Georg Fülberth in Lunapark21 – Heft 30
Streiks bei Amazon, bei der Bahn, der Post, in den Kindertagesstätten und bei den kommunalen sozialen Diensten: erleben wir einen Frühling der deutschen Gewerkschaften?
Eine besondere Bedeutung hat die Auseinandersetzung zwischen GEW sowie ver.di einerseits und den kommunalen Arbeitgebern um die Arbeits- und Entgeltbedingungen in den Kindertagesstätten und bei den kommunalen Sozialdiensten andererseits. Hier geht es nicht in erster Linie um Lohn- und Gehaltserhöhung, sondern um eine höhere Einstufung der Arbeit, die dort geleistet wird (wenngleich in deren Folge auch die Einkommen der dort Beschäftigten steigen müssen). Damit rückt der Reproduktionssektor in das Zentrum eines Tarifkampfs. Da werden keine Güter und wird kein Mehrwert erzeugt, aber es wird an den Voraussetzungen und am Ziel allen Wirtschaftens gearbeitet: an lebenden Menschen, ohne die keine Produktion möglich und sinnvoll ist.
Alarmmeldungen aus der Welt des Kapitals könnten den gewerkschaftlichen Forderungen zumindest für die Kitas zuarbeiten. Laut einer Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO und des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI) hat Deutschland nunmehr die niedrigste Geburtenrate der Welt. Da könnte es – will man nicht endlich eine vernünftige Einwanderungspolitik zulassen – Ärger mit der Zufuhr von Arbeitskräften geben. Das Handelsblatt kommentiert, durch den Kita-Streik werde die Industrie 4.0 „geerdet“, und wir stoßen tatsächlich auf folgende Merkwürdigkeit in der industriellen Entwicklung: Waren und Dienstleistungen können maschinell erzeugt werden, die Herstellung von Kindern ist davon aber nur sehr am Rande erfasst. Die Produktivität der in vitro-Fertilisation ist nur gering und wird der Nachfrage nicht gerecht. Und die Heranbildung von künftigen Arbeitskräften im Vorschulalter ist mit Maschineneinsatz schon gar nicht zu bewältigen.
Insofern sind die Arbeitskämpfe in den Kitas Angriffsstreiks: Hier werden nicht Attacken der Unternehmer abgewehrt, sondern die abhängig Beschäftigten kämpfen darum, dass ihre Tätigkeit neu, nämlich höher bewertet wird. Die kommunalen Sozialarbeiter(innen) haben es da schon schwerer. Ihnen ergebt es ähnlich wie den Beschäftigten in der Altenpflege: Wer nur an Produktion interessiert ist, erkennt ihnen keine Funktion in einer Angebots-Ökonomie zu und murmelt allenfalls etwas von Humanität oder – keynesianisch – von volkswirtschaftlich nützlicher Nachfrage, die hier ja ebenfalls entstehe.
Bei Amazon, Bahn und Post handelt es sich, anders als in den Kindertagesstätten, eher um Abwehrstreiks, im ersten Fall um eine Mischform: das weltweit agierende Versand-Unternehmen hält im Grunde überhaupt nichts von Tarifverträgen, und falls diese nicht völlig zu vermeiden sind, sollen es die schlechtest möglichen sein. Weil ver.di dies ändern will, führt diese Gewerkschaft dort Angriffsstreiks. Denkbar ist, dass es sich dabei nur um eine Zwischenphase handelt, wenn es Amazon nämlich gelingt, Arbeitsvorgänge weiter zu automatisieren.
Bei der Post findet ein Abwehrstreik gegen Lohnsenkungen durch Gründung von Teilfirmen mit schlechterer Bezahlung statt. Die Gewerkschaft Deutscher Lokführer ist offensiv durch den Versuch, die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten und deren Bezahlung zu verbessern, könnte aber in die Defensive geraten, falls das so genannte Tarifeinheitsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hätte.
Alle die hier beschriebenen Auseinandersetzungen finden im Dienstleistungsbereich statt. Still ruht der See dagegen in der Güterproduktion. Die IG Bergbau, Chemie, Energie und die IG Metall haben Abschlüsse erzielt, die ihre Mitglieder wohl mehrheitlich zufriedenstellen, aber den Verteilungsspielraum nicht ausschöpfen. Im Interesse des Exports sind sie gemeinsam mit ihren Arbeitgebern gegen die Einführung einer Vermögenssteuer und gegen höhere Spitzensteuer der Einkommensteuer, aus denen die notwendigen Verbesserungen im Öffentlichen Dienst bezahlt werden könnten. Sie machen Front gegen ver.di.
Setzt sich diese Spaltungstendenz fort, dann könnte aus dem scheinbaren Frühling rasch ein Herbst werden, auf den ein bitterer Winter folgt.
Georg Fülberth lebt in Marburg an der Lahn. Er war an der dortigen Universität Professor für Politikwissenschaften. Sein „Seziertisch“ erscheint in Lunapark21 seit der ersten Ausgabe Anfang 2008.