Verletzungen sind schmerzhaft. Die, die man erleidet, aber auch häufig die, die man verursacht. Die Verletzung kann physischer Art sein als Verwundung, seelisch als Verletzung von Gefühlen. Menschen können verletzt werden. Im weiteren Sprachgebrauch können auch Normen verletzt werden. Sachen hingegen werden beschädigt oder zerstört.
Die Bezeichnung des militärischen Angriffs eines Staates auf den anderen als „Grenzverletzung“ sollte bereits in den sogenannten Befreiungskriegen gegen Napoleon und das revolutionäre Frankreich die Einwohner verführen, den eigenen Staat und die Nation zu verteidigen. Das stärkste und menschlichste Gefühl, das Einfühlen in die Leiden eines anderen, sollte auf den Staat übertragen werden. Dessen Grenze ist aber gar nicht so beschaffen wie die Haut eines Lebewesens, die verletzt werden könnte. Ein Staat empfindet keinen Schmerz, hat kein eigenes Leben und Gefühle wie ein Lebewesen, und wenn diese gesellschaftliche Organisationsform sich auflöst, stirbt da nichts, sondern es gibt nur eine andere gesellschaftliche Organisationsform, die einen (anderen) Teil der Erdoberfläche auf andere Weise für sich beansprucht.
Das Wort „Grenzverletzung“ sollte also eine Gefühlsverschiebung bewirken zu dem schlechten Zweck, einen Krieg mit „mehr Gefühl“ zu führen. Das so drastische Einfühlen in die Leiden von anderen, die Empathie, sollte sich nicht auf Lebewesen beziehen, sondern auf den „Staatskörper“, die „Nation“, die „natürlichen Grenzen“. Einer Organisationsform, die durch bewusst abgestimmte soziale Handlungen funktioniert, werden mit dem Ausdruck „Verletzung“ die gleichen Attribute zugeschrieben wie einem Lebewesen, das sich aus sich selbst heraus entwickelt, wächst, leidet und stirbt.
Dieser Gefühlsmissbrauch konnte vielleicht noch als zielgenau wahrgenommen werden, wenn es um Krieg geht, das heißt das staatlich organisierte Durchbrechen einer Grenze in einer militärischen Aktion mit dem Ziel der Eroberung, Wegnahme, Zerstörung des anderen Staatsgebietes.
Die Bezeichnung „Grenzverletzung durch Flüchtlinge“, durch Einzelpersonen mit einer anderen als kriegerischen Absicht, ist dann zu einer nochmals verdoppelten Irreführung geworden.
Was nicht als Staatsaktion stattfindet, nicht als gegen den anderen Staat gerichteter Akt von allen Beteiligten verstanden wird, nämlich die Bewegung von Menschen auf das Gebiet eines Staates mit der Absicht, dort zu bleiben oder mindestens den bisherigen unerträglichen Lebensverhältnissen zu entkommen, wird plötzlich als eine ebensolche Verletzung des fiktiven Staatskörpers verstanden – und mit militärischen Mitteln bekämpft, die nur beim staatlich organisierten Angriff vielleicht angemessen wären. In kriegsähnlicher Weise werden die Grenzen immer mehr erhöht, Zäune aus NATO-Draht meterhoch aufgetürmt nur zu dem Zweck, einzelne Menschen daran zu hindern, von einem Fleck der Erde auf einen anderen zu gelangen.
Jene „Grenzverletzung“, die die Sowjetunion und die DDR sehen wollten, wenn die Einwohner ihren Staat ohne Genehmigung verließen, hat die Verwirrung der Begriffe befördert. Das „widerrechtliche Passieren der Staatsgrenze“, zu welchem Zweck und in welcher Absicht auch immer, wurde in § 17 des Gesetzes über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik (Grenzgesetz) vom 25. März 1982 als eine unter vielen möglichen Grenzverletzungen gefasst und die Aktion der eigenen Bürger in einen Aggressionsakt gegen den „antifaschistischen Schutzwall“ von der Innenseite her umgedeutet, der durch Beschießen verhindert werden durfte.
Die unheilvolle Wendung gegen die eigenen Bürger und die darin liegende Staatsvergottung machen es schwieriger, die Aufführung des Gespenstes „Grenzverletzung durch Flüchtlinge“ zu bekämpfen.
Nennen wir Grenzverletzungen also fortan diejenigen Verletzungen, die Menschen erleiden, die Grenzen zu überwinden versuchen, die dort nicht sein sollten und aus niederen Beweggründen von Staaten errichtet worden sind.
Grenzen können nicht verletzt werden, nur Lebewesen.
Jürgen Bönig schreibt fortan Geisterbahn.
Geisterbahnfahrer sind froh, wenn das Fahrzeug vor dem Schreckgespenst abbiegt, auch wenn es jedes Mal die falsche Richtung ist.