Faschismus in unserer Zeit

Harold James

PRINCETON, Oktober 2024 – Keiner weiß, wie die US-Präsidentschaftswahlen ausgehen werden. Eine Möglichkeit ist, dass die Trump-Blase endlich platzt und eine Rückkehr zur Normalität in Amerika und der ganzen Welt ermöglicht. Es ist aber auch möglich, dass die USA auf einen radikalen militarisierten Autoritarismus zusteuern, der eine neue Norm für Despoten in anderen Ländern schaffen würde.

Politikwissenschaftler sind nicht die einzigen, die hier beunruhigende historische Anklänge sehen. Laut Donald Trumps am längsten in dieser Funktion dienendem Stabschef, General John Kelly, entspricht der ehemalige Präsident »der Definition eines Faschisten«, womit er »eine rechtsextreme autoritäre, ultranationalistische politische Ideologie und Bewegung« meint, »die durch einen diktatorischen Führer, zentralisierte Autokratie, Militarismus, gewaltsame Unterdrückung der Opposition und den Glauben an eine natürliche soziale Hierarchie gekennzeichnet ist«.

Der moderne Faschismus US-amerikanischer Prägung hat offensichtliche Wurzeln in der Vergangenheit. In seinem 2004 erschienenen Roman Verschwörung gegen Amerika griff Philip Roth auf reale historische Figuren und Ereignisse zurück, um sein kontrafaktisches Szenario darzustellen, in dem Charles Lindbergh mit einem radikal isolationistischen, antisemitischen „America First“-Programm zum Präsidenten gewählt wird. Und einige Analysten und Historiker blicken sogar noch weiter zurück, nicht nur in die 1930er Jahre, sondern ein Jahrhundert früher, zu der populistischen Rhetorik und dem promiskuitiven Rassismus von Präsident Andrew Jackson.

In jedem Fall werfen Episoden des demokratischen Zusammenbruchs immer die gleiche bange Frage auf: Hat ein bestimmtes Merkmal der Kultur das politische System allmählich ausgehöhlt, oder haben wir es mit einer tieferen, angeborenen menschlichen Tendenz zu tun, die nur durch geeignete institutionelle Vorkehrungen (so wie die, die von Alexander Hamilton, John Jay und James Madison in den Federalist Papers so brillant dargelegt wurden) in Schach gehalten werden kann?

Das Paradebeispiel für einen Abstieg in die Barbarei ist natürlich das Deutschland der Zwischenkriegszeit. Um das Abgleiten des Landes in politische Gewalt, Faschismus, Militarismus und schließlich Völkermord zu erklären, verweisen einige Analysten auf inhärente deutsche kulturelle Neigungen – von Martin Luthers heftigem Antisemitismus bis hin zum Rückzug der deutschen Liberalen im 19. Jahrhundert angesichts der rohen politischen Macht und Bismarcks »Blut und Eisen«.

Wie der diesjährige US-Wahlkampf fielen auch die deutschen Wahlen der 1930er Jahre sehr knapp aus. In jedem Fall gewannen Adolf Hitler und seine Partei einen deutlich geringeren Stimmenanteil, als Trump im November erhalten dürfte. Nachdem die Nazipartei bei den Wahlen im Juli 1932 einen Anteil von 37 Prozent erreicht hatte, rutschte sie bei den Wahlen im November 1932 auf 33 Prozent ab. Selbst bei den unfreien Wahlen im März 1933 – als die Wähler massiv unter Druck gesetzt und die Kommunistische Partei am Tag darauf verboten wurde – lag der Stimmenanteil der Nazis unter 44 Prozent. Hitler selbst erhielt in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 1932 nur 30 Prozent der Stimmen, in der zweiten Runde 37 Prozent.

Hitler wurde also nicht durch eine enorme Welle der Unterstützung an die Macht gespült. Vielmehr verdankte er seinen politischen Aufstieg der Reaktion der traditionellen Institutionen: der Armee, der Bürokratie, der Polizei und vor allem der Wirtschaft.

Wie die amerikanischen Unternehmen heute waren auch die deutschen Industriekapitäne gespalten. Viele waren den Nazis gegenüber misstrauisch, aber auch sie erkannten die Radikalität von Hitlers Agenda nicht vollständig. Georg Solmssen, der Vorstandsvorsitzende der größten deutschen Bank (Deutsche Bank), war zwar protestantisch getauft worden, aber sein Großvater war Rabbiner gewesen, und sein Vater war Banker, der in die Finanzwelt ging, weil Juden vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen waren. Dieser ruhige, intelligente Mann sah die Nazis vor allem wegen der sozialistischen und populistischen Elemente ihres Programms als Bedrohung an; ihr fanatischer Antisemitismus war seiner Meinung nach nur ein taktischer Wahltrick.

Solmssen begriff erst im April 1933, als es bereits zu spät war, worum es bei den Nazis ging. Damit war er nicht allein. Vielen anständigen Menschen fehlte die Vorstellungskraft, um das Ausmaß der Gewalt zu begreifen, die Hitler bald entfesseln würde. Im deutschen Establishment ging man davon aus, dass der Demagoge gezähmt werden könne. Doch diese gefährliche Ansicht beruhte auf einer Illusion.

Schließlich hatte sich der allgemeine politische Kontext grundlegend geändert. Das nach dem Ersten Weltkrieg auf der Versailler Friedenskonferenz von 1919 geschaffene Reparationssystem hatte Deutschland stark eingeschränkt und seinen Handlungsspielraum begrenzt, doch 1933 war das internationale System bereits zusammengebrochen. Zwei Jahre zuvor hatte die japanische Armee einen Grenzzwischenfall in der Mandschurei provoziert und war dann über die Grenze geströmt, wobei sie den Völkerbund und sein Verbot von Angriffskriegen ignoriert hatte. Zudem gab es angesichts der unter der Weltwirtschaftskrise leidenden globalen Ökonomie wenig Anreize, weiterhin nach den Regeln des alten Wirtschaftssystems zu spielen. Nationalismus und Autarkie wurden daher als kostengünstige Strategien zur Anhebung des deutschen Lebensstandards immer attraktiver.

Auch hier gibt es bedrohliche Parallelen zur gegenwärtigen Situation. Die meisten, wenn nicht sogar alle internationalen Institutionen zeigen Alterserscheinungen, und das System der Vereinten Nationen ist durch die Uneinigkeit über Russlands Krieg gegen die Ukraine und Israels militärisches Vorgehen gegen Hamas, Hisbollah und womöglich bald den Iran gelähmt.

Allerdings ist die Weltwirtschaft anders als in den frühen 1930er Jahren immer noch sehr stark vernetzt und durch wechselseitige Abhängigkeiten geprägt. Daher wäre jeder Schritt hin zu einer echten Autarkie nicht schmerzlos. Im Gegenteil, die Kosten wären für die Amerikaner und den Rest der Welt, und vor allem für die Finanzmärkte, unübersehbar.

Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass prominente Finanzleute wie Larry Fink von BlackRock behaupten, die US-Wahl sei für die Märkte »wirklich unwichtig«. Warum melden sich führende Persönlichkeiten wie Warren Buffett nicht zu Wort? Sie scheinen das Verhalten der deutschen Wirtschaftsführer vor Januar 1933 zu wiederholen.

Gerade weil internationale Wirtschaftsbeziehungen nationale politische Maßnahmen einschränken können, besteht die Gefahr, dass ein Abreißen dieser Verbindungen einen großen finanziellen Schock auslöst. Je nachdem, wie diese Wahl ausgeht, könnte bald eine Zeit kommen, in der die Amerikaner (und alle anderen) sehr dankbar für die mit einer globalisierten Wirtschaft einhergehenden Zwänge sein werden. Nur wenige Ereignisse sind ernüchternder – und für die Verfechter einer schlechten Politik diskreditierender – als ein finanzieller Zusammenbruch, der die Existenzgrundlage der Wähler zerstört und ihren Lebensstandard senkt.

Harold James ist Professor für Geschichte und internationale Angelegenheiten an der Universität Princeton und der Verfasser zahlreicher Bücher, darunter zuletzt Seven 
Crashes: The Economic Crises That Shaped Globalization (Yale University Press, 2023).

Aus dem Englischen von Jan Doolan.

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