Erfahrung ist alles

Über den langen Atem der Gelbwesten-Bewegung in Frankreich

Seit November 2018 gibt es in Frankreich die Bewegung der gilets jaunes – der Gelbwesten. Seit Dezember 2019 steht in diesem Nachbarland eine breite, so gut wie die gesamte arbeitende Bevölkerung umfassende Bewegung gegen eine „Reform“ des Rentensystems, die vor allem eine Konterreform, ein Zurückdrehen sozialer Errungenschaften, ist. Von Anfang an standen die Gelbwesten an der Seite derjenigen, die gegen die Rentenreform kämpften – mit Streiks und phantasievollen Aktionen – und immer begleitet von einer Polizeigewalt, die man oft als staatlichen Terror bezeichnen muss. Von all dem ist in den deutschen Mainstream-Medien so gut wie nichts (mehr) zu lesen. Dafür in dieser Reportage von Luisa Michael, verfasst für LP21.

Knapp ein Jahr vor Beginn des gelben Aufstands hatte das „unsichtbare Komitee“ geschrieben: „Alle Gründe, eine Revolution zu machen, sind gegeben. Das Scheitern der Politik, die Arroganz der Mächtigen, die Herrschaft des Falschen, die Vulgarität der Reichen, die Industriekatastrophen, das galoppierende Elend, die nackte Ausbeutung, der ökologische Untergang – von nichts werden wir verschont, nicht einmal davon informiert zu sein. […] Alle Gründe sind gegeben, aber nicht die Gründe machen eine Revolution, sondern die Körper. Und die Körper sitzen vor den Bildschirmen.“1

„Die Körper“ sind aufgestanden, sind auf die Straße gegangen und machen gemeinsam Erfahrungen – so die der horrenden Gewalt, mit der „ihre“ Polizei, „ihre“ Republik gegen sie vorgeht, nur weil sie demonstrieren, unabhängig davon, ob eine Demo angemeldet ist oder nicht, ob Fensterscheiben eingeschmissen, Autos abgefackelt werden oder nicht. Egal, ob sie alt oder jung sind, ob Rollstuhlfahrerin oder agiler junger Black Block-Aktivist. Egal auch, ob sie schwarz, braun oder weiß sind. Eine für viele – womöglich erstmals demonstrierende – weiße Französinnen und Franzosen ungeheuerliche Erfahrung, die sie innerhalb von Wochen politisiert und radikalisiert hat. Sie wurden Zeuginnen und Zeugen, wie jemandem neben ihnen ein Auge ausgeschossen, der Kiefer durch ein „nicht-letales“ Geschoss der Polizei zertrümmert wurde, wie ein ganzes Rudel tretender, prügelnder CRS [französische Spezialeinheit mit Bürgerkriegspraktiken; d. Red.] über einen schutzlosen Menschen herfiel, der blutend, bewusstlos auf dem Asphalt liegen blieb.

Dieser Schock setzte bereits sehr früh ein, in Paris Anfang Dezember 2018. Seither haben französische „Normalos“, weiß, aus der Provinz, durchaus nicht frei von rassistischen Vorstellungen, als Gelbwesten Gelegenheit, die ihnen bis dahin weitgehend unbekannten Landsleute aus den Vororten der Metropolen kennenzulernen – zum Beispiel bei gemeinsamen Blockadeaktionen von Logistikknotenpunkten um Paris herum. Und vice versa: „Die Schwarzen und die Araber“ der Banlieue begegneten erstmals diesen Leuten aus der Provinz. Durchaus keine flüchtigen Begegnungen, sondern, wie es ein Franco-Algerier aus der Pariser Banlieue formulierte: auf den Barrikaden, im gemeinsamen Kampf gegen die Ungerechtigkeiten, unter denen wir alle leiden. Prägende Erfahrungen. Französinnen und Franzosen, die in anderen Welten leben als in den ausgegrenzten der Vororte, erfuhren von der rassistischen Polizeigewalt, mit der ihre Landsleute aus den ehemaligen französischen Kolonien se it Jahrzehnten täglich konfrontiert sind. Sie erfuhren auch, was sie grundsätzlich hätten wissen können, was aber nicht durchdringt, weil es eine so ferne, medial kaum beleuchtete Realität für die nicht direkt Betroffenen ist: dass diese rassistische Polizeigewalt alle paar Monate ein Todesopfer fordert, wobei die Täter nie zur Verantwortung gezogen werden.

Im Verlauf des vergangenen Jahres entwickelte sich durch diese Erfahrungen so etwas wie eine breite „gelb gefärbte“ Bewegung gegen die rassistische Polizeigewalt und allgemein die zunehmend autoritäre Entwicklung der Republik. Auch in der Banlieue gibt es lokale Gelbwestengruppen, und in Paris haben die Sans Papiers („Illegale“) als gilets noirs („Schwarzwesten“) im Sommer den Pantheon besetzt und reguläre Papiere gefordert, nachdem die meisten von ihnen seit Jahrzehnten in Frankreich leben und arbeiten.

Die vielen, bisher weitgehend ohne Hoffnung auf „Wahrheit und Gerechtigkeit“ agierenden, kaum wahrgenommenen Komitees der Angehörigen und Nachbarn von Opfern der rassistischen Polizeigewalt haben durch den Aufbruch in gelben Westen einen zuvor unvorstellbaren Auftrieb erhalten, sind endlich sichtbar geworden und erleben eine breite Solidarität. Diese Komitees wiederum teilen ihr Know-how, ihre erfahrenen Anwälte etc. mit den neuerdings von der entfesselten staatlichen Gewalt betroffenen weißen Französinnen und Franzosen.

Für die Gilets Jaunes, die Gelbwesten, ist die Erfahrung das entscheidende Moment. Zwar war eine Petition auf change.org im Oktober 2018 der Auslöser für alles Weitere, für den Aufstand, der auch mehr als ein Jahr danach andauert. Und tatsächlich sind viele Gelbwesten auf Facebook miteinander in Kontakt, und es gibt Einzelne mit Zehntausenden „Freunden“. Aber entscheidend für den Aufstand, für seine inhaltliche Entwicklung und seine Ausdauer, war und ist die reale Erfahrung. Die findet in den „sozialen Medien“ gerade nicht statt.

Erfahrung ohne Alternative, immer nur dieselbe Erfahrung kann ein Gefängnis sein. Millionen Französinnen und Franzosen und ähnlich viele Menschen in Deutschland und anderswo sind in solchen Erfahrungen gefangen: Man strampelt sich ab, um einigermaßen über die Runden zu kommen, hält diesen unbefriedigenden Zustand jahrelang für vorübergehend, doch er verschlingt Lebenszeit, die entscheidenden Jahre, ruiniert die Gesundheit. Ein Ende, eine glückliche Auflösung ist immer weniger abzusehen. Man ist gefangen im Hamsterrad, allein. Die Miete, allgemein die Lebenshaltungskosten steigen. Die Wünsche der Kinder wollen erfüllt werden. Wenigstens einmal im Jahr Urlaub, zwei Wochen – das muss doch drin sein. Schließlich arbeiten beide Eltern. Egal was. Man muss nehmen, was kommt, was noch zu haben ist an Jobs in der Provinz, in den Vororten der Städte. Und für alles brauchst du ein Auto, also eigentlich zwei pro Familie, selbst als Putzhilfe und kl einer Angestellter in der Gemeindeverwaltung – die längst in eine entfernte Stadt verlegt wurde … Es geht so gerade, aber wenn etwas teurer wird, etwa das Benzin, bringt das die Familie an den Rand des Absturzes und in echte Armut. Es ist unwürdig, kein Leben, nur noch Überleben.

Wie konnten sich Hunderttausende Französinnen und Franzosen aus diesem Gefängnis einer zentnerschweren isolierenden Erfahrung befreien? Wie kam es dazu, dass sie auf die fluoreszierenden Westen, die jeder und jede im Auto mitführt, kritzelten, was ihnen auf den Nägeln brennt? Etwa: „vivre – pas survivre!“ – „Leben – nicht Überleben!“.

Priscillia Ludoski, eine bis dahin unbekannte junge Frau, ursprünglich aus Martinique, hatte mit ihrer Petition gegen die Erhöhung des Kraftstoffpreises einen Nerv getroffen. Sie unterstrich, dass es darum gehe, Lösungen für einen Verkehr zu entwickeln, die die Umwelt möglichst wenig belasten sollten; sie wies nach, dass dies durch die geplante Benzinpreiserhöhung gerade nicht erreicht würde. Damit strafe man nur einmal mehr die weniger Begüterten. Binnen Tagen kamen über eine Million Unterschriften zusammen. Das Entscheidende aber war eine Idee, die sich über die sozialen Medien rasant verbreitete und von ungezählten Menschen in der Provinz am 17. November 2018 in die Tat umgesetzt wurde: Wir blockieren! Der Schritt aus der Virtualität in die Realität, die Begegnung, die gemeinsame Erfahrung war getan.

Sie besetzten überall in Frankreich Kreisverkehre und Mautstellen, sorgten mal für unentgeltliche Durchfahrt, mal blockierten sie den Verkehrsfluss. Die Menschen in den ausgebremsten oder durchgewinkten Autos hupten zustimmend. Es ging darum, das Fließen, das ihr unwürdiges Leben bestimmt, in Frage zu stellen – ein Fließen, das tatsächlich nicht verbindet, sondern isoliert. Sie erlebten, dass sie nicht allein waren, eine Erfahrung, von der sie immer noch nicht genug haben. Denn, wie eine Gelbweste aus der Provinz damals, wenige Tage nach dem 17. November 2018 sagte: „Seit Samstag fühlen wir uns ein bisschen weniger allein und ein bisschen glücklicher.“2

Das klang unbedarft, keineswegs so, als habe dieser Mensch – es war ein älterer Mann – eine klare politische Perspektive vor Augen und als könne aus dieser Erfahrung etwas Dauerhaftes entstehen. Selber konstatierte er bescheiden, dass er nicht wisse, wohin das Ganze noch führen werde, aber zumindest zeige sich: „Es gibt uns.“

„On est là – wir sind da!“, singen seither die Gelbwesten unverdrossen – dem Tränengas trotzend, hustend, lachend, tanzend, triumphierend. Auch in diesen Tagen und Wochen während der Streiks und der Blockadeaktionen gegen die Rentenreform, bei denen in roten (CGT), violetten (sud solidaire) und gelben Westen, letztere manchmal durch einen Gewerkschaftssticker zusätzlich gekennzeichnet, die Regierung und – nicht zuletzt – die Gewerkschaftsbürokratie unter Druck gesetzt wird.

„Wir sind da, auch wenn es Macron nicht gefällt!“ „Wir“, das neue politische Subjekt, grenzt sich von niemandem ab, außer von den unvermeidlich zur Vereinnahmung neigenden Institutionen, seien es Parteien, Gewerkschaften, die Regierung oder auch die Medien, die medial fabrizierte „Öffentlichkeit“. Dieses neue politische Subjekt eines „unreinen Aufstands“ lässt sich auch von niemandem eingrenzen. Es buhlt um niemandes Anerkennung, es schert sich nicht um seinen Ruf.

„Sie sind also nicht mehr aktuell, die Gilets Jaunes“… So steht das gut ein halbes Jahr nach Beginn des gelben Aufstands in einer Flugschrift von Gelbwesten aus dem Pariser Nordosten. „Das ist eigentlich gar nicht so schlecht. Wir überlassen den Raum innerhalb der Aktualität gerne jenen, denen so viel an dieser liegt und die sie in all ihren Bestandteilen fabrizieren. […] Wir sind das Reale in seiner ganzen Intensität […].“ Und weiter heißt es, die Gelbwesten hätten sich eine Form der befreiten Rede geschaffen, die gekennzeichnet sei durch „entwaffnende Ernsthaftigkeit, unermüdliches Zuhören und wohlwollendes Eingehen auf den anderen, auch im Disput“. Denn: „Der liegt uns am Herzen […]. Und nichts […], wird uns jemals wieder das Wort abschneiden.“ Eine „Gelbwesten-Haltung“ erfasse alle Milieus, das der Hafenarbeiter, das der Krankenschwestern, das der Lehrenden, und stelle die knirschenden Hierarchien, die Moral, die s ie aufrecht erhält, die ungerechten Regelungen, die allgegenwärtigen Manipulationen, die verdeckten Interessen radikal in Frage.“3 Kein Außen, keine Fremddefinition, kein Kalkül, keine überkommenen Kategorien, keine abgenutzte Sprache – die Gelbwesten erfinden sich pausenlos selber, miteinander, im unablässigen ernsthaften, verantwortlichen Gespräch.

Diese „Gelbwesten-Haltung“ ist aus der Erfahrung von „Wildfremden“ entstanden: dass sie sich vertrauen können, auch wenn sie sehr unterschiedlich und oft durchaus nicht einer Meinung sind. Es geht nicht darum, jemanden zu übertrumpfen oder sich oder etwas gegen ihn durchzusetzen. Diese Haltung ist aus den Erfahrungen entstanden, die viele an den blockierten Kreisverkehren auf dem Land, auf unscheinbaren Plätzen, an Niemandsorten gemacht haben. Der Geograph Michel Lussault schreibt dazu, diese Orte würden in eine politische Sphäre verwandelt, „in der sich ein ‚Gemeinsames‘ von Forderungen und Aktionen“ herausbilde. „Ausgangspunkt und Basis war […] das ‚Bewohnen‘ des Ortes. […] Holzpaletten zusammenzutragen, Hütten zu bauen, für Vorräte zu sorgen, den Kreisverkehr und dessen Umgebung zu ‚managen‘ – das waren alltägliche Akte, die sich auf den Ort bezogen, quasi auf den gemeinsamen ‚Haushalt‘. Diese Akte un terfütterten die Herausbildung und das Funktionieren dessen, was man gemeinsam anstrebte. […] Jeder besetzte Verkehrskreisel stellte eine gemeinsame res publica dar, mithin eine geteilte ‚Sache‘, unvollkommen und vieldeutig…“.4 Und genau diese Unvollkommenheit halten sie aus, die Gelbwesten, auch nach über einem Jahr, in dem sie gemeinsam weit über die ersten zusammengewürfelten Forderungskataloge hinausgewachsen und längst nicht mehr „alles Mögliche“ sind. Eindeutig sind sie für eine Absetzung nicht nur der Regierung, sondern für „die grundlegende Veränderung des durch Macron verkörperten Systems“, wie es in der Abschlusserklärung der „Zweiten Versammlung der Versammlungen“ (Saint Nazaire, 7. April 2019) heißt.5 Inzwischen bereiten Gelbwesten aus hunderten Stadtteilen, Dörfern, Vororten die fünfte derartige Versammlung vor, bei der sich Anfang März in Toulouse Delegi erte (mit imperativem Mandat) aus ganz Frankreich treffen und beraten – nach wie vor ohne Führerinnen und Führer, ohne Sprecherinnen und Sprecher. Da geht es zum Beispiel um die Frage, von der Basis vorgeschlagen und von allen in diesen Tagen „vorgedacht“: Wie können soziale Kämpfe zum Ziel führen? – Voraussetzungen: Zermürbung der Macht, Revolte, das Vorhandensein einer konkreten Utopie…?

Das sind nicht, wie es CGT-Funktionär Karl Ghazi formuliert, „Versuche innerer Demokratie“, mit denen die Gelbwesten „experimentiert haben“, wobei das Perfekt darauf hindeutet, dass diese „Experimente“ angeblich der Vergangenheit angehören.6 Der Prozess, der von den Gelbwesten von Commercy, einem Provinznest, das die wenigsten Französinnen und Franzosen bisher kannten, Ende November 2018 angestoßen und seither konsequent aufrechterhalten und weiterentwickelt wird, ist andauernde basisdemokratische Praxis, an der jede und jeder in Frankreich sich gleichberechtigt beteiligen kann – ohne Einschränkung oder Vorbedingung. Einen solchen Prozess in aller Offenheit und zugleich Verbindlichkeit zu organisieren, ist sehr aufwendig für die vielen, die ihn ernst nehmen, also Verantwortung nicht delegieren. Natürlich besteht auch hier die Herausforderung, möglichst sicherzustellen, dass bei aller Ungleichheit der Bedingungen und Mð 6glichkeiten von jeder und jedem dennoch alle sich in gleichem Maße beteiligen und dazu beitragen können: der körperlich hart arbeitende Bauer mit Familie, die alleinerziehende Kassiererin genauso wie die Studierende und der gut gebildete, einigermaßen abgesicherte Rentner. Die sehr unterschiedlichen Beteiligten machen dabei die für die meisten neue Erfahrung der kontinuierlichen gemeinsamen Reflexion, von ungeahnten Lernprozessen – einschließlich herber Enttäuschungen und Frustrationen.

Pariser Intellektuelle und Aktive aus linken und libertären Milieus waren zunächst – im Dezember 2018 – vollkommen verblüfft, als Samstag für Samstag diese Provinzler in gelben Warnwesten einliefen, häufig die Trikolore schwenkend, ohne entzifferbare politische Message – war es womöglich eine rechte Bewegung? – und in die Vorzeige-Viertel der Metropole einfielen. Keineswegs, um sich vor der Pracht zu verneigen und sie ehrfürchtig zu besichtigen, sondern um das Zentrum der Macht zu stürmen.

Erstaunlich viele der zunächst ratlosen kritischen Intellektuellen waren nach kurzem Stutzen ihrerseits offen für eine neue Erfahrung. Sie gingen hin. Sie hörten zu. Sie beteiligten sich, ohne sich aufzuspielen. Immer mehr von ihnen gaben den Geldwesten Recht, stellten zunächst ungläubig, dann fast euphorisch fest, dass der Aufstand gekommen war, auf den sie kaum noch zu hoffen gewagt hatten, so die vom oben zitierten „unsichtbaren Komitee“.

Seit dem 5. Dezember 2019 erlebt das Land eine ununterbrochene Streikbewegung, die von einer Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wird. Die Entschlossenheit von Eisenbahnbeschäftigten, Lehrpersonal (zusammen mit Eltern und Schülerinnen und Schülern), von Menschen, die im Gesundheitsbereich, bei den öffentlichen Verkehrsbetrieben, bei der Müllabfuhr, bei der Feuerwehr, in Supermärkten, im Logistikbereich, in Hotels schuften, ist ungebrochen: Wir lassen uns die von Macron auf den Weg gebrachte Rentenreform nicht gefallen. Sie muss zur Gänze zurückgezogen werden. Wortspiele mit „la retraite“ (die Rente) und „le retrait“ (die Rücknahme) bieten sich für die Slogans an den Wänden, auf den Transparenten und Pappschildern an. Überall berufsübergreifende Versammlungen, Blockaden (z.B. an Gymnasien durch die Schülerschaft), ausfallende öffentliche Verkehrsmittel, Theatervorstellungen, Vorlesungen. Der Preis für die meisten Strei kenden ist hoch. Es gibt keine Streikkassen. Vielmehr tragen wir alle, die solidarisch sind, zu den Sammlungen bei, um den Lohnausfall auszugleichen.

Die Rentenreform betrifft alle, selbstverständlich auch die Gelbwesten. Rund 500 Delegierte von über 200 Gruppen aus ganz Frankreich beschlossen bei ihrer letzten „Versammlung der Versammlungen“ in Montpellier (1. bis 3. November 2019), den von den Gewerkschaften angekündigten Streik zu unterstützen. Sie haben den Streik „giletjaunisiert“, den traditionellen Demos zusammen mit der Gewerkschaftsbasis ihren gelben, unorthodoxen Stempel aufgedrückt, das Ritualisierte aufgemischt durch Karnevaleskes, Spontanität, Humor – aber auch durch die Radikalität, die man im Verlauf vieler Monate direkter Erfahrungen mit der Brutalität und der Menschenverachtung der Regierung entwickelt hat. Teile der Gewerkschaftsbasis sind selbst Gelbwesten oder sympathisieren mit der Bewegung. Auch das war schon früh – 2018 – auf den Straßen von Paris zu beobachten. Sie sind hochgestimmt angesichts der breiten Mobilisierung gegen die neoliberalen Reformen Macron s (und seiner Vorgänger), als deren Krönung die Rentenreform gilt. Bereits im Kampf gegen das Arbeitsgesetz hatten sich viele Gewerkschaftsmitglieder immer unabhängiger von ihren ewig bremsenden Bürokratien verhalten und etwa zusammen mit dem Schwarzen Block die Demospitze übernommen. Es hatte nicht gereicht. Per Verordnungen wurde das neue Arbeitsgesetz durchgepaukt. Jetzt gibt es mit den Gelbwesten endlich einen breiten und konsequenten Widerstand, der sich nicht kleinkriegen lässt.

Er hält an, täglich. Ein Beispiel: Einige Straßenzüge in meiner Pariser Nachbarschaft werden seit Tagen von der Müllabfuhr bestreikt. Wir bekommen eine Idee davon, wie schnell die schöne Stadt im Dreck versinken würde. Im Dreck, der nicht einmal zum Himmel stinkt, denn er ist von Plastik umhüllt, Plastik ohne Ende, das Plastik, das den Planeten, das Leben, alle Schönheit schon längst zu ersticken droht.

Ja, „Der blaue Planet braucht das Gelb, um grün zu bleiben“ – so der Slogan auf manchen Gelbwestenrücken.

Während ich das schreibe, Mitte Februar 2020, äußern viele in Gesprächen, bei Versammlungen, auf der Straße: eine so lang andauernde, so breit unterstützte Streikbewegung wie noch nie, ein so lang anhaltender Aufstand, der in Gelb, der sich nicht vereinnahmen oder manipulieren lässt – großartig. Aber: Das verheerende neoliberale Monster läuft weiter wie geschmiert.

Eine ernüchternde Erfahrung, die dennoch eher Entschlossenheit als Resignation provoziert. „Die Körper“ sind – nach allem – nicht bereit, wieder zu den Bildschirmen zurückzukehren.

Luisa Michael lebt in Frankreich und ist seit Beginn der Gilet-Jaunes-Bewegung in dieser aktiv. Sie ist Verfasserin des Ende 2019 bei Nautilus erschienenen Buchs Der Aufstand in gelben Westen.

Anmerkungen:

1 Unsichtbares Komitee, Jetzt; Edition Nautilus, Hamburg, 2017, S. 7

2 https://lundi.am/Depuis-samedi-nous-nous-sentons-un-peu-moins-seuls-et-un-peu-plus-heureux

3 Luisa Michael, Wir sollten uns vertrauen. Der Aufstand in gelben Westen; Edition Nautilus, Hamburg 2019; S. 226 ff

4 https://aoc.media/analyse/2019/01/10/la-condition-periurbaine/

5 Luisa Michael, S. 223

6 https://www.jungewelt.de/beilage/art/370937


Die Renten-Konter-Reform von Monsieur Macron

Das an die Sozialversicherung gekoppelte französische Rentensystem, das einen relativ guten solidarischen Schutz für die Arbeitenden und Besitzlosen vorsah, stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Kräfteverhältnis für die Seite der Arbeit günstig war. Durch Rentenreformen (1993, 2003, 2010) wurde dieses System bereits beschnitten, so dass das tatsächliche durchschnittliche Renteneintrittsalter auf deutlich über 62 Jahre angestiegen ist.

Bisher steht Frankreich bei der Alterssicherung im internationalen Vergleich relativ gut da.

In den letzten Jahrzehnten haben sich jedoch die sozialen Ungleichheiten zugespitzt. Das lässt sich u.a. daran ablesen, dass die Franzosen, die zu den 5 Prozent der Reichsten gehören, durchschnittlich 13 Jahre länger leben als ihre Landsleute, die zu den ärmsten 5 Prozent zählen. Die Hälfte der Beschäftigten verdient weniger als 1800 Euro im Monat netto, wobei die Lebenshaltungskosten deutlich höher liegen als z.B. in Deutschland. Anders als in der deutschen Öffentlichkeit meist dargestellt, ist die Kaufkraft der Mehrzahl der Rentnerinnen und Rentner in Frankreich geringer als die Kaufkraft des größten Teils der deutschen Seniorinnen und Senioren.

Die Macron’sche Rentenreform sieht – haushaltspolitisch begründet – eine „Universalrente“ nach Rentenpunkten vor: Der auf die Renten entfallende Anteil des BIP soll rasch und deutlich verringert werden. Dieser liegt mit 13,8 Prozent derzeit auf der Höhe von Österreich; in Italien und Griechenland liegt der Anteil deutlich höher, in Deutschland mit rund 11 Prozent niedriger. Das bedeutet ein Absenken der Rentenhöhe um 20 bis 30 Prozent und Anheben des effektiven Renteneintrittsalters auf 64 bis 65 Jahre.

Diese Ziele sollen wie folgt erreicht werden:

• Berechnung der Rente nicht mehr auf Grundlage der 25 besten Beitragsjahre (Privatwirtschaft) bzw. der letzten 6 Monate (öffentlicher Sektor), sondern auf der Grundlage des gesamten Einkommens einer beruflichen Laufbahn, das im Fall der Jüngeren, zunehmend prekär oder von Teilzeitbeschäftigung, häufig sehr gering ist;

• Rücknahme aller Regelungen, die bisher Ungleichheiten berücksichtigen (Kinderzahl, Zeiten der Arbeitslosigkeit etc.). Dies trifft 15 von 16 Millionen Rentnern und Rentnerinnen.

• Rücknahme von Vorruhestandsregelungen für Arbeitende mit besonderen Belastungen (Schichtarbeit, gesundheitsgefährdende Chemikalien etc.).

Schließlich, da der Sinn der Rentenregelung kein sozialer mehr ist, sondern einzig in der Beförderung der neoliberalen Umstrukturierung Frankreichs besteht, wird der Wert der Rentenpunkte den Risiken der politischen, wirtschaftlichen, demographischen Konjunktur untergeordnet. Eine ausreichende Altersversorgung wird es auf der Grundlage des Punktesystems für viele nicht mehr geben. Wer zu den Besserverdienenden und Besitzenden gehört, wird sich privat versichern – exzellente Aussichten für AXA und Co.

Am 29.2.2020, Samstag (!), rief die Regierung unter dem Vorwand Corona-Virus das Parlament zusammen – um mittels des § 49.3, per Verordnung, ihre Rentenreform durchzudrücken. Das wird von der mobilisierten Bevölkerung nicht hingenommen werden!