Es war einmal ein Oberpriester neoliberaler Wirtschaftswissenschaft, dem zahlreiche Jünger in Politik, Journalismus und Wissenschaft huldigten. Es war die glorreiche Hoch-Zeit des Neoliberalismus, als besagter Hans-Werner Sinn seine Anhänger mit deftiger Dresche für die Gewerkschaften in Ekstase versetzte. In einem Interview mit Focus Money sagte er im Juli 2004: „Die Gewerkschaften sind ein Kartell derjenigen, die Arbeit haben. Und wie jedes Kartell dient es dazu, überhöhte Preise durchzusetzen. Würden sich die Löhne frei nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage bilden, gäbe es keine Arbeitslosigkeit.“

Hier kehrt eine neoliberale Argumentation wieder, die sich auch in anderen Zusammenhängen findet: Märkte seien effizient, deshalb sollten sich Preise frei bilden. Tun sie dies, so stelle sich ein „Gleichgewichtspreis“ ein, der „den Markt räumt“: Jede Nachfrage finde dann ihr Angebot und jedes Angebot seine Nachfrage. Dies gelte auch für den Arbeitsmarkt, wo Löhne Preise für „Arbeit“ (für Arbeitskraft) seien. Werden diese Preise politisch „überhöht“, so ergebe sich ein größeres Angebot an Arbeit, während die Nachfrage zurückgehe. Es entstehe Arbeitslosigkeit, weil ein Teil der Beschäftigten zu den überhöhten Löhnen keine Beschäftigung finde. Und genau dies sei die Schuld der Gewerkschaften: Sie erzwängen mit Streiks und Tarifverträgen ein höheres Lohnniveau, als sich „am Markt“ sonst bilden würde.

Das Problem an diesem Argument: Arbeitskraft ist keine Ware wie jede andere. Und folglich funktioniert auch der Arbeitsmarkt nicht so, wie sich die Neoliberalen das vorstellen. Dafür gibt es mindestens drei Gründe: Erstens sind diejenigen, die die „Ware“ Arbeitskraft verkaufen (müssen), existentiell darauf angewiesen, von diesem Verkauf leben zu können. Wenn sie durch Erwerbstätigkeit nicht genug Geld einnehmen, dann werden sie sich einen zweiten Job suchen. Oder einen dritten. Oder sie weiten ihre Arbeitszeit aus. Ein (zu) niedriger „Preis“ (Lohn) führt folglich nicht zu einem kleineren, sondern zu einem größeren Angebot an Arbeitskraft. Das unterscheidet die „Ware“ Arbeitskraft von anderen Waren: Das Angebot an Kartoffeln und Haarschnitten geht zurück, wenn der Preis dafür sinkt – das Angebot an Arbeitskraft aber nimmt zu. (Ökonomen nennen so etwas ein „inverses Angebotsverhalten“.) Es kommt damit zu einem Teufelskreis: Ei n größeres Angebot an Arbeitskraft senkt die Löhne, was zu einem noch größeren Angebot an Arbeitskraft führt, was die Löhne noch mehr senkt. Diese Spirale nach unten lässt sich nur stoppen, wenn Entgelte einheitlich festgelegt werden. Das leisten in erster Linie Gewerkschaften und Tarifverträge.

Hinzu kommt zweitens: Nur wenn innerhalb einer Branche alle Unternehmen die gleichen Löhne bezahlen, konzentriert sich der Wettbewerb zwischen ihnen auf die Qualität der Produkte und die Effizienz der Produktion. Und nur ein solcher Wettbewerb steigert den Wohlstand, denn nur er macht Produkte wirklich billiger oder besser. Wird ein Produkt hingegen nur billiger, weil das betreffende Unternehmen seine Beschäftigte schlechter bezahlt und der Wettbewerb sich über Lohndrückerei vollzieht, so stellt dies gesamtgesellschaftlich keinen Gewinn an Wohlstand dar.

Der dritte Grund dafür, dass der Arbeitsmarkt ein besonderer Markt und Gewerkschaften keine schädlichen Kartelle sind, ist folgender: Löhne sind nicht nur Kosten, die die Nachfrage der Unternehmen senken, sondern sie sind immer zugleich Einkommen, die indirekt die Nachfrage der Unternehmen erhöhen. Das tun sie, weil die Beschäftigten einen Großteil ihrer Einkommen wieder ausgeben. Sie kaufen Produkte, die die Unternehmen produzieren. Und sie kaufen mehr Produkte, wenn die Löhne steigen. Wenn die Unternehmen auf diese Weise aber ihre Absätze und Umsätze steigern können, so werden sie entsprechend Menschen einstellen.

Kurzum: Eine Volkswirtschaft ist ein Kreislauf. Was A ausgibt, nimmt B ein. Wer die richtigen politischen Schlussfolgerungen ziehen möchte, muss alle Dimensionen dieses Kreislaufs berücksichtigen – anstatt eindimensional und neoliberal ein Zerrbild von Löhnen, Tarifverträgen und Gewerkschaften zu zeichnen.

Kai Eicker-Wolf ist Ökonom und arbeitet als Gewerkschafter in Frankfurt/Main. | Patrick Schreiner arbeitet als Gewerkschafter in Berlin und betreibt den Blog www.blickpunkt-wiso.de.