Das „Corona-Konzert“ & die Entschleunigung danach

Bernd Köhler (LP21-Autor)

Corona wird für mich immer verbunden sein, mit der Erinnerung an ein besonderes Konzert, das kurz vor dem Lockdown gerade noch so über die Bühne gebracht werden konnte. Die Veranstaltung stand im Zusammenhang mit der Herausgabe eines Buchs mit Liedern und Texten aus der Zeit zwischen 1967-89. Über dieses „versiffte 68” also und seine Folgejahrzehnte mit einem weltweiten Aufschwung revolutionärer Kämpfe um Emanzipation und Selbstbestimmung, die ich mit meinen Songs begleitet, interpretiert, manchmal auch zu befeuern versucht habe.

Ort der Veranstaltung war das Ludwigshafener Kulturzentrum „dasHaus”, Ende der 60er Jahre mit Veranstaltungsreihen zu aktuellen politischen Themen und einer Experimentierbühne, ein Kristallisationspunkt des kulturellen Aufbruchs in der Region. Floh de Cologne war hier zu Gast, genauso wie die Jazz-Legende Schnuckenack Reinhardt oder die Migranten Juan und José, die uns die Lieder des spanischen Widerstands gegen die Franco-Diktatur zu Bewusstsein brachten. Diesen Ort hatte ich für die Buchvorstellung in der Region ausgewählt. In diesem Milieu, rund um die „Anilin”, wie die BASF* ortsüblich kurz genannt wurde, bin ich aufgewachsen. Hier gab es erste Auftritte mit eigenen Songs.

Über ein halbes Jahr hatten wir an der Veranstaltung gebastelt. Wir, das war das Ludwigshafener Stadtmuseum, das Stadtarchiv und das Konzertbüro von „dasHaus”. Es gab ein aufmerksames mediales Feedback, der Vorverkauf lief gut.

… UND DANN KAM CORONA

Klar hatten wir die Geschichten aus China wahrgenommen. Der verzweifelte Kampf gegen die rasende Ausbreitung der Seuche. Aber wer überträgt so was gleich auf die heimische Region oder auf die persönlichen Aktivitäten. Trotz medialer Vernetzung – China und das Virus waren weit weg. In der Nacht vor dem Konzert erließ die Stadtverwaltung eine Auflage, dass alle Veranstaltungen mit mehr als 100 Menschen nur noch unter strengen Auflagen stattfinden konnten. Die Vorgabe war der Dynamik der Virus-Ausbreitung und den Berichten bzw. Bildern aus Norditalien oder dem nahen Elsaß geschuldet.

Aus dem etwas abgelegenen Backstage-Raum sah ich die Schlange der Leute, die ihre Kontaktdaten, Angaben über Krankheiten und momentanen Gesundheitszustand auf einer A4-Seite eintragen mussten. Gestandene Genossinnen und Genossen, die mit subtilen Methoden schon mal eine Volkszählung zu Fall gebracht oder im Kampf gegen ihre Einberufung zur Bundeswehr öffentlich ihre Wehrpässe verbrannt hatten. Und jetzt DAS – bizarr.

Es folgte ein langer Konzertabend bei dem in den Pausen viel über den Mindestabstand geredet aber wenig eingehalten wurde (trotzdem erinnere ich, einige Male mehr auf der Toilette gewesen zu sein, um meine Hände zu waschen) – ein Abend, der auch von der Vorahnung getragen wurde, dass es vielleicht für lange Zeit das letzte Mal sein sollte, dass wir unseren Zusammenhalt auch körperlich nah erleben, gemeinsam besingen und bejubeln konnten.

Am Tag danach kam das allgemeine Veranstaltungsverbot, gefolgt von den Mails mit Auftrittsabsagen bis in die Jahresmitte hinein. Die Dimension der Zäsur wurde real und für viele Leute aus dem Bereich der Kultur auch existentiell, und doch – im Gegensatz zu anderen – empfand ich die plötzlich freigeworden Zeit fast als ein Geschenk. Die autoentleerten Straßen, die allgemeine Entschleunigung oder der kondensstreifenfreie Himmel machten die Vision eines Lebens im Gegensatz zur kapitalgetriebenen Dynamik erfahrbar. Wie im stillen Loch des Hurrikans sezierte sich unsere Wirklichkeit auf das Wesentliche, Grundlegende. Eine Erfahrung, die es nun, in den Zeiten danach, künstlerisch wie politisch festzuhalten und programmatisch fortzuführen gilt..

Bernd Köhler ist Liedermacher und Grafiker. Er entwickelte das Layoutkonzept für die Lunapark21 und ist Teil des LP21-Teams. Seine aktuelle Veröffentlichung ist der Lied- und Textband Nachrichten vom Untergrund (Llux-Verlag). Ende 2020 erscheint HaltLos – Texte und Lieder 1990-2020.

* BASF heißt ausgeschrieben Badische Anilin- und Soda-Fabrik. Seit 1897 wird Anilin (auch Benzenamin) von der BASF zur Synthese des vorher aus pflanzlichen Rohstoffen gewonnenen Farbstoffs Indigo eingesetzt.