Das 15-Dollar-Ding

Seattle, USA: Weltweit höchster Mindestlohn erkämpft
Lucy Redler. Lunapark21 – Heft 27

„We did this – worker did this“, rief die sozialistische Stadträtin Kshama Sawant ihren Anhängerinnen und Anhängern am 2. Juni 2014 bei der Einführung des 15-Dollar-Mindestlohns im Stadtrat von Seattle zu. An diesem Tag beschloss das neunköpfige Gremium einstimmig ein neues Gesetz, demzufolge der Mindestlohn in Schritten auf 15 US-Dollar pro Stunde (=11,45 Euro) angehoben wird. Der Stadtrat folgte damit der zentralen Wahlkampfforderung Sawants. Angesichts des deutschen Schweizer-Käse-Mindestlohns von 8,50 Euro mögen sich deutsche Linke verwundert die Augen reiben und fragen: Wie war das möglich?

Auch in den USA war die Überraschung groß. „Als höchster Mindestlohn des Landes verändert dieser die Bedingungen für die Debatte über den Mindestlohn insgesamt und erweitert die Bandbreite für mögliche neue Mindestlohnstandards,“ kommentierte die New York Times das Erreichte am 6. Juni treffend. US-weit liegt der Mindestlohn bei 7,25 US-Dollar (5,34 Euro), im Bundesstaat Washington bei 9,32 Dollar (7,11 Euro). Die Anhebung in Seattle bedeutet im Vergleich zu Letzterem ein sattes Plus von 60 Prozent.

Drei Faktoren waren für den Erfolg wesentlich: Erstens hat sich in den USA seit der Wirtschaftskrise 2007/2008 das Bewusstsein über die wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich rasant verändert. Laut Spiegel bezog das oberste eine Prozent der Gesellschaft 1978 noch ein Jahreseinkommen von durchschnittlich 394000 US-Dollar, 2010 waren es bereits 1,1 Millionen. Im gleichen Zeitraum sank das Einkommen eines durchschnittlichen männlichen Arbeiters dagegen kaufkraftbereinigt von 48000 auf 34000 Dollar[1]. „Das ist ein Zeichen der Zeit“ kommentiert Kshama Sawant diese Veränderungen. „Die große Rezession bedeutet für 99 Prozent einen Rückschlag. Die Leute haben es satt, ihre Jobs, Wohnungen und Renten zu verlieren.“ Und an der wachsenden Ungleichheit ändert sich laut Sawant auch mit dem neuen Wirtschaftsaufschwung nichts: „Obwohl in jüngster Zeit wieder von Wirtschaftswachstum die Rede ist, so war das nur eine Erholungsphase für das reichste eine Prozent, während wir, der Rest, zurückfallen.“ Und tatsächlich fand eine Studie der Universität Berkely heraus, dass das obere eine Prozent zu 95 Prozent von dem derzeitigen schwachen „Aufschwung“ profitiert.[2]

Ein wesentlicher Ausdruck dieser neuen Stimmung war die Occupy-WallStreet-Bewegung in den USA. „Capitalism has failed the 99%“ – war einer der zentralen Slogans. Die Bewegung erreichte keine erkennbaren Erfolge, veränderte jedoch das Bewusstsein nachhaltig, indem sie die Frage der Ungleichheit ins Zentrum rückte.

Der zweite wichtige Faktor waren Streiks und Proteste der Fast-Food-Arbeiter, die sich seit 2013 von New York über das ganze Land ausbreiteten und die Forderung des 15-Dollar-Mindestlohns bekannt machten. Ähnlich wie die Streiks im deutschen Einzelhandel waren dies Streiks von Minderheiten, deren ökonomische Auswirkungen begrenzt blieben, die aber viel politische Unterstützung aus der Gesellschaft erhielten. Am 15. Mai diesen Jahres kam es in 150 US-Städten zu „15now“-Protestaktionen. Am 4. September streikten Fast-Food-Beschäftigte in vielen Städten der USA, um der Mindestlohnforderung Gehör zu verschaffen.

Drittens: Der subjektive Faktor, der für die Mindestlohnkampagne in Seattle den entscheidenden Unterschied machte, war der Wahlsieg von Kshama Sawant im November 2013 und die von ihr gestartete „15now“-Initiative (15 Dollar Mindestlohn jetzt!). Als Mitglied der Socialist Alternative (Schwesterorganisation der SAV in den USA) wurde Kshama Sawant als erste Sozialistin in den Stadtrat von Seattle seit 1916 gewählt. „Ich trage das Abzeichen ‘Sozialistin’ mit Stolz“, verkündete sie bei ihrer Amtseinführung, nachdem sie sich mit 93000 Stimmen gegen den langjährigen demokratischen Amtsinhaber Richard Conlin durchgesetzt hatte. Sawants zentrale Wahlkampfforderung war die Einführung des 15-Dollar-Mindestlohns in Seattle – nachdem in der Kleinstadt Seatac in der Nähe von Seattle ein solcher Mindestlohn durch ein Referendum mit hauchdünner Mehrheit beschlossen wurde. Unmittelbar nach ihrer Wahl nutzte sie ihre Medienöffentlichkeit und den Stadtratssitz als politische Plattform, um an den Aufbau der Bewegung für einen 15-Dollar-Mindestlohn zu gehen. Die 15now-Initiative bietet Beschäftigten und Aktiven einen Rahmen, selbst aktiv zu werden und arbeitet mit den Gewerkschaften zusammen.

Der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes AFL-CIO in der Region Seattle, David Freiboth, misst der Rolle von 15now und Socialist Alternative eine hohe Bedeutung zu: „Es mag sein, dass die Gewerkschaft die effektivste aller Basisorganisationen sein möchte. In diesem Fall war sie es allerdings nicht. Schlimm war das jedoch deswegen nicht, weil wir mit ‘Socialist Alternative’ schließlich einen Partner hatten, der diese Aufgabe übernommen hat. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, denen es schwer gefallen ist, einzugestehen, dass 15now die Basis besser organisieren konnten als wir. Ich bin der Meinung, dass sie das tatsächlich hinbekommen haben.“[3]

Druck von unten
Die Stimmung in der Bevölkerung gab Sawant und 15now Rückenwind: Im Januar sprachen sich 68 Prozent der Wahlberechtigten in Seattle für die sofortige Einführung eines Mindestlohns von 15 US-Dollar ohne Ausnahmen und Verzögerungen aus.[4] Der Aufbau von Nachbarschaftskomitees, die Durchführung von Demonstrationen und Veranstaltungen und die Drohung der Durchsetzung einer Volksabstimmung zeigten im Frühjahr diesen Jahres Wirkung: Auf einmal waren alle neun Mitglieder des Stadtrats für die Einführung des Mindestlohns, die Demokraten hatten offenbar Angst, von links überrannt zu werden. Der Bürgermeister Ed Murray leitete einen Verhandlungsprozess ein, um eine Volksabstimmung zu verhindern.

Im Zuge dieses Prozesses setzte die Unternehmerseite einige Einschränkungen durch: So wird der 15-Dollar-Mindestlohn je nach Betriebsgröße in Stufen eingeführt (zwischen drei und zehn Jahren). Hinzu kommen in den ersten Jahren Ausnahmen für solche Beschäftigte, die im Rahmen ihrer Tätigkeit Trinkgelder erhalten oder in einem Betrieb mit betrieblicher Gesundheitsversorgung arbeiten. Kshama Sawant und ihr Mitstreiter Patrick Ayers bewerteten das Ergebnis wie folgt: „Auch wenn das Erreichte ein riesiger Fortschritt ist, gibt es keinen Grund zu leugnen, dass der letztlich vom Stadtrat beschlossene Mindestlohn auch die Handschrift der Unternehmerseite trägt. Dieses Ergebnis war nicht unausweichlich. Leider war die Strategie der Gewerkschaftsführung nicht darauf ausgerichtet die Bewegung von unten aufzubauen, sondern sie orientierten sich an den vom Bürgermeister ausgerichteten Verhandlungen mit der Unternehmerseite.“[5]

Kämpfen lohnt sich
Bis zur letzten Stunde haben Kshama Sawant und die 15now-Initiative gegen diese Einschränkungen gekämpft und Änderungsanträge in den Stadtrat eingebracht. Doch nichtsdestotrotz ist das Ergebnis herausragend und US-weit eine Ermutigung. Es ist nicht auf geschickte Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, sondern auf den Druck von unten zurück zu führen. Bereits ab April 2015 steigen die Löhne von 100000 Beschäftigten der nordwestlichen Großstadt signifikant an. Bis 2025 steigen alle Löhne auf 18 US-Dollar. Von heute bis 2025 werden damit drei Milliarden US-Dollar von den Unternehmen und Reichen an die ärmsten Schichten der Lohnabhängigen in Seattle umverteilt. „Am Ende“, so Arun Ivatury und Rebecca Smith in einem Bericht für CNN.com am 15. Mai, „zeigt das Ergebnis von Seattle, was die Geschichte wieder und wieder unter Beweis gestellt hat: Wenn Arbeitskräfte gut organisiert sind und es breite Unterstützung für höhere Löhne gibt, müssen selbst Unternehmen, die sich gegen diese Idee wenden, schließlich mehr bezahlen.“[6]

Vor Ort dabei
Ich hatte die Möglichkeit und das Glück, in diesem Sommer fünf Wochen in Seattle zu verbringen, aus der Bewegung für den Mindestlohn zu lernen und mit Kshama Sawant und anderen Genossinnen und Genossen zu diskutieren. Der Erfolg zeigt, dass eine kleine, aber gut organisierte Kampagne von Sozialisten mit einer kühnen Forderung einen großen Unterschied machen kann, wenn sie sich auf die Stimmung und Proteste in der Bevölkerung stützt. Der Kampf macht auch deutlich, wie Ayers und Sawant im sozialismus.info schreiben, „dass in einem auf Profit basierenden System, die Konzerne ihren Reichtum immer mit aller Macht verteidigen werden.“ Die Offenheit für Sozialismus wächst derzeit in den USA – vor allem unter afro-amerikanischen Menschen und Jugendlichen. Auch wenn es noch viel Unklarheit darüber gibt, was Sozialismus bedeutet (und ich selbst einige Menschen traf, die meinen, in Skandinavien gäbe es Sozialismus), so bedeutet dieser (nicht widerspruchslose) Trend nach links in der US-Gesellschaft eine bedeutende Möglichkeit zum Aufbau einer dritten Partei links von Demokraten und Republikanern, kämpferischer Gewerkschaften und sozialistischer Kräfte.

Aus der US-amerikanischen Arbeiterbewegung ist der Slogan bekannt: „An injury to one is an injury to all“ („Wenn ein einzelner Unrecht erfährt, dann erfahren alle Unrecht“). Dasselbe gilt auch für Erfolge: Ein Erfolg der Arbeiterbewegung in den USA ist ein Erfolg für Lohnabhängige weltweit. Im Kampf um höhere Löhne sollten sich die deutschen Gewerkschaften und die politische Linke ein Beispiel an Seattle nehmen. In den USA findet der Kampf für 15 US-Dollar bereits Nachahmer in einer Reihe von Städten, in die sich 15now ausbreitet.

Mit den Worten Kshama Sawants in ihrer Rede nach dem Beschluss des Mindestlohns: „15 Dollar in Seattle sind nur der Anfang. Wir haben eine ganze Welt zu gewinnen.“

Anmerkungen:

[1] Markus Grill: Angriff der Heugabeln, Der Spiegel, 31/2014, S. 62

[2] Ramy Khalil: How a socialist won – a Playbook from Seattle, 31.1.2014

[3] Zit. nach: A. B. Dean, People Make Up Our City: Why Seattle’s $15 Minimum Wage Is a Sign of Things to Come, 28.6.2014, http://truth-out.org/news/item/24608-people-make-up-our-city-why-seattles

[4] P. Ayers, K. Sawant, Seattle: Der höchste Mindestlohn der Welt, in: sozialismus.info Nr. 22, S. 28

[5] Ebenda, S. 31

[6] A. Ivatury/R. Smith: Fight for $15 an hour is winning in Seattle, CNN, 15.5.2014, http://edition.cnn.com/2014/05/13/opinion/ivatury-minimum-wage-15-seattle/

Material zum Thema: Die „Süddeutsche“ über Kshama Sawant
Kshama Sawant war eine zornige junge Frau, als sie 1996 ihre Familie im indischen Mumbai verließ und in die Vereinigten Staaten auswanderte. Sie hatte genug vom Kastensystem und suchte nach einem neuen Leben in einem wohlhabenden Land – nur um festzustellen, dass die Armut in den USA noch „ausgeprägter“ war als in Indien, wie sie später bekannte. Sawant studierte Ökonomie und bekam einen Lehrauftrag am städtischen Community College in Seattle. Im Zuge der Finanzkrise radikalisierte sie sich, machte mit bei der Occupy-Bewegung und schloss sich der „Socialist Alternative“ an (…). Im November 2013 wurde sie in den Stadtrat von Seattle gewählt, was angesichts ihres politischen Hintergrundes als Sensation galt. (…)
Aktivistin Kshama Sawant zeigte, dass sie mit drohenden Jobverlusten umzugehen bereit ist. Nachdem Boeing, einer der wichtigsten Arbeitgeber Seattles, damit gedroht hatte, wegen des Mindestlohns die Produktion in andere Bundesstaaten zu verlagern, sagte Sawant nach einem Bericht des lokalen Fernsehsenders KiroT: „Falls die Boeing-Manager die Fabrik nicht hier lassen wollen, kann unsere Antwort nur sein: Die Maschinisten sagen: Die Maschinen sind hier. Die Arbeiter sind hier. Wir machen den Job. Wir brauchen keine Manager. Die Maschinisten machen den Job, nicht die Manager.“ Das wäre ohnehin nur der erste Schritt. Sawants Partei, Socialist Alternative, will die 500 größten Unternehmen Amerikas in Volkseigentum überführen.“
Nicolaus Piper, Das 15-Dollar-Fanal, in: Süddeutsche Zeitung, vom 3. September 2014 (Auszüge)Ú

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