Der Hafen von Felixstowe

Am 13. September schien die Welt noch in Ordnung. An jenem Tag begrüßte der Hafen Felixstowe mit der „Ever Ace“ das weltgrößte Containerschiff, welches erstmals hier vor Anker ging, um gelöscht zu werden. Die „Ever Ace“ gehört zur Reederei „Evergreen Marine“ und ist ein Schwesterschiff der unlängst im Suezkanal quer-gelegten „Ever Given“. Das war vielleicht ein böses Omen, von dem die Presseabteilung des Hafens da noch nichts wissen wollte. Seit 1979 habe der Hafen eine starke Verbindung mit Evergreen, sagt Felixstowe CEO Chris Lewis. Seitdem sei der Hafen zum führenden britischen Containerhafen geworden. „Und wir werden weiter investieren, um diese Position bis weit in die Zukunft zu sichern“, so Lewis weiter. Für die kommenden Jahre sind Vertiefungsarbeiten im Hafenbecken angekündigt, um noch größere Schiffe „begrüßen“ zu können. Und Felixstowe soll einer von neun britischen Freihäfen werden, in denen Güter zukünftig steuerfrei umgesetzt werden. Gewerkschaften fürchten schon jetzt ein daraus resultierendes neues „Race to the bottom“ der De-Regulierung und lehnen das Konzept deshalb ab.

Doch nur einen Monat später lagen düstere Sturmwolken über dem Hafen. Dutzende Containerschiffe stauten sich vor der britischen Küste. An Land stapelten sich die Container, die kein Lkw abzuholen vermochte. Die Lagerkapazitäten von Felixstowe waren innerhalb von Tagen ausgeschöpft. Das „Just in Time“-Konzept funktionierte nicht mehr. Riesige Containerschiffe wurden nach Rotterdam oder Bremerhaven umgeleitet, damit für Großbritannien bestimmte Fracht dort auf kleinere Schiffe aufgeteilt werden konnte. Diese steuerten dann andere britische Häfen an, die mit Kalibern einer „Ever Ace“ überfordert gewesen wären. Inzwischen scheint sich die Lage vorläufig entspannt zu haben. Die Auswirkungen sind indes weiter spürbar, und haben systemische Ursachen, die jederzeit zu einer Neuauflage der Lieferengpässe führen können.

Ohne menschliche Arbeitskraft geht gar nichts im Hafen von Felixstowe

Christian Bunke

Krisen sorgen immer für das Zerplatzen von Illusionen. Da ist Covid-19 keine Ausnahme. Eine Illusion, die gerade nachdrücklich zerstört wird, ist jene von der modernen digitalisierten Industriegesellschaft, die völlig ohne menschliche Arbeitskraft auskommt. Das Gegenteil ist der Fall. Das zeigt sich am Beispiel chinesischer und taiwanesischer Mikrochip-Fabriken, deren Produktion durch Covid-19 zeitweise zum Erliegen kam – eine von vielen Ursachen für die derzeitige globale Lieferkettenkrise. Es zeigt sich an den überlasteten Krankenhäusern, denen zunehmend das Gesundheitspersonal fehlt. Und es hat sich in den Herbstmonaten in Großbritannien gezeigt, als unterschiedlichste Güter aufgrund eines Mangels an Arbeitskräften wochenlang kaum noch bewegt werden konnten. Mit drastischen Auswirkungen für alle Knotenpunkte im britischen Lieferkettennetzwerk, vom Hafen Felixstowe über Warenhäuser, Schlachthöfe und Supermärkte, bis hin zu den Zapfs e4ulen südenglischer Nachbarschaftstankstellen. Wenn keiner die Lkws fährt, dann bleibt buchstäblich alles liegen.

In Felixstowe kamen weitere Faktoren dazu, welche die Lage zusätzlich verkomplizierten. 40 Prozent des nach Großbritannien verschifften Containerverkehrs kommen hier an. Insgesamt erreichen 90 Prozent aller Importe Großbritannien über den Seeweg, was bei einem Inselstaat jetzt auch nicht besonders verwunderlich ist. Das macht diesen Staat aber verwundbar, wenn es zu Instabilitäten und Verwerfungen kommt. Spätestens seit Winter 2020/21 ist das der Fall, wenn man einem vom Verband britischer Hafenbetreiber, der British Port Association (BPA), herausgegebenen Papier Glauben schenken kann.

Das am 13. Oktober 2021 veröffentlichte Papier mit dem nüchternen Titel „Supply Chain Issues: Global Container Congestion Affecting UK Ports“ war eine direkte Reaktion darauf, dass multinationale Reedereien wie Maersk zu diesem Zeitpunkt aufgehört hatten, Felixstowe anzusteuern. Gleichzeitig stapelten sich in Felixstowe Reihen um Reihen von mit Spielwaren und anderen für den Weihnachtsverkauf bestimmten Gütern. Darunter zum Beispiel auch Hunderttausende Bücher, die schon längst kaum noch in Großbritannien, dafür aber in Kontinental-Europa oder sogar in China für den britischen Markt gedruckt werden.

Die BPA jedenfalls sieht diesen Stau als einen Aspekt einer Krise, von der weltweit zahlreiche Container-Häfen betroffen sind. Der Verband spricht von einer „in dieser Form noch nie dagewesenen Volatilität“, sowie von „unvorhersehbaren und sich ändernden Nachfragemustern“. Dies finde seinen Ausdruck einerseits in einem plötzlich entstandenen Überangebot an Gütern, die aus dem asiatischen Raum eintreffen, andererseits in einer nur schleppend verlaufenden Rücksendung leerer Container aus dem europäischen Raum, also auch Großbritannien. Die chinesische Wirtschaft sei früher aus dem Covid-19 Lockdown erwacht als die britische. Daraus sei eine Ungleichzeitigkeit erwachsen. Diese sei dadurch verschärft worden, dass große britische Warenhausketten sich früher als üblich mit Lagerbeständen für den Weihnachtsverkauf 2020 eindecken wollten. Dies habe den Container-Stau in Felixstowe und anderen Häfen weiter verschärft.

Spätestens hier kommt das Element menschlicher Arbeitskraft wieder ins Spiel, nämlich der eklatante Mangel an qualifizierten Lkw-Fahrern in Großbritannien. Im deutschsprachigen Raum sorgte dieser Mangel bereits im Spätsommer 2021 für Schlagzeilen, als Bilder von Autofahrern, die sich vor leeren Zapfsäulen prügelten, über die Fernsehschirme flimmerten. Zwischen 50.000 und 100.000 Fahrer und Fahrerinnen fehlen auf der Insel, hier schwanken die Angaben zwischen Branchenverbänden, Gewerkschaften und Regierungsstatistiken teilweise deutlich. Klar ist jedenfalls: Ohne Fahrer gelangt kein Diesel an die Tankstelle, und kein Container verlässt den Hafen Felixstowe.

Thatchers langer Schatten

Das Problem ist hausgemacht, liegt in der Natur kapitalistischer Ausbeutung begründet und hat wesentliche Ursachen im Thatcherismus der beginnenden 1980er Jahre. Dazu veröffentlichte die in der nordost-englischen Industriestadt Sheffield erscheinende Lokalzeitung „The Star“ Anfang November ein bemerkenswertes Interview mit dem Vorsitzenden des dortigen Ortsverbandes des britischen Gewerkschaftsbundes TUC, Martin Mayer. Vor 40 Jahren hätten die meisten großen Arbeitgeber in der Logistik, darunter Supermärkte, Ölfirmen und Industriebetriebe, noch ihre eigenen Lkw-Flotten gehabt. Deren Fahrpersonal sei in Gänze nach gewerkschaftlich ausgehandelten Flächentarifverträgen bezahlt worden. Doch dann folgte Thatchers Generalangriff auf die Gewerkschaftsbewegung. Um die Gewerkschaften zu brechen, seien immer mehr, kleinteilige Transportfirmen ohne Tarifverträge gegründet worden.

Das inzwischen sprichwörtliche „Race to the bottom“ – „das Rennen in den Abgrund“, nahm seinen Anfang. Die Löhne stürzten ab, dafür stiegen die Arbeitszeiten an. Damit einher ging ein Abbau der straßenseitigen Infrastruktur. Raststationen schlossen. Heute gibt es kaum noch sanitäre Anlagen sowie Parkplätze mit Übernachtungsmöglichkeiten für Lkw-Fahrer.

Allerdings wurde der Job dadurch zunehmend unattraktiv für Berufseinsteiger. Neben den niedrigen Löhnen liegt das auch an der teuren Fahrausbildung. Sie kann bis zu 5.000 Pfund betragen und ist von den angehenden Fahrerinnen und Fahrern selbst zu berappen. Diese machten in den vergangenen Jahrzehnten eine einfache Rechnung: Niedriglöhne gibt es bei geringeren Ausbildungskosten und (relativ betrachtet) besseren Arbeitsbedingungen auch in zahlreichen anderen Branchen. Auf Wiedersehen Lkw, willkommen Burger-Restaurant.

Laut Angaben der Gewerkschaft UNITE beträgt das Durchschnittsalter in der Branche inzwischen 55 Jahre. Eine ganze Generation Trucker geht in den kommenden Jahren in Rente. Übertüncht wurde dies bis zum Brexit zumindest teilweise durch osteuropäisches Fahrpersonal, das nun aber kaum noch vorhanden ist. Eine Kombination aus restriktiver Einwanderungspolitik und Corona-Pandemie hat dafür gesorgt.

Strukturwandel und Covid-Populismus

Die britische Regierung von Premierminister Boris Johnson reagierte auf die Logistikkrise mit einer Mischung aus Populismus und weiteren Angriffen auf die Arbeitsbedingungen des Fahrpersonals. Die populistische Seite der Medaille besteht in Aufforderungen des Wirtschaftsministeriums an die Branche, doch bitte höhere Löhne zu zahlen, um deren Attraktivität zu steigern. Zur selben Zeit wird die Attraktivität realpolitisch weiter gesenkt, etwa indem zulässige Höchstfahrzeiten am Steuer bis zum 9. Januar 2022 per Exekutiverlass erhöht wurden. Dadurch „dürfen“ Fahrer nun zehn Stunden täglich am Stück durchfahren, an zwei Tagen pro Woche sogar elf Stunden am Stück. Normalerweise sind nur neun Stunden durchgängige Fahrzeit gesetzlich zulässig. Die Gewerkschaft UNITE rechnet aufgrund dieses Anschlags auf den Arbeitsschutz mit einer Zunahme von Verkehrsunfällen durch übermüdete Arbeitskräfte. Es scheint: Menschen müssen sterben, dami t die Container aus Felixstowe herausrollen können.

Derweil sorgt die Logistikkrise für tiefer greifende Umstrukturierungen. Zu den Krisengewinnerinnen zählen unter anderem die britischen Eisenbahnen. Hier verzeichnen Regierungsstatistiken einen Anstieg des Transportvolumens. Dieses ist bei den Eisenbahnen von April bis Juni 2021 um 36,5 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres angestiegen. Unter anderem hat die Supermarktkette Tesco eine eigene schienen-basierte Transportinfrastruktur aufgebaut und Lieferprobleme damit vermieden. Kein Wunder, denn ein Güterzug ersetzt 70 Lkw. Der Wahnsinn globaler Lieferketten wird damit aber nicht beendet. So transportiert das Unternehmen laut eigenen Angaben geschlachtete Truthähne von Spanien nach Großbritannien mit der Eisenbahn. Währenddessen wurden hunderttausende Schweine in Großbritannien notgeschlachtet und buchstäblich auf den Müll geworfen, weil einerseits die nötigen Arbeitskräfte fehlen, andererseits der Lieferverkehr Richtung China covid-be dingt stockte.

Christian Bunke lebt in Wien. Er betreut die Rubrik „Ort & Zeit“.