernd Leidtragenden bedauert werden. Sie sind auch handelnde Subjekte. Sie kämpften schon vor der Krise und wollen auch nicht zurück zu den Bedingungen, die sie vorher hatten. Unlängst, am 8. März 2020, dem Internationalen Frauentag, haben sie, gemeinsam mit pro-feministischen Menschen aller Geschlechter, auf der ganzen Welt gegen Gewalt gegen Frauen und Kinder, gegen die Flüchtlingspolitik, gegen die wachsende weltweite Ungleichheit, gegen die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, für mehr Personal in den Krankenhäusern und für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen demonstriert und gestreikt. „Mehr von uns ist besser für alle“ ist der beeindruckende Slogan, mit dem das Pflegepersonal Druck auf die Politik und die Arbeitgeber macht – und das auf drei Schienen: politisch, betrieblich und tariflich. Die Folgen von zwei Jahrzehnten verfehlter Gesundheitspolitik haben sie während der Krise zu tragen. Sie zu korrigieren, ist ein dickes Brett. Doch sie bohren weiter. In Berlin haben sie gerade den Berliner Corona-Krankenhauspakt gegründet. Sie fordern Gesundheitsschutz, mehr Personal und vor allem (auch finanzielle) Anerkennung.

Gisela Notz ist Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, lebt und arbeitet in Berlin und gehört dem Lunapark21 Redaktionskollektiv an.