Schau mir in die Daten, Kleines!

Aus Lunapark21 – Heft 19

Wie immer das genau gemeint war, als Rick, alias Humphrey Bogart, in „Casablanca“ zu Ilsa, alias Ingrid Bergmann, „Schau mir in die Augen, Kleines“ nuschelte: Der Inhalt, der damit transportiert wird, erinnert an Facebook. Es erinnert daran, dass man in einem „Gesichtsbuch“ durchaus abgrundtief Gedanken lesen kann.

Eben: „Schau mir in die Augen, reich mir Deine Daten, Kleines!“ Jedenfalls wissen das Versicherungsbranche und Werbeindustrie, die eng mit Facebook kooperieren und die tief in die Augen & Daten der 900 Millionen Facebook-User schauen. Axa Global Direct, der französische Versicherungsgigant, analysiert nach eigenen Angaben Facebook-Daten intensiv, um für jeden Kunden die Prämie zu ermitteln, mit der er profitabel versichert werden kann.

Faszinierend ist ohne Zweifel die Datenmenge. Täglich sollen bis zu eine halbe Milliarde Menschen Facebook nutzen. Dabei werden pro Tag 300 Millionen neue Fotos von Usern versandt und bei Facebook abgelegt. Die Qualität der Mitteilungen und der Fotos ist meist schrottig, in 95 Prozent nur lächerlich: Meine neuen Sneakers… Ich mit Cindy bei Mac Donalds in St. Gallen… Mein Fahrrad hat ´nen Platten… Eine Speisekarte mit Käsefondue in Bellinzona…

Im Juni besuchte ich in Wien das Forum „Journalismus und Medien“ – einen „Workshop für fortgeschrittene Social-Media-Nutzung“. Beim Vortrag von Dr. Sree Sreenivasan, Professor für digitale Medien an der New Yorker Columbia University, verblüffte die Begründung seines Plädoyers für Facebook: Erstens stelle er sich via Facebook ständiger Kritik; dabei seien seine „größten Kritiker die neunjährigen Zwillinge“, die ihm direkt sagten: „Mann, Deine Vorlesungen sind ja so was von langweilig“. Und dann habe sich sein Verhältnis zu seiner Schwiegermutter deutlich verbessert, seit er mit dieser über Facebook „befreundet“ sei: „Sie dachte vorher, sie kennt mich. Aber jetzt sieht sie erst, was ich wirklich den ganzen Tag mache.“ Falls jemand mehr vom Facebook-Nutzen wissen will: Der Mann gibt breitwillig Auskunft (Website: sree.net). Ich wette, Facebook & Twitter stellen Leute ab, um auf tausende Anfragen mit so praktischen Sätzen wie „Schreibe nichts, was du heute bereust“ zu antworten.

Als Facebook am 18. Mai an die Börse ging, hieß es bereits wenige Tage später, der Börsengang sei „ein Fiasko“ gewesen. Richtig ist, dass der Wert der Facebook-Aktie am Tag des Börsengangs bei 38 Dollar, dann kurz sogar bei mehr als 40 Dollar lag – und dass er Anfang September bei 18 Dollar liegt. Eine Halbierung in vier Monaten mag schmerzhaft erscheinen – für die Facebook-Eigner war der Börsengang ein satter Gewinn. 16 Milliarden Dollar sammelten sie ein. Allein Facebook-Großaktionär Zuckerberg wurde um eine Milliarde reicher. Ein paar Dutzend seiner engsten Freunde sind Neu-Milliardäre. Die Banken, die den Börsengang begleiteten und inszenierten, machten in wenigen Stunden mehrere hundert Millionen Dollar Gewinne.

Sheryl Sandberg, ehemalige Top-Managerin der Weltbank, ehemalige Stabschefin des US-Finanzministers, ehemalige Top-Frau bei Google und seit einigen Jahren bei Facebook für das Tagesgeschäft verantwortlich, hatte den Börsengang als quasi-religiöse Schau inszeniert. Da stand Mark Zuckerberg neben dem Chef der Nasdaq-Börse, Robert Greifeld – letzterer natürlich, wie „Freund Mark“ anstelle im Maßanzug auch im T-Shirt. Greifeld kündigte Zuckerberg auf eine Art an, die den Dalai Lama vor Neid erblassen lassen würde (es sei denn, der würde selbst endlich an die Börse gehen): „Hier ist er – euer Visionär, euer Gründer, euer Anführer – Mark, komm bitte ans Podium.“ Zuckerberg, umringt von Claqueuren, sprach dann – natürlich alles absolut spontan – die Sätze: „Der Börsengang ist ein Meilenstein in unserer Geschichte. Doch es ist nicht unsere Mission, eine Aktiengesellschaft zu sein. Unsere Mission ist, die Welt offener zu machen und stärker zu vernetzen.“ Das Nasdaq-Management ließ die Szene an mehreren Börsenplätzen der Welt live übertragen. Auf dem Times Square in New York standen Trauben von Menschen vor den Bildschirmen, hielten die Handy-Kameras hoch… auf dass die Bilder gleich wieder in diverse Datennetze, nicht zuletzt in dasjenige von Facebook, eingespeist würde. Dann des Meisters letzte Worte: „Let´s do this!“ DOING – die Börsenglocke erklang.

Kurz darauf musste Facebook bekannt geben, dass die Zahl der „fake-accounts“ deutlich höher als bisher angegeben ist. Sie müsse inzwischen auf 83 Millionen geschätzt werden. Jetzt soll, äußerst praktisch, eine Funktion eingeführt werden, mit der man „Freunde“ verraten kann, die unter falschem Namen in der community unterwegs sind. All das erfolgt unter dem Druck der Werbebranche, die exakt wissen will, ob die 1,28 Dollar Umsatz je Nutzer, ein bereits sehr niedriger Wert, nicht zu hoch sind, sodass Facebook-Werbung eigentlich billiger zu haben sein sollte. Da 85 Prozent des Facebook-Umsatzes Werbung sind und da Internet-Werbung generell billiger wird, kann Facebook als Unternehmen aktuell nur überleben, wenn das Wachstum der Nutzer anhält – und wenn dieses Wachstum größer ist als der Rückgang der Werbeeinnahmen je Nutzer. Allerdings soll die Erde keine Endlosscheibe, sondern eine Kugel sein – womit das Ende des Facebook-Hypes sich wohl bereits mit dem Sturz des Aktienkurses andeutete. Doch ein solches Ende des Facebook-Hypes dürfte nur der Anfang eines nächsten Internet-Hypes sein. Und damit in der Addition all dieser Hypes eine unglaubliche Verdichtung im Leben von Hunderten Millionen Menschen. Der ehemalige Chef und Mitbegründer des Unternehmens Software AG, einer der Aussteiger aus der Internet-Community, Peter Schnell, schrieb dazu jüngst in der deutschen Financial Times: „Es war früher üblich, dass der Mensch zwischen seinen Tätigkeiten immer Zeit hatte, sich zu besinnen. Seine Muße. Heute muss die Muße neu erfunden werden. Denn was die Technologie uns gebracht hat, ist das Eliminieren der Freizeiten, der Zwischenräume, der Erholzeiten (…) Die heutige Zeit ist verpestet mit Banalitäten. Die Zeit wird ausgefüllt mit Nichts. Das sind Löcher in der Biographie.“

Mag ja sein, dass derlei Kritik als überholte Philosophie eines 72 Jahre alten Internet-Entwicklers abgetan wird. Die Internet-Community ist jung, flexibel, voller speed. Und es werden ja auch – neben all dem Unsinn – einige höchst sinnvolle Dinge auf facebook gepostet oder bei der Konkurrenz getwittert. Erstaunlich ist allerdings, dass in Zeiten der Debatten über die Erderwärmung das Thema Energieverbrauch des Internets so gut wie keine kritische Erwähnung findet. Insgesamt liegen der Energieverbrauch und die Emission von Treibhausgasen des Internets gleichhoch wie diejenigen des gesamten Luftverkehrs. Für beide gilt: Tendenz deutlich ansteigend. Die Internet-Rechenzentren verbrauchen für die Aktivitäten der maximal 1,5 Milliarden Internet-Nutzer mehr Strom als ganz Indien mit einer Milliarde Menschen. Dabei beanspruchen Google, Facebook, Amazon und Twitter den größten Teil der Rechner- und Energie-Kapazitäten. Mit Facebook und Twitter droht sogar ein sprunghafter Anstieg des Energiekonsums: Wenn immer mehr Daten nicht mehr lokal, auf den PCs, was ja heißt „persönlicher Computer“, gespeichert, sondern weltweit verteilt in Netzwerken, also „in der Wolke“, in der cloud, abgelegt werden, spart das zwar dezentral viel Speicherplatz. Dies führt jedoch zu einem massiven Anstieg der Online-Aktivitäten. Dass die sozialen Netzwerke zu einer Reduktion der physischen Mobilität – und damit zu Einsparungen von Treibhausgasen – geführt hätten, lässt sich nicht feststellen. Im Gegenteil. Susan Boos in der WOZ: „Man fragt sich: Wer braucht Facebook wirklich? So viel verplemperte Energie für ein bisschen Geplauder? Eine Kilowattstunde kann man nur einmal einsetzen. Auch erneuerbare Energien sind endlich.“

Die Maßstäbe, die in der Linken für political correctness gelten, sind irritierend. Jüngst hat die hiesige Beteiligungsgesellschaft Capvis den deutschen Hersteller von Ökotextilien, hess natur, übernommen („hess natur vereint Mensch, Umwelt und Mode“; siehe ch.hessnatur.com). Die Züricher Gesellschaft hatte bisher in Unternehmen wie WMF oder Stadler Rail investiert, Haushaltswaren und Bahntechnik, was nicht unbedingt als politisch anrüchig galt. Dennoch gibt es – u.a. natürlich im Internet – heftige Proteste und Boykottaufrufe. Die Leute, die Facebook oder Twitter kontrollieren und die mit Facebook ihr Geld machen, sind erheblich anrüchiger als die Züricher Heuschrecke. Bei Twitter stieg jüngst seine königliche Hoheit, Prinz Al-Walid von Saudi-Arabien ein. Auf die Frage „Es gab die Meinung, ein arabischer Investor sei nicht gut für die Meinungsfreiheit auf Twitter – können Sie das verstehen“, antwortete der Mann, in dessen Land Frauen bei Ehebruch gesteinigt werden können und auf alle Fälle kein Auto steuern oder ein Konto führen dürfen und dessen Regierung hunderte deutsche Leo-II-Panzer bestellte, die sich hervorragend, siehe Katar, zur Aufstandsbekämpfung eignen: „Ich bin für Meinungsfreiheit und Pressefreiheit. Ich bin für die Gleichheit zwischen Mann und Frau. Wenn man in Twitter investiert, dann glaubt man an die Informationsfreiheit.“

Urs-Bonifaz Kohler lebt in Solothurn. Er schrieb in LP21 Heft 18 zum Thema „Die neue Jagd nach alten und neuen Rohstoffen“.

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