Kuba: gestern, heute und morgen


Impressionen auf einer vierwöchigen Radtour durch das nordwestliche Kuba

„Se pudo, se puede, se podrá.“ Das ist ein aktueller Ausspruch von Raúl Castro, den ich auf meiner Radtour im Januar und Februar 2018 durch den Nordwesten der Insel in den Provinzen Havanna, Mayabeqe, Artemisa und Pinar del Rio in Städten und auf dem Land auf großen Plakaten lesen konnte. Manchmal stand die Zitatwand direkt neben einer wilden Müllkippe. Manchmal vor verfallenden Gebäuden. Manchmal auch am Rande von gepflegten Tabak- und Bananenfeldern.

„Man konnte, man kann, man wird können“. Was will der Raúl Castro, der knapp fünf Jahre jüngere Bruder von Fidel Castro, der seinen Rücktritt von der Macht als erster Mann im Staat für den 1. April 2018 angekündigt hatte, mit diesem gleichermaßen kurzen, abstrakten und kryptischen Satz ausdrücken? Man könnte annehmen, dass der verdiente kubanische Revolutionär auf seine alten Tage von der Werbepsychologie gelernt und einen Sinnspruch kreiert hat, der die drei Zeitformen des menschlichen Daseins auf einer syntaktischen Skala des Fortschritts abbildet. Man könnte aber auch eine Melancholie eines zu Ende gehenden Lebens darin lesen, dass der Hochbetagte die 1. Person Singular oder Plural, also „ich“ oder „wir“ in das Indefinitpronomen „man“ zurücknimmt.

Doch wie steht es um die kubanische Bevölkerung konkret, denen Raúl Castro und der Partei- und Staatsapparat mit dieser Parole Mut machen sowie Hoffnung, Zuversicht und Orientierung vermitteln wollen? Wie wird der von der kubanischen Nationalversammlung am 19. April 2018 zum neuen Vorsitzenden des Staatsrats gewählte (Staatspräsident) Miguel Díaz-Canel agieren, während Raúl Castro weiterhin in seinen Ämtern als Erster Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas, des 17köpfigen Politbüros sowie als Befehlshaber der Armee verbleibt?

II.

Zur Beantwortung dieser Fragen beziehe ich mich wesentlich auf Ausführungen von Michael Zeuske und Bert Hoffmann, bei denen es sich meines Erachtens um ausgesprochen qualifizierte deutsche Kuba-Analytiker handelt. Jüngst schrieb Zeuske: „Die internen Perspektiven auf Kuba sind, vor allem in Havanna und in den größeren Städten (Matanzas, Santa Clara), durch zwei Typen erheblicher Frustrationen geprägt, die die Regierung […] unter Zugzwang setzen – […] in sozialer und vor allem wirtschaftlicher Hinsicht. Die Frustrationen können – vereinfacht – wie folgt beschrieben werden: Viele Kubaner sind mit der Situation, was sie nach mehr als 60 Jahren “Revolution” und einem Vierteljahrhundert Krise seit 1990 bekommen, extrem unzufrieden. Die Revolution hatte ihnen einst den Anschluss an die “Erste Welt” verheißen – aus kubanischer Sicht gehörte dazu auch das sozialistische Lager in Europa und Asien; die DDR war daher in gewissem Sinne lange Zeit ein Sehnsuchtsort. Jetzt droht in den Augen vieler Kubaner dagegen ein Rückfall in die “Vierte Welt”. Während die eine, sehr viel größere Gruppe vor allem mit den extrem niedrigen Gehältern und Löhnen unzufrieden ist, betrifft die zweite Form der Unzufriedenheit eine deutlich kleinere, aber häufig mit den Eliten des Landes verbundene Gruppe: Ihre Frustration speist sich aus dem Unmut über das mangelhafte Warenangebot – also darüber, was sie im staatlich dominierten Handelssystem Kubas an Erzeugnissen in adäquater Qualität (nicht) kaufen können.“[1]

III. Eindrücke

Während ich durch den ländlichen Westen der Insel radelte, erfuhr ich in mehreren Orten oder am Eingang landwirtschaftlicher Kooperativen eine Sicht, die sich von der vieler Städter durchaus unterscheidet. Danach ist ein größerer Teil mit seiner Lebenslage, der Kaufkraft, den Arbeits- und Lebensbeziehungen sowie den Freizeitmöglichkeiten auf dem Lande durchaus zufrieden. Vor dem Landstädtchen San Cristobal treffe ich am Eingang zu einer Tabakproduktionsgenossenschaft auf die etwa 40jährige Tanja und den Ende 50jährigen Elieser, die auf meine Fragen freundlich, wenn auch durchaus zurückhaltend reagieren. Sie gäben die Tabakernte vollständig an die staatlichen Stellen weiter, würden dadurch für den laufenden Betrieb ausreichend Betriebsmittel und Löhne erhalten, die sie für ihre persönliche Bedarfsdeckung nutzten. Damit ginge es ihnen nicht schlecht, weil sie innerhalb der Kooperative alle wesentlichen Nahrungsmittel selbst herstellen könnten, sodass Geld für andere persönliche Bedürfnisse bliebe. Der Zusammenhalt in der Kooperative sei gut, sie wüssten, wofür sie arbeiteten und hofften auf den Erfolg der Wirtschaftsreformen.

Wenig Hoffnung auf ein gutes Leben (buen vivir) hat die alleinerziehende Lehrerin Lorena, 25jährige Mutter einer sechs- und einer vierjährigen Tochter, mit denen sie zusammen bei ihrer Mutter in einer 42 qm-Wohnung eines mehrstöckigen baufälligen Hauses lebt. Ich spreche sie vor einem Marktstand mit frischem Gemüse und Obst im Viertel Centro Habana an, als sie gerade über den hohen Zwiebelpreis stöhnt. Sie lobt die bisher gute medizinische Versorgung ihrer Kinder und ihre und deren Ausbildung, aber sie verdiene nicht genug, um sorgenfrei über die Runden zu kommen, denn die Versorgung mit der libreta, also dem Heft, in dem die ihr und den Kindern monatlich zustehenden staatlich subventionierten Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs notiert werden, reiche vielleicht gerade noch knapp zwei Wochen. Den größeren Teil ihres monatlichen Lohns in CUP müsse sie inzwischen in CUC (Näheres zu den beiden kubanischen Währungen: siehe Abschnitt IV) eintauschen, um Ergänzungskäufe für den täglichen Bedarf zu machen. Aber dann sei das Geld immer sehr schnell ausgegeben und so arbeite sie in einem Nebenjob als Verkäuferin von kunstgewerblichen Dingen, die sie an einem Stand an Touristen gegen CUC verkaufe. Manchmal verdiene sie damit an einem Wochenende mehr als ihr Monatsgehalt. Aber das sei unsicher. Und nur weil ihre Mutter auf die Kinder in der Zeit aufpasse, könne sie das überhaupt machen. Sie würde gern, wenn die Kinder groß genug sein werden, allein ins Ausland gehen und sich und ihrer Familie eine sichere Existenz aufbauen. Natürlich werde sie immer wieder zurückkommen: „Ich bin Kubanerin“ – eigentlich „una habanera“, also eine Bewohnerin Havannas.

IV. Wirtschaftspolitik im Wandel

Der kubanische Staat hat 1994 wirtschaftspolitisch auf den Zusammenbruch des realsozialistischen Systems mit der Einführung einer zweiten kubanischen Währung reagiert, sodass es seitdem nicht nur den Peso nacionál (CUP), sondern auch den konvertiblen Peso (CUC) gibt. „Dieser CUC ist mit einem festen Wechselkurs von 1:1 an den US-Dollar gekoppelt und längst nicht für alle Kubaner ohne weiteres zu bekommen. Viele Importartikel und Dienstleistungen sind jedoch nur gegen CUC-Wert beziehungsweise für astronomische CUP-Preise erhältlich. Ein CUC entspricht etwa 25 CUP; wenn ein Chefarzt also im Monat 1000 CUP verdient – im kubanischen Wertsystem ein extrem hohes Gehalt – dann entspricht das 40 CUC (40 US-Dollar beziehungsweise rund 35 Euro). Den Allermeisten, die irgendwie CUC verdienen, sei es als Trinkgeld im Tourismus oder in Form von Geldsendungen in Dollar oder Euro von Verwandten oder Freunden im Ausland (remesas), geht es besser als der überwiegenden Mehrheit der rund fünf Millionen Lohnempfänger, die keinen Zugang zum konvertiblen Peso haben.“[2]

Andreas Knobloch verweist in seiner Studie vom April 2017 auf eine Umfrage der Beratungsagentur Rose Marketing aus Boston, die im Mai und Juni 2016 1.067 Kubanerinnen und Kubaner in mehreren Städten befragte. Diese „stellte fest, dass etwa 27 Prozent der Kubaner_innen unter 50 US-Dollar im Monat verdienen; 34 Prozent verdienen zwischen 50 und 100 US-Dollar im Monat; 20 Prozent zwischen 101 und 200. Zwölf Prozent berichteten von einem Monatsverdienst zwischen 201 und 500 US-Dollar; rund vier Prozent bezifferten ihr monatliches Einkommen mit über 500 US-Dollar, und 1,5 Prozent sagten sogar, sie verdienten mehr als 1.000 US-Dollar.[3]

V. Von Fidel zu Raúl

Fast am Ende seiner politischen Karriere, im Jahr 2005, drei Jahre vor der endgültigen Machtübergabe an seinen Bruder Raúl, betrachtete Fidel Castro einmal mehr die Weltentwicklung allgemein und die besondere Rolle der USA. Er fragte: „Was ist das für eine Welt, in der ein barbarisches Imperium das Recht proklamiert, überraschend und vorbeugend 70 bis 80 Länder angreifen zu dürfen, in der es in der Lage ist, den Tod in jeglichem Winkel der Welt zu produzieren, mit ausgetüftelten Waffen und Tötungstechniken? Eine Welt, in der das Imperium der Brutalität, der Gewalt herrscht, mit hunderten Militärstützpunkten auf dem ganzen Planeten, darunter einem auf unserem eigenen Territorium (Guantanamo, H.D.)“.[4] Er kam dabei zu sehr selbst- und herrschaftskritischen Einsichten, sprach die zunehmenden sozialen Phänomene Raub, Diebstahl, Korruption, Unterschlagung und Spekulation etc. offen an, verlangt ihre Ächtung und Beseitigung. Fidel forderte: „Die Lebensmittelkarten müssen verschwinden; wer arbeitet und produziert, wird mehr erhalten und mehr Dinge besitzen. Und das Land wird viel mehr haben, doch niemals zu einer Konsumgesellschaft werden.“ [5]

Raúl Castro sprach 2011 von einer „umgedrehten Sozialpyramide“ (la pyramide social invertida) und erklärte, dass es nicht länger hinnehmbar sei, dass Hochqualifizierte und bewährte Arbeitskräfte im Staatsdienst wenig verdienten und umgekehrt von geringer Qualifizierten im und rund um den Tourismussektor sehr viel verdient werde. Er verwies damit auf einen Sachverhalt, der auch sechs Jahre nach der Brandrede seines Bruders bestand und der bis heute andauert. Die Frage nach der persönlichen Verantwortung beantwortete er indirekt, indem er „Leitlinien zur Aktualisierung des nationalen Wirtschaftsmodells“ verabschieden ließ, die auf strukturelle Probleme der kubanischen Wirtschaft vielfältig Bezug nahmen und nehmen, statt – wie unter Fidel Castro – die Hauptursachen der kubanischen Wirtschaftsschwierigkeiten in der US-Blockade-Politik zu sehen. So wurden die 1968 staatlich verbotenen 178 privaten Berufe unter Raúl Castro 2011 ebenso wieder als „Elemente privater Wirtschaft zugelassen – wie ausländische Investitionen, Kooperativen, Kleinlandwirtschaft, Verpachtungen … “ [6]

Die aktualisierte Version der Leitlinien, wie sie der VII. Parteitag 2016 für das Jahrfünft von 2016 bis 2021 verabschiedet hat, sieht vor, „die Steigerung und Stabilisierung der Exporterlöse“, „die Exporte zu diversifizieren, Importe zu substituieren und generell die außenwirtschaftliche Situation zu verbessern.“(Schmieg, 2017, S. 18) In meinen vielen Gesprächen auf der Insel seit 2007, auch mit Gewerkschaftsmitgliedern, habe ich immer wieder auf Effekte des auto-bloqueo, also auf die interne oder Selbst-Blockade hingewiesen, habe unter Heranziehung des Beispiels der Entwicklung der Agrarproduktion und dem Prozentsatz von importierten Lebensmitteln, der in den 70er, 80er und 90er Jahren bei 20 Prozent lag und der seit den Nullerjahren bis heute auf rund 80 Prozent gestiegen ist, auf ein sich vergrößerndes Problem Bezug genommen.

Bei meinem jüngsten Aufenthalt in diesem Jahr war bei einigen Kubanern eine Änderung in der Haltung und im Umgang mit dieser Problematik – und anderen wirtschaftlichen und politischen Problemen – festzustellen. Anstelle der früher „klassischen“ Hinweise auf Hurrikane oder die US-Blockade als „Erklärungsansätze“ für innerkubanische Probleme gab es nun mehr Verständnis für offene Diskussion. Analytisch sehr klar äußert sich der international bekannte kubanische Schriftsteller, der Nationalpreisträger für Literatur des Jahres 2012, Leonardo Padura (1)in einem Aufsatz mit dem Titel „Eppur si muove en Cuba“, der Galileo Galileis berühmten Ausspruch aufgreift und damit auf eine Zeitenwende anspielt, die auch Kuba nicht länger aussparen wird: „Es ist allgemein bekannt, dass die geografischen Bedingungen Kubas, die Fruchtbarkeit der Böden und das Qualifikationsniveau vieler Einwohner das Land geradezu zu einem idealen Terrain für eine produktive und konkurrenzfähige Agrarindustrie machen könnten. Aber weder im Ackerbau noch in der Viehzucht werden aufgrund der etablierten politischen und organisatorischen Strukturen sowie Vermarktungsverboten für die Produkte (neben anderen Gründen) die Möglichkeiten ausgeschöpft.“ [7]

VI. Die widersprüchliche kubanische Gegenwartsentwicklung

Zwei Nachrichten unter vielen aus dem vergangenen Jahr künden von einer disparaten kubanischen Gegenwartsentwicklung:

1. In der Granma, dem offiziellen Organ des Zentralkomitees der KP heißt es in einer Meldung vom 13. Juni des vergangenen Jahres, dass das erste kubanische Fünf-Sterne-Plus-Luxushotel in Havanna eröffnet worden sei. Gemeint ist das Gran Hotel Manzana, direkt am Parque Central am Eingang zu La Habana vieja, der Altstadt von Havanna. Die Zimmerpreise pro Nacht – bei Neckermann aktuell z.B. 168 Euro pro Person für das billigste Zimmer- liegen hier auf einem Niveau, das der ganz überwiegende Teil der kubanischen Arbeitsbevölkerung in einem halben Jahr nicht verdient. [8]

2. In der online-Ausgabe des Stern vom 28. August 2017 war zu lesen: „Kuba bildet ehemalige Farc-Kämpfer zu Ärzten aus. Vom Guerilla-Kämpfer in den OP: In den kommenden fünf Jahren vergibt die kubanische Regierung insgesamt 1000 Stipendien für ehemalige Farc-Kämpfer und Kleinbauern. So soll der Friedensprozess gestärkt und Gesundheitsversorgung verbessert werden.“ Auch ein Jahr vor dem 60. Jahrestag der Revolution bleibt der kubanische Staat damit als wohl einziges zentral- und lateinamerikanisches Land seinen sozialstaatlichen Prinzipien einer guten Gesundheitsvorsorge, -fürsorge und -versorgung für alle treu – und das auch über die Grenzen des eigenen Landes hinaus. Die medizinischen Missionen in verschiedenen Ländern haben nicht nur zu nachhaltigem Ansehen vor allem in den zentral- und lateinamerikanischen Ländern geführt. Mit ihnen wird inzwischen ein erheblicher Teil der Deviseneinnahmen Kubas erwirtschaftet. [9] Eines von vielen medizinischen kubanischen Unterstützungs- und Hilfsprogrammen ist die Operación milagro. Sie hat seit 2004 mehr als drei Millionen armen Menschen in vielen Ländern des Südens nachhaltig geholfen, ihre Sehfähigkeit wiederzubekommen oder sie zu erhalten. [10]

VII. Die Demokratie- und Ökonomiefrage

Sabine Kebir hält in einem Beitrag zu den Theoretikerinnen der Revolution Luxemburg und Zetkin sowie zu Gramsci mit Blick auf die Oktoberrevolution und ihre Folgen für die DDR kritisch fest: „Die Demokratiedefizite der realsozialistischen Länder waren untragbar geworden, weil sie die mittlerweile hoch qualifizierten Bevölkerungen weiterhin zu unmündigen Kindern machte, anstatt die Staatsgeschäfte durch zunehmende Transparenz und Mitwirkungsmöglichkeiten mehr und mehr in die Hände der Zivilgesellschaft zu legen.“[11]

In der seit 20 Jahren bestehenden kubanischen sozialwissenschaftlichen Zeitschrift TEMAS – also unterhalb der offiziellen Parteigremien und der Parteitage – wird von einem kleinen Kreis von Hochqualifizierten schon seit längerem offen über die Defizite des kubanischen Sozialismus und seine Entwicklungsperspektiven debattiert. So geht es z.B. in Heft 83 vom Juli-September 2015 um die Möglichkeiten und die Notwendigkeit der Erweiterung tatsächlicher Partizipation in den Kommunen an Stelle von zentral bestimmten, formalisierten Abstimmungs- und Entscheidungsprozessen. Offen wird über die historische Entwicklung und aktuell bestehende Formen von Prostitution debattiert. [12] Und im Forschungs- und Diskussionsverbund kommen in dieser Zeitschrift auch Menschen aus anderen Ländern mit Beiträgen zu allen interessierenden gesellschaftspolitischen Themen zu Wort. Es ist ein Beispiel, das zeigt, wohin es mit Kuba gehen könnte, wenn sich die heutige politisch mündige kubanische Gesellschaft auf ihre besten historischen (und für mich pluralistischen) Traditionen des 26. Juli bezieht, der von einem breiten Bündnis von bürgerlichen bis hin zu unorganisierten und organisierten linken Gruppierungen zum Erfolg der Befreiung von der Batista-Diktatur und zur nationalen Revolution geführt hat. Zum Abschluss des Gerichtsprozesses, der sich mit der Erstürmung der Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 befasste, hielt Fidel Castro seine berühmte Rede „ La historia me absolverá“ (die Geschichte wird mich freisprechen), in der er sich mehrfach ausdrücklich auf die kubanische demokratische Verfassung von 1940 bezog und als eines der fünf Gesetze der Revolution ihre Wieder-Inkraftsetzung nach dem Ende der Batista-Diktatur avisierte.[13]

VIII. Ausblick

Mit dem neuen Staatspräsidenten Miguel Díaz-Canel, Jahrgang 1960, gibt es in der Geschichte der kubanischen Revolution von 1959 erstmalig einen Nachgeborenen in der Staatsspitze, der sich nicht mehr auf die in der Revolution begründeten Autorität eines Fidél oder Raúl berufen kann. Die Bilanz der Reformanstrengungen des letzten Jahrzehnts, die Raúl auf dem März-Plenum des Zentralkomitees der Kubanischen KP gezogen hat, war ernüchternd. Bert Hoffmann referiert aus einem Bericht von Hernandez und Meneses in der Granma vom 5. April 2018: „Seit dem Jahr 2016 sei der Wandel kaum noch vorangekommen: Planungsfehler, mangelnde Investitionen sowie ungenügende Koordination mit den mittleren und unteren Ver­waltungseinheiten und Parteiorganisationen. Die ´Aktualisierung des Wirtschafts­modells´ habe sich als sehr komplex erwiesen. Mehr Kontrolle und Disziplin wird angemahnt, aber konkrete Schritte werden nicht benannt. Auch für die Währungs­reform werden weder Inhalt noch Termin genannt. In der Vergangenheit sei man, heißt es recht kryptisch, ´nicht immer mit ausreichend ganzheitlichem Blick´ an diese Fragen herangegangen, man habe ´eine begrenzte Sicht auf die Risiken ge­habt´ und ´Kosten und Nutzen unvollständig abgewogen´.“ [14]

Welche Entwicklung wird Kuba nehmen, welche Veränderungen wird es in den nächsten Jahren geben? Wird Miguel Díaz-Canel die Ankündigung von Raúl Castro, in kürzestmöglicher Zeit die beiden Währungen in einer zusammenzuführen, in die Tat umsetzen (können)? [15] Wird er als Spitze eines regierenden Kollektivs der unter Trump erneut verschärften US-Blockade und einer wachsenden sozialen Ungleichheit im Land erfolgreich begegnen können? Wird er zur Überwindung der cansancio historico, der historischen Ermüdung als Folge einer Politik nicht eingehaltener Versprechungen und geprägt von den permanenten Schwierigkeiten im Alltagsleben, die Leonardo Padura bei seinen Landsleuten vor Jahren schon diagnostiziert hat, beitragen können? [16]

Wir wissen es nicht, können es aber hoffen.

Jürgen Hahn-Schröder, Jg. 1952, Lehrer i.R., arbeitet ehrenamtlich in der GEW, ist Mitglied in der AGAL/ der AG der Auslandslehrer und –lehrerinnen in der GEW, ist im RundBrief-Team dieser AG sowie im Vorstand; hat neben etlichen eigenen Reisen 2010 und 2013 zwei Studienreisen im Rahmen von lea-Bildungswerk der GEW Hessen organisiert und pflegt Kontakte zu den kubanischen nationalen Bildungsgewerkschaften des Sindicato Nacional de Trabajadores de la Educación, la Ciencia y el Deporte (SNTECD).

Anmerkungen:

[1] Michael Zeuske, Kuba: neue Perspektiven? Essay vom 23. September 2016; in: http://www.bpb.de/apuz/234229/kuba-neue-perspektiven?p=all Siehe auch: Michael Zeuske und Rainer Schultz: Kubanische Revolution. In: HKWDM Bd. 8/I Argument-Verlag, Hamburg 2012, S. 243 – 264.

[2] Michael Zeuske, 2016, a.a.O., S. 2 (nachpaginiert jhs). Bert Hoffmann: Kuba nach Raúl: Der Reformdruck bleibt hoch. In: GIGA Focus, Lateinamerika, Nummer 2 vom April 2018.

[3] Whitefield, Mimi: Cubans don´t make much, but it´s more than state salaries indicate, in: Miami Herald, 12.6.2016, unter: www.miamiherald.com/news/nation world/world/americas / cuba/article89133407.html. Zit. nach: Andreas Knobloch: Kuba – sozialismus reloaded. Oder Rückkehr des Kapitalismus, Die wirtschaftliche Situation auf Kuba. Analysen der Rosa Luxemburg Stiftung 4,2017

[4] Fidel Castro, Felipe Pérez Roque, Heinz Dieterich: Kuba – nach Fidel. Kann die Revolution überleben? Berlin 2006, S. 25.

[5] Fidel Castro, a.a.O., S. 95.

[6] Evita Schmieg: Kuba „aktualisiert“ sein Wirtschaftsmodell. SWP-Studie. Februar 2017, S. 8.

[7] Padura Fuente, Leonardo: Eppur si muove en Cuba. In: Nueva Sociedad Nr. 242, Nov./Dez. 2012, S. 30. [Übersetzung JHS]. Auf Deutsch findet man hier mehr zum Autor Leonardo Padura Fuente: http://www.unionsverlag.com/info/person.asp?pers_id=1715

[8] Dass der unter Raúl Castro geförderte Wirtschaftspragmatismus im Falle des Tourismus im Luxushotelsegment mit Ausstrahlung auf die nächste Umgebung, in der Menschen schlecht, bescheiden, oft auf engstem Raum leben, die Entwicklung des sozialistischen Wirtschaftsmodells belastet, liegt auf der Hand. Vergleichbares gilt für den „Freihafen“ und die „Sonderwirtschaftszone“ Mariel hinsichtlich der allgemeinen Beschäftigungsverhältnisse und Arbeitsbedingungen der Kubanerinnen und Kubaner. (Vgl. Knobloch, a.a.O., S. 14). In einem solchen Zusammenhang müssten auch die Abbaubedingungen von Nickel im Osten Kubas und der Einsatz von Gentechnik in der Landwirtschaft debattiert werden.

[9] Die Deviseneinnahmen in diesem Bereich sind höher als diejenigen im Tourismussektor und auch höher als die Überweisungen der Exilkubaner, der remesas. Vgl. Knobloch, 2017, S. 11.

[10] Siehe: Operation Miracle; also Acción Milagro) is a program of international solidarity launched in 2004 by the governments of Cuba and Venezuela to provide free medical treatment for people with eye problems in the two countries and 34 others in the Global South. It is integrated into the programs of the ALBA. While in the initial stage of the program patients were transported to Cuba to be attended there, now there are 49 ophthalmological centers in 13 Latin American and Caribbean countries carrying out vision-saving and restoring surgery. The Cuban government has also sent physicians to Pakistan, Indonesia and Angola. In its first ten years, the program has benefitted more than three million people. (https://en.wikipedia.org/wiki/Operaci%C3%B3n_Milagro„Operación Milagro”).

[11] Sabine Kebir: Clara Zetkin, Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci – Von der russischen Oktoberrevolution über die deutsche Novemberrevolution zur italienischen Konterrevolution. In: https://weltnetz.tv/story/1375-1917-1924-krieg-revolution-und-konterrevolution, 2017, Seite 1.

[12] Mendez Paz, Yasvily: Prostitución en Cuba: reglementar o prohibir? In: Temas, Heft 83. Juli/September 2015, S. 111ff. Vergleiche auch Amir Valle, Bogota 2006.

[13] Aviva Chomsky: Eine Geschichte der kubanischen Revolution. Von der Conquista ins 21. Jahrhundert. Münster 2016, S. 53.

[14] Bert Hoffmann, 2018, a.a.O., S. 5f. Hoffmann bezieht sich hier auf: Martínez Hernández, Leticia und Yaima Puig Meneses: Analizó V Pleno del Comité Central del Partido importantes temas de la actualización del modelo económico y social, in: Granma, 26. März, www.granma.cu/cuba/2018-03-31/ analizo-v-pleno-del-comite-central-del-partido-importantes-temas-de-la-actua lizacion-del-modelo-economico-y-social-cubano-26-03-2018-22-03-07.

[15] „Schon vor Jahren wurde ein Gesetzesde­kret verabschiedet, das die Modalitäten für den „Tag X“ der Währungsumstellung festlegt. Nur ist der „Tag X“ immer wieder vertagt worden. Pilotprojekte wurden gestartet und vorbereitende Schritte unternommen. “ Siehe Hoffmann, 2018, S. 5.

[16] Padura in einem Exklusiv-Interview mit dem online-Magazin Quetzal 2008 auf die Frage, welche Veränderungen in Kuba zukünftig notwendig seien: „Viele. Raúl Castro hat die Notwendigkeit von strukturellen und von der Allgemeinheit anerkannten Veränderungen, d.h. tiefgreifenden Veränderungen, in Kuba angekündigt. Und diese Veränderungen beziehen sich vor allem auf die Wirtschaft. Die kubanische Wirtschaft hat bisher nicht funktioniert. Die Landwirtschaft war ein Desaster. Die Industrie funktioniert schlecht. Die Bedürfnisse der Menschen können nicht gedeckt werden. Und: Es fehlt eine große strukturelle, auf einer Übereinkunft basierende Veränderung in der kubanischen Wirtschaft.“

In: http://www.quetzal-leipzig.de/lateinamerika/kuba/interview-mit-leonardo-padura-19093.html