Streik für die 35-Stunden-Woche vor 30 Jahren
Daniel Behruzi. Lunapark21 – Heft 27
Es war einer der härtesten und langwierigsten Arbeitskämpfe der bundesdeutschen Geschichte: der Streik für die 35-Stunden-Woche in der westdeutschen Metall- und Druckindustrie. Vor 30 Jahren erreichten die Gewerkschaften IG Metall und IG Druck und Papier nach wochenlangen Arbeitsniederlegungen und in einer von heftigen Anfeindungen geprägten Stimmung den Einstieg in die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden. Seither gibt es in dieser Frage allerdings kaum noch Bewegung.
Die Auseinandersetzung um eine Verkürzung der Arbeitszeiten hatte von Anfang an einen politischen Charakter. Es ging um die Verfügungsgewalt der Unternehmer über die Arbeits- und damit Lebenszeit der Beschäftigten. „Mehr Zeit zum leben, lieben, lachen“, drückte das eine Parole aus, die IG-Metall-Frauen prägten. Und es ging um die Bekämpfung der Massenerwerbslosigkeit. Denn ab Ende der 1960er Jahre hatte sich der Rationalisierungsprozess in der Industrie enorm beschleunigt. Zum Beispiel in den Druckereien gingen durch die Einführung computergesteuerter Systeme zehntausende Arbeitsplätze verloren. Während 1973 noch mehr als 203000 Menschen in der Branche beschäftigt waren, waren es elf Jahre später nur noch 165000. Zugleich erhöhte sich die Produktivität drastisch: 1972 waren für einen Umsatz von 1000 D-Mark noch durchschnittlich 29 Arbeitsstunden nötig, acht Jahre später nur noch knapp zwölf Stunden.
Die Antwort fortschrittlicher Gewerkschafter darauf war die Forderung nach Umverteilung der vorhandenen Arbeit auf mehr Schultern. Innerhalb des DGB war diese Forderung indes hart umkämpft. Lediglich die IG Metall, die IG Druck und Papier, die Gewerkschaft Holz und Kunststoff, die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen sowie die Deutsche Postgewerkschaft (DPG) schrieben sich die Forderung nach einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit bei vollem Lohnausgleich auf die Fahnen.
Konservative Hetzkampagne
In den Kampf traten 1984 schließlich die IG Metall und die IG Druck und Papier. Letztere galt schon länger als „die aufmüpfigste unter den DGB-Gewerkschaften“ (taz). Bei Urabstimmungen sprachen sich die Mitglieder beider Organisationen im Frühjahr 1984 mit jeweils über 80 Prozent für einen unbefristeten Arbeitskampf aus. Die Reaktion der Konzerne und der politischen Rechten war eine bis dato ungekannte Hetzkampagne. Die 35-Stunden-Woche sei „absurd, dumm und töricht“, schimpfte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) im November 1983 auf einer Tagung der Jungen Union. Der Chef des Unternehmerverbands Gesamtmetall, Dieter Kirchner, erklärte: „Lieber eine Woche Arbeitskampf als eine Minute Arbeitszeitverkürzung.“
Doch bei einer Woche Streik sollte es längst nicht bleiben. In der Metallindustrie dauerte der Ausstand in den Tarifgebieten Nordwürttemberg/Nordbaden und Hessen sieben, in der Druckbranche gar zwölf Wochen. Bei der IG Metall beteiligten sich 57500 Beschäftigte an Arbeitsniederlegungen. 155000 Arbeiter wurden zum Teil mehrere Wochen lang von den Unternehmern ausgesperrt. In den Druckereien streikten insgesamt 46000 Arbeiter und Angestellte. Hier setzten die Unternehmen zwar nicht auf Aussperrungen, führten den Kampf aber dennoch mit extrem harten Bandagen.
Die konservativen Medien hetzten in einem fort gegen die Streikenden. Deren „Gewaltmaßnahmen“ seien ein Anschlag auf die unabhängige Presse, schrieb beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Doch gewalttätig wurden eher die Gewerkschaftsgegner. So zum Beispiel bei der Offenbach Post, wo ein aufgeputschter Streikbrecher mit Vollgas in eine Gruppe Streikposten raste und etliche verletzte. Angeheizt wurde die Stimmung durch spektakuläre Aktionen wie die „vertikale Auslieferung“ von Notausgaben der FAZ per Hubschrauber vom Hof der Druckerei – trotz fehlender Genehmigung. Eine ähnliche PR-Aktion wiederholte übrigens der Autozulieferer Federal Mogul 19 Jahre später, als er Streikbrecher per Hubschrauber in sein Dresdner Werk einfliegen ließ.
Drucker lehnen „Leber-Käse“ ab
1984 erreichte die Metallergewerkschaft hingegen einen vom Ex-Verteidigungsminister Georg Leber (SPD) vermittelten Kompromiss. Demnach wurde die Wochenarbeitszeit von 40 auf 38,5 Stunden reduziert – allerdings nur im betrieblichen Durchschnitt, nicht für jeden einzelnen Beschäftigten. Das war zwar ein Erfolg, kann im Nachhinein aber auch als erster Schritt zur weitreichenden Flexibilisierung der Arbeitszeiten angesehen werden, wie sie heute in der Industrie besteht.
Die kleine IG Druck und Papier zeigte sich konsequenter. Ihre Aktivisten lehnten den IG-Metall-Kompromiss als „Leber-Käse“ ab und setzten den Streik zwei weitere Wochen lang fort. Ermöglicht wurde das auch durch die Solidarität von Beschäftigten anderer Branchen. So erhielten die Drucker zwölf Millionen D-Mark an Unterstützung aus dem DGB-Solidaritätsfonds. Am 6. Juli erreichten auch sie schließlich eine Arbeitszeitverkürzung auf 38,5 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich. Im Unterschied zur IG Metall sollte diese aber für alle Beschäftigten gelten.
Der Einstieg in eine weitergehende Verkürzung der Arbeitszeiten war damit geschafft. Es dauerte allerdings noch bis 1995, bis die 35-Stunden-Woche in der westdeutschen Metall- und Druckindustrie tatsächlich erreicht wurde. „Der harte Arbeitskampf von 1984 trug maßgeblich dazu bei, dass die weiteren Verkürzungsschritte ohne Streiks durchgesetzt werden konnten“, bilanziert Reinhard Bispinck vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung im Rückblick.
Verkürzung kaum noch Thema
Seither ist in Sachen Arbeitszeitverkürzung allerdings nicht mehr viel geschehen. Der Versuch der IG Metall, die 35-Stunden-Woche auch im Osten der Republik durchzusetzen, scheiterte 2003 an schlechter Vorbereitung, der eigenen Halbherzigkeit sowie der Sabotage durch die Betriebsratsfürsten westdeutscher Großkonzerne. Lediglich in der ostdeutschen Stahlindustrie konnte eine Verkürzung erreicht werden.
In anderen Branchen ist es nie so weit gekommen. Heute ist die 35-Stunden-Woche in Westdeutschland lediglich in den Tarifverträgen der Druck- und Metallindustrie, der Stahlbranche sowie der papierverarbeitenden Industrie und im Bereich Holz und Kunststoff festgeschrieben. In anderen Branchen, zum Beispiel im Baugewerbe, arbeiten tarifgebundene Beschäftigte bis zu 40 Stunden in der Woche.
Hinzu kommt, dass zwischen tariflichen und tatsächlichen Arbeitszeiten eine wachsende Lücke klafft. So liegt die effektive Wochenarbeitszeit in der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie nach Unternehmerangaben inzwischen wieder bei 37,9 Stunden. Jeder sechste abhängig Beschäftigte macht gar Überstunden ohne jeglichen Ausgleich, wie selbst das neoliberale Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in einer aktuellen Studie berichtet.
Ambitionierte Ansätze finden sich in der gewerkschaftlichen Arbeitszeitpolitik derzeit nur wenige (siehe den folgenden Artikel von Heinz-J. Bontrup). Zwar will die IG Metall in der kommenden Tarifrunde die Forderung nach „mehr selbstbestimmten Arbeitszeiten“ auf die Agenda setzen. Von einer kollektiven Verkürzung ist aber keine Rede. Dabei wäre das nicht nur zur Bekämpfung der Erwerbslosigkeit, sondern auch wegen des extrem gestiegenen Leistungsdrucks in den Betrieben dringend geboten.
Einzig die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) fordert in der aktuellen Tarifauseinandersetzung mit der Deutschen Bahn AG eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich um zwei Stunden pro Woche. 2005 hatten die Bahngewerkschaften eine unbezahlte Verlängerung der Wochenarbeitszeiten im DB-Konzern von 38 auf 39 Stunden akzeptiert. „Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten in Schicht- und Wechselschicht, mit sehr belastenden Tätigkeiten – da sind 37 Stunden genug“, begründete eine GDL-Sprecherin die nun erhobene Verkürzungsforderung. Es ist an der Zeit, dass auch andere Gewerkschaften das Thema wieder auf die Tagesordnung setzen.
Daniel Behruzi arbeitet als freier Journalist in Frankfurt am Main. Zuletzt erschienen: „Erfolg unter schwierigen Bedingungen“. In: Anton Kobel (Hrsg.): „Wir sind stolz auf unsere Kraft“ Der lange und phantasievolle Kampf um die Tarifverträge 2013 im Einzelhandel, VSA 2014 (Vorabdruck in Lunapark21, Heft 26).