Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Die Corona-Katastrophe in Indien

Nein, Indien kann nicht abgeriegelt werden. Wir brauchen Hilfe. Denn diese Corona-Katastrophe ist auch eine Katastrophe durch Modis Politik. Ein Gastbeitrag.

Während der ersten Corona-Welle in Indien, die schließlich im vergangenen Jahr abebbte, triumphierten die Regierung und die sie unterstützenden Medien. „Indien hat’s nicht leicht“, twitterte der Chefredakteur der Nachrichten-Site The Print: „Aber unsere Abflüsse sind nicht mit Leichen verstopft, den Krankenhäusern gehen nicht die Betten aus, noch haben Krematorien und Friedhöfe genügend Holz und Platz. Sie meinen, das klinge zu schön, um wahr zu sein? Dann legen Sie Fakten dagegen vor. Oder glauben Sie, Sie seien Gott?“

Die gefühl- und respektlose Bildsprache beiseite gelassen – brauchten wir einen Gott, um zu begreifen, dass die meisten Pandemien eine zweite Welle haben?

Die zweite Welle war vorhergesagt worden, dennoch überraschte ihre Infektiosität selbst Wissenschaftler und Virologen. Und wo sind nun die In-frastruktur und die „Volksbewegung“ gegen das Virus, von der Modi noch getönt hatte? Krankenhausbetten sind belegt. Ärzte und medizinisches Personal sind am Ende ihrer Kräfte. Freunde berichten von Stationen ohne Personal und mehr toten als lebenden Patienten. Menschen sterben in Krankenhausfluren, auf Straßen und in ihren Häusern. Den Krematorien in Delhi ist das Brennholz ausgegangen. Die Forstbehörde musste eine Sondergenehmigung für das Fällen von Bäumen in der Stadt erteilen. Die verzweifelten Menschen nehmen alles Kleinholz, das sie finden können. Parks und Parkplätze werden zu Verbrennungsstätten umfunktioniert. Es ist, als hinge ein unsichtbares Ufo am Himmel, das uns die Luft aus den Lungen saugt. Ein Luftangriff, wie wir ihn noch nie erlebt haben.

Sauerstoff ist die neue Währung an Indiens morbider neuer Börse. Hochrangige Politiker, Journalisten, Anwälte – Indiens Elite – flehen auf Twitter um Krankenhausbetten und Sauerstoffflaschen. Der Schwarzmarkt für Flaschen boomt. An Sauerstoffmessgeräte und Medikamente ist kaum ranzukommen.

Auch andere Dinge werden jetzt marktfähig. Am unteren Ende dieses freien Marktes steht die Bestechung, um einen letzten Blick auf den geliebten Menschen zu erhaschen, der in der Leichenhalle eines Krankenhauses in einem Sack zwischen anderen Säcken liegt. Ein Aufpreis für einen Priester, der sich bereit erklärt, die letzten Gebete zu sprechen. Online-Arztpraxen, in denen verzweifelte Familien von skrupellosen Ärzten geschröpft werden. Am oberen Ende muss man vielleicht sein Grundstück und Haus verkaufen und noch die letzte Rupie für die Behandlung in einem Privatkrankenhaus hergeben. Allein die Kaution aufzubringen, um überhaupt aufgenommen zu werden, kann eine Familie um ein paar Generationen zurückwerfen.

Die Dinge werden sich irgendwann beruhigen. Natürlich werden sie das. Doch wir wissen nicht, wer von uns diesen Tag erleben wird. Die Reichen werden aufatmen. Die Armen nicht. Auf dem Krankenlager und beim Sterben gibt es noch so etwas wie Demokratie. Auch Reiche hat es hingestreckt. Die Krankenhäuser betteln um Sauerstoff. Einige sind dazu übergegangen, die Kranken den Sauerstoff selbst mitbringen zu lassen. Um Sauerstoff führen die Bundesstaaten heftige und unlautere Kämpfe untereinander, wobei die politischen Parteien alle Schuld von sich weisen.

Wo sollen wir Trost finden? Was wissen wir überhaupt? Sollen wir uns an Zahlen klammern? Wie viele Tote? Wie viele Genesene? Wie viele Infizierte? Wann wird der Höhepunkt erreicht sein? Am 27. April lautete die Meldung 323.144 neue Fälle, 2.771 Tote. Die Präzision hat etwas Beruhigendes. Nur – woher wissen wir das? Tests sind schwer zu bekommen, selbst in Delhi. Die Zahl der Covid-Bestattungen auf Friedhöfen und in Krematorien in Kleinstädten lässt auf eine bis zu 30-mal höhere Zahl von Toten schließen als die offizielle Zählung. Ärzte, die außerhalb der Ballungsräume arbeiten, können das bestätigen.

Wenn selbst Delhi zusammenbricht, wie soll man sich dann vorstellen, was in Dörfern in Bihar, in Uttar Pradesh, in Madhya Pradesh vor sich geht? Wo aus den Städten zig Millionen Arbeiter, die das Virus in sich tragen, nach Hause zu ihren Familien flüchten, traumatisiert durch die Erinnerung an Modis nationalen Lockdown im Jahr 2020.

Es war der härteste Lockdown der Welt, angekündigt mit nur vier Stunden Vorlaufzeit. Wanderarbeiter strandeten in den Städten, ohne Anstellung, ohne Einkommen für ihre Miete, ohne Essen und ohne Verkehrsverbindungen. Um nach Haus in ihre entlegenen Dörfer zu gelangen, mussten viele von ihnen Hunderte von Kilometern zu Fuß zurücklegen. Hunderte starben auf dem Weg.

Obwohl zur Zeit kein landesweiter Lockdown herrscht, sind die Arbeiter gegangen, rechtzeitig, solange noch Züge und Busse fahren. Sie flüchteten, weil sie wissen, dass sie zwar den Motor der Wirtschaft in diesem riesigen Land antreiben, in der Krise aber für diese Regierung schlichtweg nicht zu existieren scheinen.

Auch dieser zweite Exodus führte ins Chaos, aber von anderer Art: Es gibt keine Quarantänezentren, in denen die Menschen bleiben können, bevor sie ihre Dörfer betreten. Nicht einmal der Schein wird gewahrt, den ländlichen Raum vor dem Virus aus der Stadt schützen zu wollen.

Wie dem auch sei, die Impfstoffe werden uns doch sicherlich retten? Ist Indien nicht ein Powerhouse der Impfstoffproduktion? Tatsächlich ist die indische Regierung vollends abhängig von zwei Herstellern, dem Serum Institute of India und Bharat Biotech. Beide dürfen, zwei der teuersten Impfstoffe der Welt an die ärmsten Menschen der Welt liefern. Diese Woche (Ende April 2021, LP21-Red.) gaben sie bekannt, dass sie an private Krankenhäuser zu einem leicht erhöhten Preis und zu einem etwas niedrigeren Preis an die jeweiligen Bundesstaaten verkaufen werden. Grob überschlagen werden die Impfstofffirmen wahrscheinlich obszöne Gewinne machen.

Unter Modi wurde Indiens Wirtschaft ausgeschlachtet, und Hunderte Millionen Menschen, die ohnehin schon in prekären Verhältnissen lebten, wurden in bittere Armut gestürzt.

Um zu überleben, ist eine große Anzahl von Menschen inzwischen auf die mageren Einkünfte angewiesen, die ihnen nach dem National Rural Employment Guarantee Act zustehen. Das Gesetz wurde 2005 verabschiedet, als noch die Kongresspartei am Ruder war. Es ist nicht anzunehmen, dass Familien, die am Rande des Verhungerns stehen, den größten Teil eines Monatseinkommens bezahlen werden, um sich impfen zu lassen.

In Großbritannien sind Impfungen kostenfrei und ein Grundrecht. Und wer dort versucht, sich außer der vorgeschrienen Reihe impfen zu lassen, kann strafrechtlich verfolgt werden. In Indien scheint der eigentliche Grund für die Impfkampagne der Profit der Unternehmen zu sein.

Über die epische Katastrophe informieren uns unsere Modi-freundlichen indischen Fernsehkanäle, und alle sprechen mit derselben gleichgeschalteten Stimme. Das System sei zusammengebrochen, sagen sie wieder und wieder. Das Virus habe Indiens Gesundheitssystem überwältigt.

Das System ist nicht zusammengebrochen. Das „System“ existierte kaum. Die Regierung – die jetzige wie die vorige unter Führung der Kongresspartei – hat das wenige, was an medizinischer Infrastruktur vorhanden war, vorsätzlich demontiert.

Was wir jetzt erleben, ist das, was passiert, wenn eine Pandemie ein Land mit einem kaum existenten öffentlichen Gesundheitssystem trifft. Indien gibt etwa 1,25 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Gesundheit aus, weit weniger als die meisten Länder der Welt, weniger noch als einige der ärmsten. Doch sogar diese Prozentzahl gilt als aufgeblasen, weil Dinge mit eingerechnet wurden, die zwar wichtig sind, aber nicht unbedingt zur Gesundheitsversorgung zählen. Man schätzt, dass der tatsächliche Wert eher bei 0,34 Prozent liegt.

Es ist eine Tragödie, dass in diesem verheerend armen Land 78 Prozent der Gesundheitsversorgung in städtischen Gebieten und 71 Prozent in ländlichen Gebieten inzwischen vom privaten Sektor übernommen wurden, wie eine Lancet-Studie aus dem Jahr 2016 belegt. Die Ressourcen, die im öffentlichen Sektor verblieben, werden von einem Geflecht aus korrupten Bürokraten und Ärzten, gefälschten Überweisungen und Versicherungsbetrug systematisch in den privaten Sektor umgeleitet.

Gesundheitsversorgung ist ein Grundrecht. Der Privatsektor wird sich nicht um hungernde, kranke und sterbende Menschen kümmern, die mittellos sind. Die massive Privatisierung der indischen Gesundheitsversorgung ist ein Verbrechen. Das System ist nicht zusammengebrochen. Die Regierung hat versagt. Vielleicht ist „versagt“ noch zu ungenau, denn was wir erleben, ist keine kriminelle Nachlässigkeit, sondern ein regelrechtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Virologen sagen voraus, dass die Zahl der Corona-Fälle in Indien auf mehr als 500.000 pro Tag ansteigen wird. Sie sagen den Tod von vielen Hunderttausenden in den kommenden Monaten voraus.

Meine Freunde und ich haben uns darauf geeinigt, einander jeden Tag anzurufen, um unsere Anwesenheit kund zu tun, wie beim Appell in der Schule. Mit unseren geliebten Menschen sprechen wir unter Tränen und mit Bangen, weil wir nicht wissen, ob wir uns jemals wiedersehen werden. Wir schreiben, wir arbeiten, ohne zu wissen, ob wir leben werden, um das zu beenden, was wir begonnen haben. Ohne zu wissen, welches Grauen und welche Demütigung uns erwartet. Die Demütigung, die all das mit sich bringt. Das ist es, was uns zerbricht.

Hier sind wir nun also, in der Hölle gemeinsamer Anstrengungen von Parteien, Medien, großen Unternehmen, wo jede unabhängige Institution, die für das Funktionieren einer Demokratie wesentlich ist, kompromittiert und ausgehöhlt dasteht, während ein Virus außer Kontrolle geraten ist.

Die krisenerzeugende Maschinerie, die wir unsere Regierung nennen, ist nicht in der Lage, uns aus dieser Katastrophe herauszuführen. Nicht zuletzt, weil in dieser Regierung alle Entscheidungen von einem einzigen Mann getroffen werden, und dieser Mann, Narendra Modi, ist gefährlich – und nicht sehr klug.

Das Virus ist ein internationales Problem. Um es zu besiegen, muss die Entscheidungsgewalt, zumindest was die Kontrolle und Verwaltung der Pandemie betrifft, in die Hände eines überparteilichen Gremiums gelegt werden, das aus Mitgliedern der Regierungspartei, der Opposition und Experten für Gesundheit und Staatstätigkeit besteht.

Was Modi angeht: Kann man von Verbrechen zurücktreten wie von einem Amt? Vielleicht könnte er einfach mal eine Pause einlegen — eine Pause von all seiner harten Arbeit. Es gibt da diese 564 Millionen Dollar teure Boeing 777, die Air India One, maßgeschneidert für VIP-Reisen – für ihn, um genau zu sein –, und diese Maschine steht jetzt schon eine geraume Zeit ungenutzt auf dem Rollfeld. Er und seine Gefolgsleute könnten einfach abhauen. Der Rest von uns wird alles tun, was wir können, um aufzuräumen, was sie angerichtet haben.

Nein, Indien kann nicht abgeriegelt werden. Wir brauchen Hilfe.

Aus dem Englischen von Jan Wilm. Zuerst veröffentlicht im britischen Guardian am 28. April. Siehe: https://www.theguardian.com/news/2021/apr/28/crime-against-humanity-arundhati-roy-india-covid-catastrophe

Hier von der LP21-Redaktion überarbeitet und stark gekürzt. Die offiziell gemeldete Zahl von Corona-Toten lag Ende April, als A. Roy diesen Artikel veröffentlichte, bei 215.000. Sie liegt am 5. Juni bei 347.000. Wobei es dann in Wirklichkeit – siehe die Angaben in diesem Artikel – mehr als eine Million Menschen gewesen sein dürften, die bis zu diesem Zeitpunkt an und mit Corona starben. Die LP21-Redaktion.

Suzanna Arundhati Roy lebt in Indien. Sie ist Schriftstellerin, Drehbuchautorin und vor allem politische Aktivistin und Globalisierungskritikerin. Neben den Romanen Der Gott der kleinen Dinge und Das Ministerium des äußersten Glücks verfasste sie mehrere politische Sachbücher, darunter Die Politik der Macht (2002), Aus der Werkstatt der Demokratie (2010) und Wanderung mit den Genossen: Mit den Guerillas im Dschungel Zentralindiens (2011).

Siehe auch: Noam Chomsky, Eduardo Galeano, Arundhati Roy, u. a.: Angriff auf die Freiheit? Die Anschläge in den USA und die „Neue Weltordnung“. Hintergründe, Analysen, Positionen, Hrsg.: Wolfgang Haug. (2002).