Blasenbildung

Die Finanzbranche als Klotz am Bein des Kapitalismus

Trotz allem, Corona treibt auch ein paar schöne Blüten. Die Wirtschaftswoche, Pflichtblatt an der Frankfurter Börse, stellte Karl Marx auf den Titel, auf rotem Grund mit gewaltiger Mähne und Atemmaske. „Er ist wieder da!“ kündet die Ausgabe vom 9. April.

Der Artikel ist dann aber das Gegenteil einer Rehabilitation des Autors des Kapital. Zwar konstatiert die Wirtschaftswoche, dass der sich abzeichnende „Zusammenbruch der Wirtschaft vor allem die Armen und die untere Mittelschicht“ treffe und „purer Kapitalismus“ eben nicht Wohlstand für alle produziere. Sorge bereite dennoch der Furor, mit dem nun die „Steinzeitsozialisten“ reagierten. Als solche nennt der Text Sahra Wagenknecht, Saskia Esken und den „Posterboy der Neuen Linken“, Kevin Kühnert. Aber auch Papst Franziskus, Markus Söder und Horst Seehofer, der bezahlbares Wohnen als die „soziale Frage unserer Zeit“ erkannte, geraten in die Kritik. Corona katapultiere „linke Randpositionen ins Zentrum der politischen Debatte“.

Was offenbar umso gefährlicher ist, als sich unser Wirtschaftssystem schon längst auf dem Weg in den Sozialismus befinde. Verantwortlich dafür seien – nein, nicht die Proletarier aller Bundesländer, sondern – Staat, Banken und Großkapital, die die wirtschaftliche Basis des Bürgertums, als dem Fundament des Kapitalismus, aufreiben würden.

Die gute Nachricht: Mit Staat, Banken und Großkapital an ihrer Seite kann für die sozialistische Linke eigentlich kaum noch etwas schief gehen. Die schlechte: Die Identifizierung von Bolschewismus und internationalem Finanzkapital als Feinde des Bürgertums hat sich schon einmal als grausige Täuschung erwiesen.

Geldsozialismus

Was die Wirtschaftswoche, eine durchaus respektable Zeitschrift, in diesem Artikel ideologisch unangemessen verdaut, sind die Kriseninterventionen von Staaten und Notenbanken, die seit 1987 auf jeden Crash mit Öffnung der Geldschleusen reagiert und so den „Bankrott von Firmen, Banken und Staaten zugleich verhindert und bestätig“ hätten. Regierungen, Notenbanken und Finanzmärkte seien inzwischen informell so weit miteinander verflochten, dass sie eine „exekutive Macht“ ohne Mandat darstellten. Mit Kapitalismus habe das nichts mehr zu tun, ein System strukturierter Verantwortungslosigkeit führe in einen „Geldsozialismus“, in dem „Staaten auf nie versiegende Geldquellen zurückgreifen und private Finanzinvestoren sichere Renditen abschöpfen“ würden.

Was hier durchschlägt ist der Katzenjammer nach durchrauschtem Boom. Der Kapitalismus, dessen Prinzipien die Unternehmen zwingt, immer mehr und immer schneller zu produzieren, stößt alle paar Jahre an Grenzen der Verwertung. Dann stockt der Warenabsatz, einige Unternehmen gehen Pleite und schaffen dadurch Platz für die stärkeren und für einen neuen Aufschwung.

So einfach läuft die Sache leider nicht immer ab. Nach einigen Perioden von Auf- und Abschwüngen fallen die Krisen heftiger aus. Um die Kapitalverwertung wieder zum Laufen zu bringen, müssten so viele Firmen dicht machen, dass das Ausmaß von Anlagenzerstörung, Arbeitslosigkeit und sozialem Elend den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährden würde.

Es sind vor allem die Vertreter des Kapitals, die dann nach dem Staat rufen, weshalb es ein wenig wohlfeil klingt, wenn die Wirtschaftswoche es jetzt bedauert, dass in den vorangegangenen Krisen „Firmen, Banken und Staaten“ nicht dem Bankrott überlassen wurden.

Doch die Klage ist nicht unberechtigt. Während der vergangenen vier oder fünf Jahrzehnte wurde es zunehmend schwieriger, den hinzu gewonnenen Reichtum produktiv anzulegen, also den Mehrwert in Kapital zu verwandeln, was wiederum heißt, mehr Fabriken zu bauen, mehr Waren herzustellen und mehr zu verbrauchen. Etwas Zwischenluft verschaffte die kapitalistische Öffnung des ehemaligen Ostblocks und Chinas. In den Krisen aber wurde eine ausreichend große Kapitalvernichtung als Voraussetzung für einen soliden Aufschwung vermieden. Aus gutem Grund, denn eine lange Phase der Prosperität wie in den 1950er und 60er Jahren um den Preis eines Zerstörungswerks, wie es der Zweite Weltkrieg hinterlassen hatte, kam niemals in Betracht.

Wohin mit den Überschüssen?

Wohin also mit den Überschüssen, wenn die Märkte weitgehend gesättigt, eine Erhöhung der Warenproduktion nicht lohnt?

Es bleibt der Finanzsektor. Man verleiht sein Geld, vorzugsweise an diejenigen, die noch produktive Investitionen tätigen. Doch auch da wird es eng. Während das Geschäft der Banken bis in die frühen 1970er Jahre darin bestand, auf Basis ihrer Einlagen Kredite und Investitionen in Unternehmen der Industrie und des Handels zu stecken, fließt heute nur noch ein geringer Teil, um 15 Prozent, in den produktiven Sektor. Das meiste Geld geht an Inhaber von Immobilien, fließt in den Kauf von Aktien oder Anleihen, womit dann oft wieder neue Immobilien, Aktien oder Anleihen gekauft werden. So hat sich die Wertschöpfung des Finanzsektors als Anteil am Bruttoinlandsprodukt der USA seit 1975 auf knapp acht Prozent fast verdoppelt (siehe Grafik). Dabei werden mit relativ wenigen Beschäftigten enorme Gewinne erzielt. Rund ein Viertel alle Unternehmensgewinne entfallen in den USA auf den Finanzsektor, und ähnlich dürfte es in einigen anderen entwickelten Ländern aussehen.

Schulden sind der Lebenssaft der Finanzbranche – von Banken, Versicherungen, Hedge- und Investment-Fonds, Renten- und Pensionskassen. Mit ihrem Aufstieg zur Finanzindustrie haben sich Schulden, öffentliche wie private, aufgetürmt zur Systemrelevanz, so dass in der Krise auch Kredite mit Krediten gestützt werden müssen. Dann kommt es zu jener „von Verantwortungsdiffusion geprägten Melange aus Staat, Banken und Großkapital“, gegen die sich die Wirtschaftswoche empört.

Inzwischen investieren auch Industrieunternehmen, etwa der Automobilbranche und der Luftfahrt, ihre Profite im Finanzsektor, da die Erweiterung ihrer Produktion bzw. Dienstleistung zu wenig Gewinn verspricht. Deshalb greift eine Unterscheidung von produktivem und unproduktivem Kapital zu kurz, woraus sich erklärt, dass der Wirtschaftswoche nur noch die mittelständischen Betriebe als Vertreter eines ehrlichen Kapitalismus erscheinen. Der Rest ist des Teufels, der sich als Karl Marx verkleidet in die Corona-verseuchte Debatte geschlichen zu haben scheint. Und wie Goethe im Faust, so läßt auch die Wirtschaftswoche ihren Mephisto Wahrheit künden, zum Beispiel über die Staatsschuld: „Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital“.

Kapital als Fiktion

Die Kredite lasten aber nicht nur als zu tilgende Schuld auf den Unternehmen, sondern ihre Verzinsung speist sich am Ende aus der Profitmasse, die der produktive Sektor erwirtschaftet. In ihrem extravaganten Umfang drohen die Kredite die reale Wirtschaft allmählich zu erdrücken. Denn all die Finanzprodukte, Finanzierungsinstrumente und Derivate stellen nur fiktives Kapital dar, sie verkörpern einen Anspruch auf spätere Einlösung gegen sachliches Produkt oder Dienstleistung, gegen realen Wert.

All die Zinsen, die die diversen Finanzprodukte abwerfen sollen, müssen am Ende aus der Mehrwertmasse der Güterproduktion finanziert werden. Das heißt, die Profite des Finanzkapitals gehen zu Lasten der anderen Kapitalsektoren. Anders formuliert: Die Produktionsverhältnisse hindern die gesellschaftliche Produktivkraftentwicklung.

Es scheint, der produzierte Mehrwert würde gar nicht mehr ausreichen, all die Forderungen der aufgetürmten Finanztitel zu bedienen. Sofern Kredite nicht getilgt werden, werden die Ansprüche durch neue Ansprüche bedient und wachsen zu Pyramiden empor. Das Kreditgebäude ist zu groß, um dessen Einsturz zu riskieren. Wenn zum Beispiel in Japan die Staatsschuld zirka 250 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts beträgt, läßt sich das dahin verstehen, dass sämtliche Waren und Dienstleistungen, die in dem Land in den kommenden 30 Monaten produziert und bereitgestellt werden, eigentlich schon verpfändet sind.

Lehren der Vergangenheit

Reue und Einsicht waren groß nach der Finanzkrise 2008/2009. Nie wieder sollten Geldhäuser so mächtig werden, dass ihr Zusammenbruch nicht verkraftbar wäre. Niemals wieder sollten Banken mit dem Geld der Steuerzahler gerettet werden müssen. Nie mehr wollten Banken Ramschkredite schönrechnen und in Umlauf bringen. Und niemand würde mehr ein strukturiertes Finanzderivat oder sonst etwas von dieser Art kaufen, was sie oder er nicht verstanden hat. Aber wohin mit dem Geld?

Auslöser der Krise 2008/2009 war ein Absturz überhöhter Immobilienpreise in den USA, was zugleich das jähe Ende eines Baubooms anzeigte. Die Banken, die massenweise Immobilienkredite an einkommensschwache Familien vergeben hatten, hatten diese weiter verkauft, und zwar nicht einzeln, sondern zu dicken Paketen gebündelt. Darin waren Papiere von Kreditnehmern geringerer und höherer Bonität enthalten, in einer Mischung, für die die Mathematiker der Banken eine gute Gesamtbonität errechnet hatten und der auch die unabhängigen Ratingagenturen ihren Segen gaben. CDO nannten sich die Dinger, Collateralized Debt Obligation. Es waren durch Hypotheken besicherte Wertpapiere. Mit den gesunkenen Immobilienpreisen verloren die Hypotheken ihre Sicherheit – und die CDOs ihren Wert. Und nicht nur sie, sondern auch eine Menge an Derivaten.

Ein Derivat darf man sich so vorstellen: Paul hat beim Ponyrennen zehn Euro auf Fury gesetzt. Das Wettbüro ist clever und bietet nun auch Wettscheine auf Pauls Sieg. Liesel und Hans setzen auf Paul und kaufen für je zehn Euro so einen Schein. So hat das Wettbüro seinen Umsatz verdreifacht, wird verwegen und bietet jetzt sogar noch Wetten auf die Wetten von Liesel und Hans an. Während des Rennens können Paul, Liesel und Hans ihre Wettscheine natürlich auch an andere Sportsfreunde veräußern. Und wenn unter denen jemand kein Kleingeld mehr für ein Eis hat, wird angeschrieben, der Wettschein in der Tasche verbürgt Sicherheit. Man mag sich vorstellen, welch Chaos ausbrechen würde, wenn Fury strauchelte.

So funktioniert Ponykapitalismus oder Kasino-Kapitalismus, wie der gebräuchliche Begriff lautet.

Derivatgeschäfte dienen eigentlich der Absicherung im Handel. Wer etwa Waren in Amerika bestellt, Lieferung in sechs Monaten, zahlbar dann 100.000 Dollar, tut gut daran, bei seiner Bank einen sogenannten Optionsschein zu kaufen, der ihm garantiert, die Summe bei Fälligkeit zum heutigen Wechselkurs zu bekommen. Andernfalls könnte ein steigender Dollarkurs die Geschäftskalkulation Makulatur werden lassen.

So eine Option kann man im „modernen“ Kapitalismus aber auch erwerben, ohne Ware im Ausland kaufen zu wollen, als bloße Spekulation auf steigende oder fallende Wechselkurse. Der Umfang reiner Spekulationsgeschäfte übersteigt den der Besicherung inzwischen um ein Vielfaches. „Wie das zinstragende Kapital überhaupt die Mutter aller verrückten Formen ist, so daß z. B. Schulden in der Vorstellung des Bankiers als Waren erscheinen können“, ließe sich mit Marx anfügen.

Im Jahr 2008 war die Menge der wertlos gewordenen CDOs und Derivate derart groß, dass das internationale Finanzsystem vor dem Zusammenbruch stand.

They did it again

Aus Schaden wird man klug. Von CDOs ließen die Banken fortan die Finger – und wendeten die Technik auf Firmenkredite an. Gebündelt, schöngerechnet und als Collateralized Loan Obligation, CLO, auf den Markt geworfen. Aber warum sollte jemand die Dinger noch mit der Kneifzange anfassen, geschweige denn kaufen? Weil Firmen für ihre derart neu verpackten Schulden Zinsen zahlten, Zinsen in einer Höhe, die keine Staatsanleihe mehr abwarf. Vor allem Versicherungen und Pensionskassen, die ihren Kundinnen und Kunden Renditen versprochen hatten, und mit herkömmlichen Anlagen in der jahrelangen Niedrig-Zins-Phase keine Gewinne mehr erzielen konnten, griffen beherzt zu. Zwischen 2015 und 2018 hat sich der CLO-Markt auf annähernd 800 Milliarden Dollar verdoppelt. Drei Viertel der Summe haben US-Institute in ihren Büchern.

So ein CLO-Bündel enthält in der Regel etwa 200 Schuldtitel, und zwar von Firmen, die bereits verschuldet und folglich für weiteren Kredit höhere Zinsen akzeptieren müssen. Die CLO-Manager kaufen solche Titel auf den Finanzmärkten, meistens wiederum mit geliehenem Geld. Die Differenz zwischen den Zinsen aus den Unternehmenskrediten und den Zinsen, die sie an die Käufer der CLOs zahlen, ist ihr Gewinn. Die einzelnen Hochzins-Kredite aus den Bündeln wurden zum großen Teil von Immobilienspekulanten und Beteiligungsgesellschaften in Anspruch genommen, den sogenannten Heuschrecken, die sich auf Firmenkäufe spezialisiert haben. Nach geglückter Übernahme laden sie die Schulden dann in den Büchern des gekauften Unternehmens ab.

Womöglich sind wir wieder an einem Punkt angelangt wie schon im Jahr 2007. Der Corona-Shutdown wird Firmenpleiten und Kreditausfälle in erheblichem Umfang zur Folge haben. Statt auf zinstragenden CLOs säßen die Versicherungen dann auf wertlosem Ramsch. Es könnte passieren, dass die Bunderegierung ihr Versprechen, nie wieder Banken mit Steuergeldern zu retten, in der Weise einlöst, dass es diesmal Versicherungen sind, die gerettet werden müssen.

CLOs sind ein relevanter aber auch nur ein Teil im globalen Finanzsystem, von dem einige Bereiche in Gefahr sind, zusammenzubrechen. Es sei denn, der Staat als lender of last resort springt ein, womit wir dem Sozialismus wie ihn die Wirtschaftswoche voraussieht, wieder ein Stück näher kämen.

Den Aufmacher-Artikel in derselben Ausgabe der Wirtschaftswoche steuerte der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis bei. Darin erklärt er den Frankfurter Börsianern, wie mit den deutschen Kredit-Milliarden für Griechenland die Darlehen deutscher Banken an den griechischen Staat getilgt wurden. 
… ist ein Klasse-Blatt.

André Geicke, Jahrgang 1955, lebt in Hamburg, war journalistischer Mitarbeiter im Soz-Magazin und im Spiegel und hat den jüngsten Kurssturz für Aktienkäufe genutzt.