Die Ever-Given-Havarie

Zur vorübergehenden Blockade des Suez-Kanals und den Folgen

spezial 2: globalisierung & transport

Am 23. März 2021 war die Ever Given auf dem Weg vom chinesischen Tiefwasserhafen Yangshan nach Rotterdam im Suez-Kanal zwischen der Einfahrt bei Suez und dem Kleinen Bitter-See unterwegs, als sie um 7.40 Uhr Ortszeit auf Grund lief. Ein solcher Vorfall kann sich jederzeit wiederholen.

Der internationale Seeverkehr hat gewaltig zugenommen, das Größenwachstum vieler Schiffstypen bricht einen Rekord nach dem anderen und auf den interkontinentalen Routen gibt es viele Nadelöhre. Auch im Fall einer Blockade in einem anderen Nadelöhr wären die Folgen ähnlich: Der weltweite Warenverkehr geriete in einen Stau, viele Schiffe wären an der Weiterfahrt blockiert oder müssten Umwege steuern, die Rohstoff- und Brennstoffpreise stiegen, in den Zielhäfen gäbe es Verzögerungen, die sich auf die gesamte Logistikkette auswirkten. Hinzu kommt, dass eine Bergung unabsehbare Kosten verursacht – vor allem, wenn das notwendige Gerät und die benötigten Spezialisten gerade vor Ort nicht verfügbar sind.

Jede Revierfahrt – Fahrt auf Kanälen, Flüssen und Hafenansteuerungen – bedeutet eine Herausforderung für die Schiffsführung und ihre Besatzung. Man muss sich rechtzeitig mit den Gegebenheiten vertraut machen, die jeweiligen Seekarten und Bestimmungen studieren, die Kommunikation mit den Behörden organisieren. Jeder muss seine Aufgaben kennen. Die auf See oft wachfreie Maschinenanlage wird kontinuierlich besetzt, die Ruderwachen werden eingeteilt, denn es wird nun von Hand gesteuert. Das erfordert neben oftmals vorgeschriebener Lotsenbegleitung einen erfahrenen Seemann, der seinen Job versteht und die Kommandosprache beherrscht. An Bord eines Schiffes auf Revierfahrt sind also alle etwas angespannter als auf dem offenen Meer, um auch bei Systemversagen nicht andere zu behindern oder gar zu kollidieren. Auf Revierfahrt ist bei jedem menschlichen Fehler, bei jedem Ausfall eines Systems die Zeit zur Korrektur knapper als gewohnt. Im schlimmsten Fall bleibt überhau pt keine Zeit.

Zur Passage des Suez-Kanals

Ein Ansteuern des Suez-Kanals aus dem Indischen Ozean ist anspruchsvoller als die Zufahrt vom Mittelmeer und beginnt schon mit dem Passieren der Bab al-Mandab-Straße ins Rote Meer: Die Distanz von 27 Kilometern zwischen Dschibuti und dem Jemen klingt weit. Aber vor der Jemen-Küste liegt die Insel Mayyun und fordert eine Entscheidung, auf welcher Seite man sie passieren sollte. Aber auch anschließend verlangen Untiefen, Inseln oder Felsen, die eventuell auf Kurslinie liegen, erhöhte Wachsamkeit. Wie bei allen Meerengen konzentriert sich auch hier der Schiffsverkehr. Hauptverkehrsrichtung im Roten Meer ist Nord-Süd, vom oder zum Suez-Kanal, ähnlich einer Autobahn. Die internationale Festlegung eines so genannten Verkehrstrennungsgebiets bestimmt die „Fahrspuren“ für die jeweilige Fahrtrichtung. Zudem gilt ein Rechtsfahrgebot, entsprechend bestimmen sich Vorfahrts- und Ausweichregeln. Unterwegs stehen auch einige Bohranlagen im Weg und es gibt entsprechenden V ersorgungsverkehr. Die längst zum Standard gewordenen GPS-gestützten elek-tronischen Seekarten sind ein gewaltiger Fortschritt, da man in Jetzt-Zeit weiß, wo man ist und über das vorgeschriebene AIS-Signal (Automatic Identification System) Informationen über alle anderen Verkehrsteilnehmer empfängt. Die Kenntnis nicht nur aller Schiffsnamen und -daten, sondern auch ihrer Routen vereinfacht eine gezielte Kommunikation.

Bei Annäherung an Suez kommt die Kanal-Behörde ins Spiel und vergibt erst mal genau bezeichnete Ankerplätze, auf Außen- oder Innenreede; ohne Wartezeiten vor Anker geht es nicht ab. Die Passage des Kanals erfolgt in beiden Richtungen in Konvois, die von der Kanalbehörde entsprechend zusammengestellt werden. Großkunden genießen zwar Vorteile, aber ohne Wartezeiten geht es auch für sie nicht ab, denn der Kanal ist bisher nur an wenigen Stellen gleichzeitig in beiden Richtungen passierbar und längst nicht für alle Schiffsgrößen.

So kommt es meist auch im Großen Bitter-See zu neuen Ankerwartezeiten, bis der eine oder andere Konvoi durchgezogen ist. In Port Said gibt es schon länger einen Bypass für ins Mittelmeer auslaufende Schiffe, am Hauptkanal vorbei. Seit der Wiedereröffnung des Kanals nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 hat sich die Wasserstraße gewaltig verändert. Das gilt auch für die Auswahl und Ausbildung der Kanallotsen – bis in die 1980er Jahre waren das eher weggelobte, arrogante ehemalige Marineoffiziere, die, fachlich wenig brauchbar, an Bord mitgenommen werden mussten. Heute handelt es sich durchaus um nautische Profis, die ihr Handwerk verstehen. Entsprechend wurden auch die Kommunikation und die Verkehrsüberwachung und -regelung neuesten Standards angepasst.

Herausforderungen bietet jedes Revier, im Suez-Kanal ist noch mit Sandstürmen zu rechnen. Es hat wenig Sinn, vor Abschluss der offiziellen Unfalluntersuchung der Ever-Given-Havarie über deren Ergebnis zu spekulieren. Allerdings gibt es ein gefürchtetes Strömungsphänomen: das Gesetz von Bernoulli. Dieses wesentliche Gesetz der Strömungsmechanik besagt, dass sich der Wasserdruck senkt, wenn das Wasser schnell zwischen zwei Flächen fließt. Im Suez-Kanal heißt das „Bank Effect“: Der Schiffsrumpf wird zum Ufer hingezogen. Die Kräfte dieses Ufer-Effekts verteilen sich ungleich über die Länge eines Schiffes und können es so praktisch herumreißen: Je größer das Schiff, desto größer dieses Problem – und die Ever Given ist mit 400 Metern Länge sehr groß.

Je größer das Schiff, desto größer das Risiko derartiger Vorfälle – und desto höher natürlich auch die Folgekosten jeder Havarie. Professionelle Bergungs-Unternehmen wissen das. Die Kosten beispielsweise der Bergung des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia, das 2012 im Mittelmeer mit einem Felsen kollidierte, überstiegen den Wert des Schiffes um ein Vielfaches. Dabei hatte dieses Schiff nur eine mittlere Größe, auch in dieser Branche haben Schiffsgrößen und Passagierkapazitäten drastisch zugenommen.

Noch bei Redaktionsschluss hält die Kanal-Behörde SCA die Ever Given im Großen Bitter-See fest – samt Ladung und 18 von 25 Besatzungsmitgliedern, was die Gewerkschaft ITF als „Geiselnahme“ bezeichnet hat. Die SCA macht den Kapitän für die Havarie verantwortlich. Er habe „zu viele Befehle in kurzer Zeit gegeben, was dem Schiff nicht genug Zeit zur Ausführung ließ“. Die Schadenersatzforderung für die Kosten der Befreiung des Schiffs und die Einnahmeausfälle des Kanals beläuft sich auf 550 Millionen Dollar.

George Anton Leiming lebt zur Zeit in Bremerhaven. Er ist Kapitän, ohne Einschränkungen. Letztes Kommando Ende 2008. Nach 2008 war er weltweit im Einsatz, meist freiberuflich, als Marine & Transport Consultant für Projekt- und Schwergutverladungen, zuletzt auch im Ship Management.