Auf Ärmellänge
Wir rätseln, ob die einstigen Vertreter einer sozialistischen Gesellschaft, Russland und China, inzwischen echte kapitalistische Staaten geworden sind. Kennzeichen wäre die Herausbildung einer Bourgeoisie, die die Funktion der herrschenden Klasse ausfüllte. Immerhin suchen ihre ersten Repräsentanten sich in Stil und Habit als Angehörige jener Klasse darzubieten: dunkler Anzug, weißes Hemd, Krawatte, durchaus respektabel. Doch bei genauerer Betrachtung fallen Unzulänglichkeiten ins Auge. Ausgerechnet der Kleinere reckt Kopf und Kragen weit hervor, so dass das Sakko wirkt, wie zur ersten Tanzstunde erworben.
Vorbildlich dagegen die Kragenpartie des chinesischen Pendants. Leider sitzt dessen Sakko zu knapp und spannt beängstigend am oberen Knopf, der auch um einige Zentimeter zu hoch fixiert wurde. Infolge des engen Schnitts klaffen die Frontpartien im unteren Bereich unschön auseinander.
Den Wettstreit um die Ärmellänge konnte keiner der Herren zu seinen Gunsten entscheiden. Beide Modelle scheinen Dufflecoat oder Anorak nachempfunden zu sein. Die Ärmel fallen bis auf den Handrücken, so dass keine Chance für die Hemdmanschette besteht, zwei Finger breit hervorzutreten.
In Moskau konnte man sich zwischen sportlich und offiziell nicht entscheiden und hat steigende Revers mit Pattentaschen kombiniert. Wie ist eine derartige Katastrophe möglich? An einem Mangel an Mitteln, weder im Privaten noch im Staatshaushalt, wird es nicht gelegen haben. Gute Schneider gibt es auch in China, zumindest in Hongkong. An Vorbildern fehlt es auch nicht: Emmanuel Macron in solchem Aufzug? – unvorstellbar. Charles III.? – nie und nimmer. Clooney? – Ach, Clooney.
Wie um Himmels Willen sind die Herren Xi und Putin an solche Garderobe geraten? Auch darüber ließe sich wohl nur rätseln.
Für den Augenblick dürfen wir festhalten, dass das Bemühen der beiden, den Auftritt in bürgerlicher Eleganz hinzulegen, auf bestürzende Weise fehlgeschlagen ist, was ein Schlaglicht werfen mag auf zwei Gesellschaften, die immer noch im Umbau stecken. Vielleicht finden sich in dem unvermeidlichen Chaos wenigstens noch zwei gut erhaltene Uniformjacken Stalins und Maos.
Zersetzung der US-Arbeiterklasse
Jede fünf Minuten stirbt in den USA ein Mensch an einer Überdosis Drogen. 2021 waren es 107.622 Drogentote, fast drei Mal so viele wie vor zwei Jahrzehnten. 1999 kamen je 100.000 US-Menschen 30 durch Selbstmord, Überdosis und Alkoholismus zu Tode; 2017 waren es 92. In einem neuen Buch analysieren der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton und die Wirtschaftsprofessorin Anne Case diese Entwicklung. Für sie handelt es sich bei dem „Tod aus Verzweiflung“ um einen „langfristigen, langsam vonstattengehenden Verlust eines Lebensstils der weißen, gering qualifizierten Arbeiterklasse… Die Menschen sterben nicht nur; ihr Leben wird immer weniger lebenswert.“ Buch: Anne Case/Angus Deaton, Tod aus Verzweiflung. Der Untergang der amerikanischen Arbeiterklasse und das Ende des amerikanischen Traums, Plassen-Verlag, 400 Seiten.
Luxus boomt
Wie fast immer im Vorfeld von großen Krisen, so erlebt die Luxusbranche 2022 ein ausgesprochenes Boomjahr. Bereits 2021 gab es mit einem Weltumsatz von 288 Milliarden Euro ein Rekordjahr; für 2022 werden 320 Milliarden Euro Umsatz erwartet. „De Luxusindustrie zeigt einmal mehr eine hohe Resilienz, was Krisen angeht“, so eine Sprecherin der internationalen Unternehmensberatung Bain & Company, die zusammen mit dem italienischen Luxusgüterverband Fondazione Altagamma die neue „Luxury Goods Worldwide Market Study“ vorlegte. Haupttreiber aktuell seien die Reichen aus den USA und China, aber auch aus Südkorea, wo sich ein besonders „markenverliebten Mittelstand“ herausgebildet habe.
Noch nicht enthalten ist dabei der Luxustourismus, der als „high end tourism“ bezeichnet wird. Zur Förderung desselben wurde 2022 der Verband European Cultural and Creative Industries Alliance (ECCIA) gebildet. Ein im Spitzentourismus verkehrendes Individuum wird dadurch definiert, dass es acht Mal mehr pro Tag ausgibt als ein durchschnittlicher Tourist. Der Verband ECCIA errechnete einen Jahresumsatz für diese „High End-Kategorie“ von 130 bis 170 Milliarden Euro, was dann allerdings bereits 22 Prozent der gesamten Tourismusausgaben entsprechen, aber nur 2 Prozent der Gaststättengewerbestrukturen beanspruchen soll. Fünf „Hauptreiseziele, nämlich Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und UK“ würden „75 Prozent des Weltspitzentourismus“ auf sich vereinen. Wobei „die Konkurrenz nicht schläft“, wofür Dubai, Singapur und Hainan genannt werden. Der klassische Tourismus sei stark krisenanfällig. Dies gelte nicht für den Luxustourismus. Dieser solle „durch richtige Maßnahmen der EU bis 2030 oder 2035 auf 520 Milliarden Euro“ ansteigen, also verdreifacht werden
End oft the pipe
Dem Spiegel lag Ende September das „S-Magazin Nr. 18“, bei, das „Stil-Magazin vom Spiegel“. Das Hochglanzblatt enthält neben viel Werbung für Luxusgüter einen Beitrag zum Thema Mode und CO2. Eingestanden wird, dass „die CO2-Emissionen der Modeindustrie je nach Studie auf 1,2 bis 1,7 Milliarden Tonnen beziffert werden. Das ist mehr als Luft- und Schifffahrt gemeinsam produzieren.“ Zukünftig jedoch soll die Modebranche jedoch „dazu beitragen, dass das Treibhausgas der Atmosphäre entzogen wird.“ So gibt es nun eine Kollektion, „die mit Tinte der Marke Air-Ink bedruckt wurde, die aus Autoabgasen gewonnen wird. Der Druck wird durch die Umwandlung von Kohlenstoffemissionen erzeugt.“ Das geht so: „Eine Metalldose wird an den Auspuff von Autos montiert, fängt dort die Abgase auf und separiert das CO2. Dieses wird anschließend gereinigt, mit einem Polymer sowie Lösungsmitteln gemischt und in einem mehrstufigen Verfahren in schwarze Dispersionsfarbe umgewandelt. Eine Dreiviertelstunde Autofahrt bringt Tinte für eine Stiftfüllung.“ Bislang war der Begriff „end of he pipe“ eher im übertragenen Sinn zu verstehen. Wir sehen: Das kann ganz praktisch gemeint sein.