Werttransfer durch Migration

Zur Überausbeutung der sogenannten „Dritten Welt“
Michael Pröbsting. Lunapark21 – Heft 25

Vor dem Hintergrund zunehmender Krisenerscheinungen in der kapitalistischen Ökonomie versuchen die großen Konzerne, ihre Profite mit allen erdenklichen Mitteln zu erhöhen. Dabei spielt das Erzielen von Extraprofiten eine immer größere Rolle – also das Erzielen von Profiten, die über der durchschnittlichen Rate liegen. Diese Extraprofite werden auf verschiedenen Wegen aus den Ländern des Südens (präziser wäre es, sie als von den imperialistischen Ländern abhängige Halbkolonien zu bezeichnen) bezogen. Unterschieden werden können im Wesentlichen vier Methoden, mit denen große Konzerne in den reichen Industrieländer solche Extraprofit erzielen: Erstens – der Kapitalexport als produktive Investition; zweitens der Kapitalexport als Geldkapital (in Form von Darlehen, Währungsreserven, Spekulation etc.); drittens der Werttransfer durch ungleichen Tausch und viertens der Werttransfer durch Migration. Der Artikel soll einen Überblick liefern über die letztgenannte Form der Überausbeutung.[1]

Während Migranten in den Ländern des Südens nur einen kleinen Bevölkerungsanteil ausmachen (zwischen 1,5 und 3 Prozent, wenn man die Kontinente als Ganzes betrachtet), liegt laut offiziellen Angaben ihr Anteil in Europa, Nordamerika und Australien zwischen 10 und 17 Prozent der Bevölkerung (siehe Grafik Seite 28).

Der Anteil der Migranten an der Bevölkerung in den reichen Industriestaaten ist in den letzten Jahrzehnten dramatisch angewachsen. Ursachen dafür waren einerseits das wachsende Elend in den Ländern des Südens, andererseits der steigende Bedarf des Monopolkapitals an billigen Arbeitskräften. In den USA stieg der Anteil der Migranten in der Bevölkerung von 5,2 Prozent im Jahr 1960 über 12,3 Prozent 2000 auf mehr als 14 Prozent 2010. In Westeuropa wuchs der Anteil der Migranten an der Bevölkerung von 4,6 Prozent 1960 auf fast 10 Prozent 2010.

Die Beschäftigten mit Migrationshintergrund sind zu einem wesentlichen Faktor für das Wachstum in den reichen Industrieländern geworden. Laut einer Studie des McKinsey Global Institute „trugen im Ausland geborene Beschäftigte von 1980 bis 2010 geschätzte 40 Prozent zum Wachstum der Erwerbsbevölkerung bei“.

Aber auch diese Zahlen zeigen den Stellenwert der Migranten nicht vollständig. Erstens, weil Migranten der zweiten oder dritten Generation oder jene, die eine neue Staatsbürgerschaft erlangten, von den Behörden der reichen Industrieländern oft nicht als Migranten erfasst werden. Zweitens, weil Migranten einen höheren Anteil unter den Beschäftigten als in der Gesamtbevölkerung ausmachen. Schließlich sind Migranten oft in Städten konzentriert. Somit repräsentieren Migranten in den reichen Industrieländern schätzungsweise 10 bis 25 Prozent der Arbeiterklasse; in den urbanen Zentren liegt ihr Anteil oft noch höher.

Einige Beispiele: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die Hälfte der Einwohner New Yorks schwarz, lateinamerikanisch oder gehörte einer anderen nationalen Minderheit an. In der Stadt London sowie ihrer Umgebung stammten im Jahr 2000 29 Prozent der Bevölkerung aus ethnischen Minderheiten. In Wien haben sogar 44 Prozent der Bevölkerung einen migrantischen Hintergrund. Zwei Drittel davon kommen aus dem früheren Jugoslawien, der Türkei oder osteuropäischen EU-Staaten.[2]
Die Tabelle auf Seite 29 gibt einen Überblick des Anteils der Migranten an der Erwerbsbevölkerung in den OECD-Ländern, wenngleich darauf hingewiesen werden muss, dass die nationalen Statistiken Migranten der zweiten Generation nicht als solche ausweisen.

Brain Drain und Überweisungen
Die Folgen für die halbkoloniale Welt sind dramatisch. Viele gut oder sogar hochqualifizierte Arbeitskräfte – in ihren Herkunftsländern ausgebildet – migrieren in die reichen Metropolen, um der Armut zu entfliehen und ihren Familien mit Überweisungen das Überleben zu sichern. Als Ergebnis leiden die Länder des Südens unter riesigen Verlusten von Arbeitskräften und Wissen.

Laut einem Bericht der Weltbank verlassen jährlich etwa 23000 afrikanische Akademiker ihre Heimat. Heute leben in den USA mehr afrikanische Wissenschaftler als in Afrika selbst. Die in Wien ansässige Internationale Organisation für Migration (IOM) schätzt, „dass etwa 400000 Wissenschaftler und Ingenieure aus Entwicklungsländern (zwischen 30 und 50 Prozent des Gesamtbestands) in den industriellen Ländern in Forschung und Entwicklung arbeiten.“

Es ist eine der grotesken Absurditäten des modernen Kapitalismus, dass, während 250000 in Afrika gebürtige Fachkräfte außerhalb Afrikas arbeiten, gleichzeitig 100000 hochbezahlte nicht-afrikanische Experten in Afrika für UNO-Angelegenheiten und unter der Schirmherrschaft von Programmen wie dem Friedenskorps tätig sind.

Um das System der globalen Apartheid aufrecht zu erhalten, finanzieren die imperialistischen Staaten einen gewaltigen Repressionsapparat. Laut dem US-amerikanischen Politologen Philip Martin gaben fünf der reichsten Industrieländer – Kanada, Deutschland, die Niederlande, Großbritannien und die USA – 2002 mindestens 17 Milliarden US-Dollar für Einwanderungskontrolle aus. Der Autor schätzt weiter, dass die 25 reichsten westlichen Länder dafür wahrscheinlich 25-30 Milliarden US-Dollar jährlich verwenden.

Grundlage der Überausbeutung
Migration ist, wie eingangs erwähnt, ein wesentlicher Teil der Überausbeutung der halb-kolonialen Welt durch das Großkapital der reichen Industrieländer. So wie das Großkapital Profitüberschüsse aus dem Süden abzieht, so gibt es auch eine Aneignung von Extraprofiten über Migration. Diese Überausbeutung beruht darauf, dass Migranten in ihrer großen Mehrheit eine national unterdrückte Schicht überausgebeuteter Arbeitskräfte darstellen. Das Kapital erzielt Profit, indem es Lohnabhängige mit Migrationshintergrund auf unterschiedlichen Wegen unterhalb des Wertes ihrer Arbeitskraft bezahlt.

Unbezahlte Ausbildungskosten: Das Kapital kann die Migrantinnen und Migranten dadurch ausbeuten, dass es keine oder nur begrenzte Kosten für deren Ausbildung zu tragen hat, da diese meist in ihren Heimatländern ausgebildet wurden. Der Wert einer Ware ist – wie der marxistische Theoretiker Isaak. I. Rubin hervorhob – nicht nur das Produkt der Arbeit, die direkt in diese eingeht, „sondern ebenso jener Arbeit, die zur Ausbildung des Arbeiters in dem betreffenden Beruf erforderlich ist.“ Daher eignet sich der Kapitalist einen Teil des Warenwerts an, ohne dafür Kosten zu tragen.

Reduzierte Kosten für Altersversorgung und soziale Sicherheit: Das Kapital trägt oft nicht oder nur vermindert die Kosten für Pensionen und Sozialversicherung der Migrantinnen und Migranten, da diese nur beschränkten Zugang zu Sozialleistungen haben und im Alter oft in ihre Heimatländer zurückkehren.

Deutlich niedrigere Löhne: Die Unternehmen können Migranten aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position, die von nationaler Unterdrückung geprägt ist, als billigere Arbeitskräfte (im Vergleich zu einheimischen) ausbeuten. Diese gesellschaftliche Unterdrückung kann verschiedene Formen annehmen. Das kann auf ihre fehlenden Rechte aufgrund einer fehlenden Staatsbürgerschaft zurückgehen. Das kann daran liegen, dass die Muttersprache der Migranten nicht als gleichwertig anerkannt ist und sie daher bei den Behörden, an ihren Arbeitsplätzen, in den Schulen und allen anderen Lebensbereichen der imperialistischen Gesellschaft hochgradig benachteiligt sind. Oder sie werden über verschiedene Formen sozialer Diskriminierung unterdrückt. Diese Repressionsformen gelten auch für die zweite und dritte Generation von Migranten.

Ausbeutung (direkte & indirekt)
Es ist uns natürlich nicht möglich, den damit skizzierten Werttransfer exakt zu berechnen. Es ist aber möglich, nach Zahlen zu suchen, die zeigen, wie sehr Migranten auf der Ebene des Soziallohns – also jenem Teil der Entlohnung, der über Sozialleistungen stattfindet – ausgebeutet werden. In Österreich beispielsweise zahlten Migranten im Jahr 2007 1,6 Milliarden Euro für staatliche Sozialleistungen, erhielten davon jedoch nur 0,4 Milliarden in Form diverser sozialer Leistungen zurück. Somit konnte der österreichische Staat sich 1,2 Milliarden Euro aneignen und für andere Zwecke verwenden. Das Beispiel aus dem Jahr 2007 ist keine Ausnahme, sondern die Regel, wie andere Studien gezeigt haben.

Ein weiteres Beispiel aus Großbritannien. Gemäß dem damaligen Minister für Migration, Liam Byrne, gewann die „britische Wirtschaft“ im Jahr 2006 durch Migration etwa sechs Milliarden Pfund. Nach Angaben des damaligen Finanzministers trug die Arbeit von Migranten im Zeitraum 2001 bis 2007 mit 15 bis 20 Prozent zum wirtschaftlichen Wachstum Großbritanniens bei.

Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Centre for Research and Analysis of Migration zeigt, dass in Großbritannien die Migranten aus ärmeren EU-Ländern zwischen 2001 und 2011 22,1 Milliarden Pfund mehr in die Staatsfinanzen einzahlten als sie daraus entnahmen, sie zahlten damit 34 Prozent mehr ein als an sie zurückfloss. Einen wichtigen Hinweis auf den riesigen Nutzen der Migration für das Kapital findet man in einer 2006 veröffentlichten Studie der Weltbank.[4] Darin berechnet der Autor Lant Pritchett, dass die reichen Industrieländer, die um 3 Prozent mehr Zuwanderung zuließen, 51 Milliarden Dollar durch die steigenden Kapitalrückflüsse und reduzierten Produktionskosten gewinnen. Pritchett, ein bürgerliche Ideologe, argumentiert, dass westliche Demokratien „den Mut aufbringen müssten zu einem Gastarbeiterprogramm“ wie von Kuwait oder Singapur praktiziert, wo Hunderttausende Migrantinnen und Migranten ins Land geholt werden, ohne diesen irgendwelche politische oder soziale Rechte zu gewähren. Er meint, dass die Menschen vom Nutzen eines massiven Anstiegs der überausgebeuteten Migranten ohne Rechte überzeugt werden müssten: „Wenn die Menschen zur Überzeugung gelangen, dass es notwendiger Teil eines fairen und legitimen Migrationssystems ist, schwangere Gastarbeiter heimzuschicken, würden wir das tun.“

Wenn wir nun die Ebene der Löhne für Migranten selber betrachten, können wir den Prozess der Überausbeutung in konkrete Zahlen gegossen sehen. Migranten aus halbkolonialen Ländern (die die deutliche Mehrheit der Migranten darstellen) erhalten in Deutschland oder Österreich durchschnittlich um 20-25 Prozent weniger als im Land geborene Deutsche oder Österreicher. Eine ähnliche Situation besteht in den USA. Eine Harvard-Studie zu den ökonomischen Auswirkungen der Migration präsentierte die Ergebnisse zahlreicher Umfragen zu Lohnunterschieden zwischen ausländischen und einheimischen Arbeitskräften. Fast alle Umfragen kommen zum Schluss, dass ausländische Beschäftigte in Nordamerika um 15-30 Prozent weniger als die einheimischen verdienen.[5]

Die Überausbeutung von Migranten ist für den Akkumulationsprozess des Kapitals in den reichen Industriestaaten ein wesentlicher Faktor.

Michael Pröbsting lebt als politischer Aktivist und Autor zahlreicher Bücher in Wien. Er betreibt die Webseite www.thecommunists.net

Anmerkungen:

[1] Ausführlich siehe: Michael Pröbsting: Der Große Raub im Süden. Ausbeutung im Zeitalter der Globalisierung, Wien 2014

[2] Siehe dazu Michael Pröbsting: Marxismus, Migration und revolutionäre Integration (2010), http://thecommunists.net/publications/werk-7

[3] Rolph van der Hoeven: Labour Markets Trends, Financial Globalization and the current crisis in Developing Countries (2010), UN-DESA Working Paper Nr. 99, S. 11

[4] Lant Pritchett: Let Their People Come: Breaking the Gridlock on Global Labor Mobility, Center for Global Development, World Bank 2006

[5] Sari Pekkala Kerr and William R. Kerr: Economic Impacts of Immigration: A Survey (2011); Harvard Business School, Working Paper 09-013

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