„Ach, wenn doch kein Maschin‘ nicht wär“*

Industrie 1.0 und der schlesische Weberaufstand

Am Beginn dessen, was wir Marxismus nennen, stand ein Streit. Er fand 1844 in der von Karl Marx geleiteten Redaktion des Vorwärts, Pariser deutsche Zeitung in Paris statt und er ging darum, was vom Aufstand im bisher gottergebenen Schlesien zu halten sei.

Was war geschehen? Anfang Juni 1844 zogen Familien der schlesischen Baumwollweber in Langenbielau und Peterswaldau zu ihren Verlegern, weil sie mit dem, was sie für das Garn bezahlten und für die fertigen Tuche erhielten, nicht leben und nicht sterben konnten. Sie verlangten Geld oder Lebensmittel und zerschlugen die Einrichtung von Haus und Fabrik ihrer Verleger, wenn sie es nicht erhielten. Nach drei Tagen kam das Militär und schoss diejenigen zusammen, die gerade zur Auszahlung anstanden.

Die Nachricht vom Aufstand verbreitete sich rasch in Europa und nicht nur in Paris wurde diskutiert, warum es zum Aufstand gekommen sei. Selbst die Konstrukteure der Communistenverschwörungen des 19. Jahrhunderts, die Polizei-Directoren Wermuth und Stieber, meinten im gleichnamigen Buch von 1853, dass „der Webertumult das Produkt wirklicher Nothzustände gewesen“ war.

Wir kennen dieses Elend vorwiegend durch das Theaterstück von Gerhart Hauptmann „Die Weber“, das fast fünfzig Jahre nach dem Tumult entstand und das wiederum Käthe Kollwitz zu ihren beeindruckenden Grafiken veranlasste.

Altes Elend?

Einen Monat nach dem Aufstand erschien ein Gedicht von H.H. – also Heinrich Heine – im Vorwärts „Die armen Weber“ mit den bekannten Zeilen „Deutschland wir weben dein Leichentuch / Wir weben hinein den dreifachen Fluch – / Wir weben, wir weben“. Dieser dreifache Fluch, der auch in Flugblättern verbreitet wurde, galt Gott und der Kirche, die nicht geholfen hatten, dem König, der seine Güte durch Soldaten vortragen ließ, und dem falschen Vaterlande, dem die Bauern und Arbeiter in den sogenannten Befreiungskriegen gut genug als Soldaten gewesen waren und in der Bauernbefreiung ihr Eigentum, ihr Geld und die Ansprüche auf Fürsorge ihrer Grundherren und auf die Allmende verloren, aber für all dies nichts bekommen hatten.

In Paris meinte Arnold Ruge, der Weberaufstand sei noch nicht einmal ein anständiger Maschinensturm gewesen, also jene Form der Zerstörung von technischen Neuerungen, die das feudale und zünftige Gewerbe vor Konkurrenz schützen sollte.

Der Weberaufstand 1844 wäre wohl durchgegangen als Ausdruck des alten Elends, wenn nicht Friedrich Engels ihn als neues Elend der neuen kapitalistischen Produktionsweise erkannt hätte. Als Sohn des Besitzers der Baumwollspinnerei Ermen & Engels in Wuppertal wusste er schon früh, dass die neue Weise der Produktion mit der freien Verfügung über die Produktionsmittel nicht Wohlstand für alle hervorbrachte, wie Adam Smith es prophezeit hatte, sondern vertieftes neues Elend. Während seiner kaufmännischen Ausbildung in Bremen beschrieb er schon 1838 unter Pseudonym in den „Briefen aus Wuppertal“ im Telegraph für Deutschland die Zerstörung von Menschen und Landschaft durch die Industrie.

Neue Ausbeutung

Hinter dem Elend in Schlesien steckte nicht die alte feudale-ständische Not, sondern die neue kapitalistische: Die Familien der Baumwollweber hatten sich nämlich erst auf das neue Verlagsgewerbe konzentriert, als die englischen Maschinenspinnereien das ganze Jahr Garn aus der in Sklavenarbeit angebauten Baumwolle aus Amerika lieferten.

Die schlesischen Baumwollweber brachten es sogar unter Aufgabe der Landwirtschaft zu einem gewissen Wohlstand, indem sie in Heimarbeit mit der ganzen Familie webten für Verleger, die Garn lieferten und Tuch abnahmen. 1844 weigerten sich die Verleger dann jedoch, einen angemessenen Preis für das Weben zu zahlen, u.a. weil die englische Maschinenindustrie Webmaschinen erfunden und verbessert hatte, die Baumwollfäden viel schneller zu Tuch verarbeiten konnten als die Handwebstühle. Die Weberinnen und Weber in Schlesien waren also Opfer der Maschinisierung des Webens geworden, so wie sie vorher von der des Spinnens profitiert hatten.

Engels reiste nach seinem Besuch in Paris wieder nach England, suchte u.a. die Fabrik in Manchester auf, die sein Vater als Teilhaber betrieb und sprach mit den Arbeitenden. Innerhalb weniger Monate formulierte er die Studie „Zur Lage der arbeitenden Klasse in England“, die dann im März 1845 im Verlag von Otto Wigand in Leipzig erschien. Diese auch heute noch beeindruckende Untersuchung schilderte nicht nur die technischen Umwälzungen, denen die englischen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Baumwollindustrie ebenso ausgesetzt waren wie die im Leinen- und Baumwollgewerbe Schlesiens. Er bettete diese Beschreibungen der technischen Umwälzung – erst des Spinnens, dann des Webens – in die Schilderung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in England ein. Viele waren vom Lande und aus anderen Ländern in die britischen Industriestädte geströmt, wie Engels spätere Frau Mary Burns aus Irland. Sie waren aus unerträglichen ländlichen Verhältnissen geflohen, wo man sie nicht mehr als Arbeitskräfte brauchte und bekamen dabei nur wenig von den großen Produktivitätsfortschritten der Maschinenarbeit ab. Engels beschreibt die elenden Wohnverhältnisse und die schlechten Arbeitsbedingungen an den Maschinen, die Gesundheit und Leben der Kinder, Frauen und Männer zerstörten, in den verschiedenen Schichten des Proletariats der englischen Industriestädte, insbesondere von Manchester.

Unser Bild vom Manchesterkapitalismus, in dem Produktionsmittelbesitzer sich ohne rechtliche, organisatorische und moralische Beschränkungen ausleben konnten, ist durch diese Schilderungen von Engels entstanden – wohlgemerkt von einem gegen die Zunft-Ordnung sich durchsetzenden Kapitalismus, von dem die meisten anderen Beobachter Wohlstand für alle und fortdauernde Prosperität ohne Unterbrechungen und Krisen erwarteten.

Der Telegraph für Deutschland aus Hamburg meldete Ende Oktober 1844, dass Arbeiter in London für die schlesischen Weber gesammelt hatten. Das Geld, transferiert vom Verleger Julius Campe, überbrachte der aus Schlesien stammende Wilhelm Wolff Weihnachten 1844 den Familien der Opfer in Schlesien. Hinter der ersten internationalen Solidarität der Arbeitenden und der Weitergabe der Nachrichten über diese Ereignisse steckten die „Handwerker-Communisten“, der Bund der Gerechten von Wilhelm Weitling. Von Paris mussten die Bund-Mitglieder nach London fliehen. Ihre größte Gruppe auf dem Kontinent gab es in Hamburg, wo sie im Verlag Hoffmann & Campe wirkte. Ein Mitglied, Georg Schirges, der Redakteur des Telegraph in diesem Verlag, gründete im Herbst 1844 auf Anraten von Weitling einen Bildungsverein für Arbeiter. Zeitweise 600-700 Mitglieder lernten und diskutierten fortan jeden Abend in dessen Lokal am Gänsemarkt, wie sie ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen könnten. Sie werden auch mit Interesse wahrgenommen haben, dass die 28 Redlichen Pioniere von Rochdale, einem Ort in der Nähe von Manchester, am 21. Dezember 1844 in der Toad Lane (Krötengasse) einen ersten genossenschaftlichen Laden eröffneten. Es waren Handweber, die durch den Verkauf von hochwertigen und preiswerten Lebensmittel mit Rückvergütung an die Mitglieder der Genossenschaft die Genossenschaftsbewegung begründeten.

Jürgen Bönig empfiehlt die Lektüre dieses vorbildlichen soziologisch-sozialhistorischen Werkes. Marx-Engels Werke (MEW), Band 2, Seiten 225-506.

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