Weniger. Einfacher. Langsamer.

Vor 25 Jahren: Radikale Perspektive ohne Echo – Fallbeispiel zu Meeresschutz und Nachhaltigkeit

Weniger. Einfacher. Langsamer – drei Begriffe, die, als Forderungen formuliert, wie eine aktuelle Parole aus dem Umfeld der jungen „Fridays-for-future“-Bewegung klingen. Tatsächlich sind sie – Motto eines zivilgesellschaftlichen Kongresses – etwas mehr als 25 Jahre alt. Grund genug nachzuschauen, was damals geschehen ist: Auch wenn heute einige gesellschaftspolitische Bedingungen gegeben sind, die sich 1995 noch niemand vorzustellen vermochte (später mehr dazu), so hat doch das Heute seine ökonomischen, sozialen oder ökologischen Wurzeln direkt im Damals. Das führt zur Frage, was 1995 versäumt wurde, dass die Forderungen ein Vierteljahrhundert später unerledigt aktuell sind.

Ende Mai 1995 hatten sich in Bremen mehrere hundert Aktive aus Meeres- und Umweltschutz getroffen, um mit kritischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über Alternativen zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Unlogik „satter, schicker, schneller“ (zu) diskutieren.1 Initiator und Veranstalter war die Aktionskonferenz Nordsee (AKN), ein heute nicht mehr existierender Verein, der sich ab Mitte der 1980er Jahre mehr als 20 Jahre lang den regierungsamtlich zelebrierten so genannten Internationalen Nordseeschutz-Konferenzen (INK) entgegengestellt und gegen staatlich forcierte oder geduldete Meeresnutzung und -ausbeutung opponiert hatte. Regelmäßig hatte die AKN gemeinsam mit anderen Initiativen vor und während jeder INK zu Gegenkonferenzen und häufig auch zu Vor-Ort-Aktionen mobilisiert und so das staatliche meerespolitische Handeln – oder Unterlassen – öffentlich gemacht.

Weniger. Einfacher. Langsamer.

1995 sollte die vierte INK im dänischen Esbjerg tagen, aber in der AKN und anderen Organisationen verspürte niemand Lust, sich ein weiteres Mal nur mit Defiziten staatlicher Meeresschutzpolitik zu befassen oder erneut Forderungen zu aktualisieren, „die längst auf den Tischen der Regierungen, Parlamente und Parteien liegen“. Die kapitalistische Weltwirtschaft, damals auf massivem Globalisierungs- und Privatisierungs-Kurs, war dabei, die Ökologie unter dem vereinnahmenden Etikett „Nachhaltigkeit“ zu bagatellisieren. „Es ist an der Zeit, dass Menschen und Organisationen, die sich für eine lebenswerte Zukunft verantwortlich fühlen, Bilanz ziehen, Erfahrungen überdenken, Perspektiven entwickeln und danach handeln“, schrieb die AKN daher in ihre „Leitideen“2 zum Kongress „Nordsee ist mehr als Meer!“. Neue Fragen seien zu stellen und mit fundierten Analysen und Phantasie auf neue Weise zu beantworten, hieß es an anderer Stelle: „Auf der Tagesordnung steht nicht die lähmende Beschwörung von Katastrophen, sondern die Ermutigung zu gemeinsamer Arbeit an (Lebens-)Perspektiven.“

Das mag nebulös klingen, tatsächlich wurden zum Kongress richtungweisende Ideen formuliert, die helfen sollten, dem Treffen eine Zukunftsorientierung zu geben. Das Motto „Weniger. Einfacher. Langsamer.“ sollte den kreativen, den mutigen Verzicht auf zerstörerische Formen gesellschaftlicher Lebensorganisation einfordern: Wirtschaftliche, politische, technische Strukturen verstellten „in ihrer wachsenden Unüberschaubarkeit den Weg zu einfachen Lösungen“. Und: „Was derart komplex und kompliziert gemacht und gehalten wird, ist für den Bürger nicht mehr begreifbar und schon gar nicht kontrollierbar.“ Diese Entwicklung aber scheine gewollt: „Die Angst vor Veränderung wird geschürt im Interesse von Herrschaft. Parolen von ‚weiter so‘ und ‚Sicherheit‘ würgen die Kreativität ab, die wir brauchen. Natur heißt nun mal Veränderung – auch mit dem Risiko, Fehler zu machen.“

Das übrigens gilt heute wie damals.

Es war ein bunter, aber recht konsequent auf aktuelle Systemkritik zielender Thesenkatalog, der zur Kongress-Vorbereitung erörtert wurde. Als Fragestellungen wurden beispielsweise diskutiert:

• Was leistet Wissenschaft in wessen Auftrag derzeit auf dem Feld des „Natur-Managements“ – und was könnte sie leisten?

• Was bedeutet die „Gefräßigkeit“ unserer Gesellschaft für die Umwelt und für Menschen in anderen Regionen dieses Globus’?

• Was kann Technik beitragen zur ökologischen Entwicklung? Ist unser Umgang mit Technik eine Ursache nicht nur für Massenarbeitslosigkeit, sondern auch für Umweltzerstörung?

• Was kann, was soll der Staat umweltpolitisch leisten, wie handlungsfähig sind Politik und Verwaltung gegenüber Wirtschaftsinteressen? Wie muss Mitsprache zivilgesellschaftlich (um)organisiert werden, um existenzielle Interessen gegen Profitstreben durchzusetzen?

• Welche Bedürfnisse gilt es hier und anderswo zu befriedigen – und welche sind künstlich gemacht, um die „Moloch-Geschwister Konsum und Wachstum“ zufriedenzustellen? Welche Rolle spielen Werbung und Medien in diesem Spiel?

• Was bedeutet Zeit: Unterwerfung des Menschen unter Maschine und Geld – oder Anpassung an natürliche und soziale Rhythmen, um sich die Ökonomie im Interesse von Natur und Mensch zu unterwerfen?

Politische Ökologie, so die AKN damals, müsse mehr sein als traditioneller Umweltschutz: „Es reicht nicht mehr, an Symptomen herumzukurieren.“ Statt weitere Schadstoff-Belastungen aufzuzählen oder der Politik noch mehr Analysen und Forderungen auf den Tisch zu legen, müsse die 1995er-Konferenz zum Ausdruck bringen, dass die Menschen im globalen Norden eine besondere Verpflichtung haben: „Wir tragen soziale, politische, ökologische und kulturelle Verantwortung nicht nur für eine lebenswerte Zukunft hierzulande. Wir tragen sie noch viel mehr für eine global gerechtere Verteilung sowohl natürlicher als auch von Menschen erarbeiteter Reichtümer“. In den „Leitideen“ gipfelte das in der markanten Feststellung: „Wir haben nicht nur einige Fehler des Systems zu beheben. Das System selbst ist der Fehler.“

Schaut man sich heute das Kongress-Programm von 1995 detailliert an, fällt auf, dass wesentliche Fragen von 2020 gar nicht erwähnt werden: Das ist nicht überraschend – denn vieles, was aktuell beschäftigt, war damals in seiner elementaren Bedeutungswucht noch gar nicht erfassbar. Wie alltagsprägend etwa Internet und so genannte „soziale Medien“ werden würden, war 1995 ebenso wenig absehbar wie andere Aspekte der Digitalisierung. Schade: Zu deren wesentlichen Elementen in allen gesellschaftlichen Bereichen zählen Faktoren wie Zeit und Beschleunigung – das Thema „Zeit“ aber war ja einer der Kongress-Schwerpunkte. Zum Stichwort „Langsamer!“ etwa referierte der Münchener Wirtschaftspädagoge Karlheinz A. Geißler über die „Ökologie der Zeit“. Er monierte bereits, dass „das Non-Stop zum Fetisch der modernisierten Moderne“ werde – aber „Digitalisierung“ kam bei ihm (noch) nicht vor. Auch die Bremer Professorin Adelheid Biesecker plädierte zwar in ihrem Appell „Entökonomisiert die Zeit!“ eindringlich etwa für „die Befreiung der sozialen Lebenswelt von ökonomisierten Zeitstrukturen und Beschleunigungszwängen“ – globale digitale Vernetzung jedoch spielte für sie (noch) keine Rolle.

Und es gab, aus heutiger Sicht, weitere logisch erklärbare Lücken; einige (vorwiegend meerespolitische) Beispiele mögen hier den 1995 unkalkulierbaren Verlauf gesellschaftlicher Entwicklung verdeutlichen:

• Weder waren damals die Geschwindigkeit von Erderwärmung und Klimawandel bekannt noch die Dynamik der Globalisierung.

• Kriege und soziale Ungerechtigkeit gab es zwar, daraus resultierende Massenmigration (nicht nur) aus dem globalen Süden gen Norden indes noch nicht.

• Von 1995 bis heute hat sich der weltweite Seehandel auf aktuell mehr als elf Milliarden Tonnen nahezu verdreifacht3: Weder ökonomische und soziale Folgen für Meere und Küstenregionen noch sich potenzierende Probleme wie die Einschleppung invasiver Arten waren vor 25 Jahren absehbar.

• Niemand ahnte, welche Folgen Antibiotika in Landwirtschaft und (Meeres-)Umwelt zeitigen würden, niemand Tempo und Intensität der Meeresverseuchung durch Mikroplastik.

• Und auch die Ausbeutung von Tiefsee oder Arktis als künftige Rohstoffquellen galt damals eher als utopisch – weniger im technischen als vielmehr im wirtschaftlichen Sinne.

Umso bedeutsamer erscheint heute der seinerzeitige Versuch, zumindest in Ansätzen über eine Umorganisation des globalen Lebens zu diskutieren – mit Zielvorgaben, die das herrschende System verneinen. In einer Bilanz der AKN nach dem Kongress hieß es unter anderem: „Seriöse Szenarien sagen voraus, dass die globale ökologische ‚Tragfähigkeit‘ in spätestens 50 Jahren am Ende ist.“ Wer sich heute umschaut, sieht, dass es keiner 25 Jahre „weiter so“ mehr bedarf.4

Was zur eingangs formulierten Frage führt: Was lief schief, warum sind die Forderungen der Konferenz bis heute unerledigt aktuell? Ein Grund drängt sich auf: Der Kongress „Die Nordsee ist mehr als Meer!“ war ein eher regionales Ereignis, über das nur im nordwestdeutschen Raum begrenzt medial berichtet wurde. Da außer in der gering verbreiteten WATERKANT keine Auswertung veröffentlicht wurde, blieb die Wirkung begrenzt.

Ein weiterer Grund indes könnte sein, dass der Kongress in Verlauf und Ergebnis von seinen zuvor formulierten Ansprüchen deutlich abgewichen ist. So musste der engagierte Versuch ohne ermutigende (im Sinne von: systemüberwindende) Perspektiven im Ansatz stecken bleiben. „Das System selbst ist der Fehler“, hatte es in den „Leitideen“ geheißen, und aus dem Kontext ergab sich klar, dass dieses Wirtschaftssystem, der Kapitalismus und seine Prinzipien, vor allem das „Wachstum“, gemeint waren. Die Konferenz hingegen diskutierte stattdessen aktuelle Konzepte für System-Reformen.5 Und auch im „Bremer Aufruf“, so der Titel der Konferenz-Entschließung, war von Radikalität, von Gegenentwürfen zu einem für unreformierbar erklärten System, nichts mehr zu lesen. Stattdessen gipfelte der Aufruf6 in der Forderung nach – einer ökologischen Steuerreform. Das allerdings war zum damaligen Zeitpunkt längst nichts Besonderes mehr. Warum also hätte jemand den „Bremer Aufruf“ zur Grundlage weiterer Debatten oder politischen Handelns machen sollen?

Es hat 1995 seitens der AKN keine selbstkritische Aufarbeitung gegeben – bedauerlich, aber heute irrelevant. Die AKN hat nach 1995 auch künftige INK und andere staatliche Maritim-Veranstaltungen engagiert und kritisch begleitet, hat selbst weitere Tagungen organisiert. Sie hat, warum auch immer, nie wieder eine 1995 vergleichbare Radikalität versucht. Finde den (System-)Fehler…

Burkhard Ilschner war Gründungs- und lang-jähriges Vorstandsmitglied der „Aktionskonferenz Nordsee“ (AKN). Er ist verantwortlicher Redakteur der WATERKANT, die 1986 als maritime Zeitschrift und Mitteilungsblatt der AKN gegründet wurde. Seit deren Auflösung wurde die Quartalszeitschrift von einem eigenständigen Herausgeberverein weitergeführt – bis Ende 2019. Künftig soll WATERKANT ein kostenloses digitales Informationsprojekt werden:

https://waterkant.info.

Anmerkungen:

1 Zitate in diesem Aufsatz stammen, sofern nicht anders angegeben, aus internen Unterlagen der AKN, Konferenz-Dokumenten oder Artikeln der Zeitschrift WATERKANT. Einige davon sind digitalisiert unter
https://waterkant.info/?page_id=6755 verfügbar.

2 „Leitideen“ – https://waterkant.info/?page_id=6349

3 https://waterkant.info/?page_id=6759

4 https://waterkant.info/?page_id=6763

5 Unter anderem die umstrittene Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ des Wuppertal-Instituts.

6 https://waterkant.info/?page_id=6357