Lohnstückkosten, reale Lohnstückkosten und ganz andere Probleme
Gesamtmetall, der Gesamtverband der Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektro-Industrie, macht sich Sorgen. Gestützt auf die Forschungen des Instituts der deutschen Wirtschaft teilte der Arbeitgeberverband Ende Januar mit, dass die Lohnstückkosten in der deutschen Metall- und Elektroindustrie über denen der Wettbewerber lägen:
»Im vorliegenden Vergleich weist die deutsche M+E-Industrie zwar die höchsten Löhne, aber nicht die höchste Produktivität auf. Im Resultat liegen die Lohnstückkosten rund 14 Prozent über dem Durchschnitt wichtiger Wettbewerber.«
Bei den Konkurrenten wird unterschieden zwischen den »traditionellen Wettbewerbern« – das waren Österreich, Belgien, Dänemark, Griechenland, Spanien, Finnland, Frankreich, Italien, Japan, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Schweden, das Vereinigte Königreich und die USA – und den »neuen Wettbewerbern« Bulgarien, Zypern, Estland, Kroatien, Ungarn, Lettland, Malta, Polen, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Tschechien und Litauen. Wohlgemerkt, weder China noch Indien tauchen auf dieser Liste auf. Doch selbst ohne Berücksichtigung der Schwellenländer liege die deutsche Industrie zurück. Als Gegenmittel werden eine Steigerung der Produktivität, eine Senkung der Lohnnebenkosten oder eine Verlängerung der Arbeitszeit vorgeschlagen.
Was die Beschreibung der Lage betrifft, äußert sich die amtliche Statistik ähnlich: »Die Arbeitsproduktivität, gemessen als preisbereinigtes BIP je Erwerbstätigenstunde, stagnierte ersten Berechnungen zufolge im Jahr 2024 nahezu (-0,1%). Gemessen an der Zahl der Erwerbstätigen verringerte sich die Arbeitsproduktivität um 0,4 %. Die durchschnittlichen Lohnkosten, gemessen als Arbeitnehmerentgelt pro Kopf beziehungsweise pro Stunde, stiegen im Jahr 2024 kräftig (+5,2% beziehungsweise +5,3%). Folglich nahmen die Lohnstückkosten – definiert als Relation der Lohnkosten zur Arbeitsproduktivität – zu. Sowohl nach dem Stundenkonzept (+5,4%) als auch nach dem Personenkonzept (+5,5 %) waren die Lohnstückkosten deutlich höher als 2023. Verglichen mit dem Jahr 2019 waren die Lohnstückkosten je Stunde sogar um 20,8% höher.«
Dann allerdings folgt beim Statistischen Bundesamt ein Satz, der dem Alarmismus von Gesamtmetall nicht entspricht: »Der Anstieg liegt jedoch im Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten.«
Es gibt noch ein weiteres Problem. Die amtliche Definition der Lohnstückkosten berücksichtigt Preisveränderungen – aktuell also Preissteigerungen – bei der Berechnung der Arbeitsproduktivität. Abgekürzt, wenn auch nicht präzise, schreibt das Statistische Bundesamt vom »preisbereinigten BIP«. Das stimmt strenggenommen natürlich nicht: Ohne Preise könnte man gar kein Bruttoinlandsprodukt ausrechnen. Tonnen von Stahl und Schiffsschrauben, Gebäudereinigung und Gesundheitsdienstleistungen können ohne Preise nicht zusammengezählt werden. Es handelt sich nicht um eine Preisbereinigung, sondern um Bereinigung des Bruttoinlandsproduktes um Veränderungen des Preisniveaus. Wenn bloß ein höherer Preis gezahlt wird, ohne eine Verbesserung des Produkts, steigert das zwar das BIP. Für das »preisbereinigte BIP« wird das aber wieder rausgerechnet – und damit auch für die Berechnung der Arbeitsproduktivität.
Einfach sind solche Berechnungen nicht. Wie die Veränderung von Preisen erfasst wird, wie Qualitätsänderungen berücksichtigt werden, wie die aus den Preisveränderungen verschiedener Waren ein realistischer Durchschnitt bestimmt werden kann – das ist eine Wissenschaft für sich. Aber es ist möglich, und die Ergebnisse solcher wissenschaftlichen Arbeit sollten dann auch verwendet werden.
Sie werden aber nicht immer verwendet. Die zweite Größe, die in die Berechnung der Lohnstückkosten eingeht, sind die Lohnkosten. Hier werden die Preisveränderungen in der amtlichen Definition nicht berücksichtigt. Sachgerecht ist, dass im Arbeitnehmerentgelt nicht nur die ausgezahlten Nettolöhne, sondern auch die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer berücksichtigt werden. Nicht sachgerecht ist, dass bei den Lohnkosten die Preisveränderungen nicht berücksichtigt werden. Wir müssen in realen Geschäften steigende Preise bezahlen. Deshalb haben die Leute ein Gefühl für das Realeinkommen. Die Statistiker rechnen es so aus: Sie teilen die Einkommensentwicklung durch den Index der Verbraucherpreise. Sie verwenden das Realeinkommen nur nicht bei der Bestimmung der Lohnstückkosten, die damit ein merkwürdiger Zwitter sind: Über dem Bruchstrich steht die nominale Einkommensentwicklung, unter dem Bruchstrich die reale, pr eisveränderungsbereinigte Wertschöpfung.
Was die amtliche Statistik nicht tut, kann man nachholen. Regelmäßig vor Tarifverhandlungen veröffentlichen die Gewerkschaften Berechnungen der »realen Lohnstückkosten«. So kommen die Gewerkschaften zu dem Ergebnis, die deutsche Wirtschaft solle das Jammern lassen und den vorhandenen Verteilungsspielraum anerkennen. Selbstverständlich wissen auch die Ökonomen beim Institut der deutschen Wirtschaft, wie da gerechnet wird. Nur sprechen sie nicht gern darüber. Der Logiker Ludwig Wittgenstein schrieb einst: »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.« Die Grenzen ihrer Sprache sind die Grenzen ihrer Welt. In ihrer Welt soll die Entwicklung der Realeinkommen für die Wettbewerbsfähigkeit im Kapitalismus keine Rolle spielen.
Ebenfalls vom Institut der deutschen Wirtschaft wurde aktuell eine Analyse des leicht gesunkenen Marktanteils der deutschen Exportwirtschaft vorgelegt. Über die Gründe dieser Stagnation gibt es darin aber keine genaue Auskunft: »Insgesamt ist der Befund nicht eindeutig. So hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands gegenüber den wichtigsten Handelspartnern auf Basis der verschiedenen realen effektiven Wechselkurse seit 2015 tendenziell leicht verschlechtert, am meisten tendenziell auf Lohnstückkostenbasis. Es erscheint aber kaum plausibel, die leicht verschlechterte preisliche Wettbewerbsfähigkeit als alleinige Ursache für die starke Verschlechterung der deutschen Exportperformance und der deutschen Anteilsverluste bei den globalen Exporten und Importen anzusehen.«
Während Gesamtmetall sich noch ganz sicher gibt, dass ohne Lohndrückerei kein Aufschwung machbar ist, geht diese Analyse etwas unbeholfen von einer deutlich schlechteren »nicht-preislichen Wettbewerbsfähigkeit« aus – um dann festzustellen, dass sich diese »nicht-preisliche Wettbewerbsfähigkeit« nicht so richtig messen lasse.
Interessant ist schließlich, dass überhaupt soviel Aufhebens von den Lohnstückkosten gemacht wird. Nach der herrschenden Lehre sollen doch im Außenhandel nur die komparativen Kostenvorteile eine Rolle spielen, die absoluten Kosten dagegen unerheblich sein. Tatsächlich wissen die Unternehmer selbstverständlich, dass es anders ist. Tatsächlich ist die Entwicklung der realen Lohnstückkosten zentral für die Entwicklung der Konkurrenz wie für die Veränderung der realen Wechselkurse der Währungen. Doch lieber wird auf die Untersuchung solcher Zusammenhänge verzichtet, statt auf ein Argument, welches die Belegschaften auf größere Lohnzurückhaltung verpflichtet.
Der Logiker Wittgenstein schrieb auch: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.« Die Schriftstellerin Christa Wolf antwortete darauf: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören.«
Quellen:
iwconsult für Gesamtmetall: Elfter Strukturbericht für die M+E-Industrie in Deutschland. Mit den Schwerpunktthemen »Beschäftigung in der M+E-Industrie unter Druck« und »Arbeitszeiten und Lohnstückkosten im Vergleich«.
Jürgen Matthes, Samina Sultan: Deutsches Exportmodell unter Druck – eine Analyse der Exportentwicklung nach 2015. Wirtschaftsdienst 2/2025, 118-124.