Das Virus, das Kapital und die Solidarität

Eine Zwischenbilanz der Pandemie

„Im Mai sind wir aus dem Schneider!“ So kommentierte der Prager Ökonom und Kritiker der tschechischen Corona-Politik, René Levínský, die Epidemie-Situation in seinem Land. Er meinte damit, dass ein großer Teil der Bevölkerung dann Antikörper entwickelt habe, dass ein anderer großer Teil dann geimpft – und dass ein dritter Teil dann tot sei. Levínský: „Am Ende werden vielleicht 50.000 gestorben sein. Völlig unnötig.“ Tschechien weist aktuell weltweit die höchste Zahl der Corona-Toten bezogen auf 100.000 Menschen auf.1

„Bis September werden alle Bundesbürger ein Impfangebot haben.“ So die deutsche Kanzlerin mit Blick auf die Bundestagswahl im selben Monat. Dann werden in Deutschland weit mehr als 80.000 Menschen den Corona-Tod gestorben sein. Das sind zwanzigmal so viel, wie im Eineinhalbjahres-Zeitraum im Verkehr auf deutschen Straßen derzeit zu Tode kommen.2

„Wir sind auf dem besten Weg, jeden Amerikaner bis Ende Mai zu impfen“. So US-Präsident Joe Biden Anfang März. Bis zu diesem Zeitpunkt werden in den USA mehr als 600.000 Menschen den Corona-Tod gestorben sein. Das sind mehr als alle Toten, die das Land im Ersten Weltkrieg, im Zweiten Weltkrieg, im Korea-Krieg und im Vietnam-Krieg insgesamt zu beklagen hatte.3

Wird es so kommen? Ist die Pandemie bis Herbst „weggeimpft“? Der zitierte Levínský äußerte: „Wir sagen auf Tschechisch: Was das Auge nicht sieht, tut dem Herzen nicht weh. Andere werden sagen: Ja, das Leben hat halt seine Risiken.“ Können wir jetzt Flüge buchen und den Reinhard Mey-Klassiker anstimmen, wonach „über den Wolken […] alle Ängste, alle Sorgen […] plötzlich nichtig und klein“ sind?

Nein, so wird es nicht kommen. Erstens weil die Pandemie menschengemacht ist. Solange die Ursachen, das Zurückdrängen von Wildnis, Natur und Tierwelt gepaart mit einer immer gigantischeren Massentierhaltung nicht beseitigt sind, werden weiter Viren aus der Tierwelt, die bei Menschen Epidemien auslösen, auf Menschen übertragen. Es wird zu neuen Pandemien kommen – und dies in immer kürzeren Zeiträumen. Indem der Epidemie mit den Jojo-Lockdowns immer auf´s Neue freier Lauf gegeben wird, entwickeln sich vermehrt Mutationen, die irgendwann kaum mehr „wegimpfbar“ sein könnten.

Zweitens weil der Pandemie-bedingte Lockdown nur ein Vorgeschmack ist auf die Lockdowns, die ab Erreichen des ersten Kipppunktes in der Klimakrise drohen. So wie die Corona-Epidemie viel mit kapitalistischer Globalisierung zu tun hat, so ist die Klimaerhitzung menschengemacht und Ausdruck des neuen Zeitalters Anthropozän: Zum ersten Mal in der Entwicklungsgeschichte der Erde sind die Menschen bzw. die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft die wesentlichen Einflussfaktoren, die die Entwicklung des Planeten bestimmen. Das Ignorierens der Pandemie – genauer: die darwinistische Grundhaltung, mit der ihr begegnet wird – weisen weitreichende Parallelen zur Nichtwahrnehmung des Klimawandels auf.

Drittens weil der Umgang mit der Pandemie auch ein Test auf die Stärke der Zivilgesellschaft und der elementaren Kräfte zur Verteidigung von Leben und zur Praktizierung von Solidarität ist. In diesem Test versagen die westlichen Gesellschaften; die Glaubwürdigkeit der Regierenden hat einen Tiefpunkt erlangt. Die Affäre um Bundestagsabgeordnete, die sich an der Vermittlung von Masken bereicherten, wird als „schamlos“ bezeichnet. Man dürfe keinen Gewinn aus dem Leid anderer Menschen beziehen. Stimmt! Doch die Biontech-Eigentümer wurden durch ihre Erfindung Multimilliardäre – ein Vermögenszuwachs, ausschließlich bezogen aus menschlichem Leid. Sie erhielten das Bundesverdienstkreuz. Die gesamte Pharmaindustrie, deren Grundlagenforschung überwiegend staatlich finanziert wird, bezieht Dutzende Milliarden Dollar-Profite aus dem Corona-Leid von Millionen. Sie arbeitet ineffizient und verdient umso mehr, je länger die Pandemie währt. Eine neue O xfam-Studie kommt zu dem atemberaubenden Ergebnis: In der Corona-Krise – und teilweise als Ergebnis derselben – vermehrte sich das Vermögen der zehn reichsten Milliardäre um einen größeren Betrag als die Impfungen für die gesamte Weltbevölkerung kosten würden.4

Bis zum 10. März starben weltweit mehr als 2,6 Millionen Menschen den Corona-Tod. 525.000 in den USA. 750.000 in der EU plus Großbritannien, die Schweiz und Norwegen. 650.000 in Lateinamerika. Wie lässt sich erklären, dass gut drei Viertel aller Corona-Toten auf Regionen entfallen, in denen nur 18 Prozent der Menschheit leben? Oder: Warum starben in den Niederlanden 26mal mehr den Corona-Tod als in Australien – bei vergleichbarer Einwohnerzahl? Warum in Irland 174mal mehr als in Neuseeland – zwei Inseln mit vergleichbarer Einwohnerzahl? Warum in Italien 52mal mehr als in Südkorea – bei vergleichbarer Einwohnerzahl? Warum auf der reichen Halbinsel Florida 48mal mehr als auf der armen Insel Kuba?5

Die wesentliche Erklärung für diese Unterschiede könnte lauten: Dort, wo die kapitalistische Dynamik ungehemmt auf die Bevölkerung einwirkt, gibt es die meisten Pandemieopfer. Anders formuliert: Dort, wo es starke zivilgesellschaftliche Kräfte gibt, die erfolgreich an die menschliche Vernunft und an die Solidarität appellieren und die damit einen rationalen Umgang mit der Pandemie erreichen, gibt es die wenigsten Opfer. Letztere Funktion kann auch ein asiatisch geprägter, autoritärer Staat wahrnehmen, was auf China, Südkorea, Taiwan und Japan zutreffen dürfte. Die Länder, in denen eine No-Covid-Politik praktiziert wird, vereinen inzwischen mehr als ein Viertel der Menschheit auf sich. Sie sind der praktische Beweis dafür, dass eine weitgehende Eindämmung der Pandemie möglich ist, dass damit Lockdowns eine wesentlich kürzere Zeit beanspruchen und viele psycho-soziale Belastungen ausbleiben. Und dass im anderen Teil der Welt Hunderttausende Menschen unnötig den Corona-Tod fanden.

Das Kapital geht bei der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft grundsätzlich über Leichen. Alles, was dabei hemmt, wird erbittert bekämpft. So ist es logisch, dass politische Rechte wie Alexander Gauland mit dem Begriff „Corona-Diktatur“ hetzen und Kapitalvertreter wie Elon Musk Fabrikschließungen als „Faschismus“ bezeichnen. Als in Deutschland Anfang 2021 eine breite Initiative forderte, das menschliche Leben ins Zentrum zu rücken und eine Zero-Covid-Politik zu betreiben, kritisierte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, das dem Industrie-Verband BDI angegliedert ist, Michael Hüther, diese Zielsetzung auf klassisch darwinistische Weise: „So richtig der Hinweis ist, dass jeder Todesfall menschliches Leid und Trauer begründet, so gilt ebenso, dass jedes Leben nur ein Leben zum Tode ist; ein Thema, das philosophische Diskurse seit jeher erfasst.“6

Anmerkungen:

1 Mit Stand 9. März 2021 zählt die Tschechische Republik 22.147 Corona-Tote. Zitat: Réné Levínský-Interview in: Süddeutsche Zeitung vom 9.3.2021.

2 Am 9. März 2021 werden in Deutschland 72.534 Menschen gezählt, die „an und mit Corona“ den Tod fanden. 2020 starben im Straßenverkehr in Deutschland 2724 Menschen.

3 Die USA zählten im Ersten Weltkrieg 113.000, im Zweiten Weltkrieg 407.000, im Korea-Krieg 40.000 und im Vietnamkrieg 58.000 Tote. Gesamt knapp 620.000. Übrigens: Es gab im Ersten Weltkrieg, im Koreakrieg und im Vietnamkrieg in den USA keine Übersterblichkeit. Eine interessante Frage an diejenigen, die sich aktuell mühen, die – allerdings erkennbare – Übersterblichkeit in Ländern mit hohen Corona-Opferzahlen zu leugnen, lautet: Sind dann die Kriegstoten erfunden oder eine zu vernachlässigende Größe? Am 9.3.2021 wurden in den USA 527.643 Corona-Tote registriert.

4 https://www.oxfam.de/presse/pressemit teilungen/2021-01-25-milliardaere-profitieren-trotz-pandemie-aermsten-abgehaengt

5 Detaillierte Angaben und Quellen zu Australien, Niederlande, Irland, Neuseeland, Südkorea und Italien siehe Seite 65. In Florida starben bis zum 8.3.2021 31.889 Menschen den Corona-Tod, was bei einer Einwohnerzahl von 21 Millionen Menschen bedeutet, dass 152 Menschen bezogen auf 100.000 Menschen starben. In Kuba liegt diese Zahl zum selben Zeitpunkt bei 3,1 (die Grunddaten zu Kuba ebenfalls auf Seite 65).

6 Michael Hüther in: Cicero vom 13.1.2021: https://www.cicero.de/wirtschaft/corona-lockdown-lockerung-lebensschutz-insolvenzen-michael-huether