NHS vor Privatisierung

Britische Regierung will staatliches Gesundheitssystem zerschlagen
Christian Bunke. Lunapark21 – Heft 22

Die umstrittenste Maßnahme der konservativ-liberaldemokratischen britischen Regierung ist die geplante Privatisierung des staatlichen Gesundheitssystems National Health Service (NHS). Das Vorhaben ist so kontrovers, dass Regierungsmitglieder immer noch behaupten, Privatisierungen stünden nicht auf der Agenda. Doch genau das ist der Fall. Wird der Plan umgesetzt, dann fällt eine der größten sozialen Errungenschaften Großbritanniens, wenn nicht Europas.

Um das das zu verstehen muss man zurück ins Jahr 1945 schauen. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende, der Faschismus besiegt. Großbritannien konnte diesen Krieg nur durch Verstaatlichungen und staatliche Regulierungsmaßnahmen bei privaten Unternehmen führen. Nun forderten britische Beschäftigte, diese Methoden auch zum Wohle der eigenen Bevölkerung einzusetzen. Man wollte nicht mehr zurück in die Zeiten der katastrophalen Armut, des Hungers und der Wohnungsnot, wie sie in den 1920er und 1930er Jahren geherrscht hatten.

Die Labour Partei trat zu den Wahlen mit einem linksreformistischen Programm an. Gefordert wurde die Planung der Wirtschaft im Interesse der Vielen. Kohle- und Stahlproduktion sollten verstaatlicht, die anderen Monopole einer öffentlichen Kontrolle unterstellt werden. Labour erzielte einen massiven Wahlerfolg, fast 50 Prozent der Stimmen. Es war nun möglich, das Versprochene umzusetzen.

Man kann über die Erfolge der damaligen Labour Regierung streiten und durchaus der Meinung sein, dass in den folgenden Jahren eine Chance für ein sozialistisches Großbritannien verspielt wurde. Dennoch entstanden in dieser Zeit seither ungekannte Errungenschaften. Die wichtigste Errungenschaft stellt das 1948 von Gesundheitsminister Nye Bevan eingeführte staatliche Gesundheitssystem NHS dar.

Große Errungenschaft
Das NHS wird aus Steuergeldern finanziert und ermöglicht jedem in Großbritannien lebenden Menschen eine kostenlose Gesundheitsversorgung. NHS bedeutet, dass gesundheitliche Versorgung in Großbritannien ein Grundrecht ist, das allen zusteht. Für die überwiegende Mehrheit der britischen Bevölkerung der 1940er Jahre war es das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Zugang zu Krankenhäusern und Ärzten hatten, ohne sich Sorgen über die Kosten ihrer Behandlung machen zu müssen.

Bevan gehörte zum linken Flügel der Labour Partei und hatte keine Illusionen über die Gefahren, denen ein solches Gesundheitssystem in der Zukunft ausgesetzt sein würde. „Das NHS wird so lange existieren, wie Menschen bereit sind, dafür zu kämpfen.“ Das ist seine berühmteste Aussage, die heute oft auf Transparenten bei Demonstrationen gegen Einsparungen im NHS zu lesen ist.

1952 trat Bevan als Gesundheitsminister zurück, weil die Labour-Regierung Gebühren für Zahnarztleistungen und Brillengestelle einführte, um den Korea-Krieg zu finanzieren. Der erste Angriff auf das NHS kam also mitnichten von den Tories, sondern „aus den eigenen Reihen“ der Labour Partei. Die Parlamentswahlen des darauf folgenden Jahres verlor Labour folgerichtig.

„Bolschewistisches Spektakel“
Für die britischen Konservativen ist das NHS der Inbegriff einer möglichen sozialistischen Gesellschaftsordnung, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Als der Filmemacher Danny Boyle das NHS in den Mittelpunkt seiner olympischen Eröffnungszeremonie stellte, schäumten viele Tories vor Wut und nannten es ein „bolschewistisches Spektakel.“ Oft ist aus den Reihen der Konservativen zu hören, das NHS sei „ein fettes Schwein, das endlich geschlachtet gehört“.

Diese Leute sehen nun ihre Zeit als gekommen. Im April trat der „Health and Social Care Act“ in Kraft. Dieses Gesetz ist geschrieben wie ein Labyrinth. Man kann es kaum verstehen. Das ist kein Zufall, sondern bewusste Verschleierung. Mit dem Gesetz wird das Prinzip der kapitalistischen Marktwirtschaft im NHS festgeschrieben. Es legt die Grundlage für eine Umstrukturierung, die keinen Stein auf dem anderen lässt und an deren Ende die vollständige Privatisierung stehen wird.

Es gehört zu den Gründungslügen der derzeitigen Regierung, dass man genau dies nicht vorhabe. Man wolle ein Ende der „Top Down“-Reformen des NHS, wie sie von den Vorgängerregierungen durchgeführt worden waren, hieß es noch im Koalitionsvertrag. Die Tinte war im Sommer 2010 noch nicht trocken, da kündigte der konservative Gesundheitsminister Andrew Lansley schon das neue Gesetz an.

Vorarbeit durch Labour
Allerdings hatte es da bereits jahrelange Vorarbeit durch die Labour-Regierungen unter Tony Blair und Gordon Brown gegeben. Diese haben nach und nach private Elemente in das NHS eingeführt. Mit am schlimmsten hat sich die so genannte „Public Finance Initiative“, kurz PFI (in Deutschland: PPP), ausgewirkt.

PFI bedeutet zum Beispiel, dass eine örtliche NHS-Struktur ein staatliches Krankenhaus an eine Privatfirma verkauft und sich dieses dann von der Firma zurückmietet. Staatliche Steuergelder werden nun verwendet, um Privatfirmen für Dienstleistungen zu bezahlen, die vorher in staatlicher Hand und damit in öffentlicher Kontrolle waren.

Eine Folge ist, dass das NHS in den vergangenen Jahren Schulden von bis zu 100 Milliarden Pfund (117 Milliarden Euro) aufgehäuft hat. 60 Krankenhäuser sind deshalb von Schließung bedroht. Die jetzige Regierung verschlimmert die Lage, indem sie das NHS zu Einsparungen im Wert von 20 Milliarden Pfund zwingt. Dies wird zu weiteren und großflächigen Schließungen führen. Tausende werden ihren Arbeitsplatz verlieren, Menschen werden in Folge unzureichender Versorgung sterben.

Bei diesen Maßnahmen sind die Auswirkungen des „Health and Social Care Act“ noch nicht einbezogen. In den kommenden Jahren wird man dessen Auswirkungen aber zu spüren bekommen. Kern des Gesetzes ist die geplante Auflösung der bisherigen regionalen Organisationsstrukturen des NHS, genannt „Primary Care Trusts“. Diese sollen durch so genannte „Clinical Commissioning Groups“ ersetzt werden.

„Clinical Commissioning Groups“ sollen von Hausärzten gesteuert werden. Sie sollen zukünftig entscheiden können, wer behandelt wird, ob die Behandlung kostenpflichtig ist und von wem sie durchgeführt wird. Bereits jetzt wurden 105 Gesundheitskonzernen Verträge im Wert von 250 Millionen Pfund gegeben. Im laufenden Jahr sind weitere Aufträge im Wert von 750 Millionen Pfund zu vergeben. Insgesamt beträgt das jährliche NHS-Budget 100 Milliarden Pfund. 60 Milliarden davon werden zukünftig von den „Clinical Commissioning Groups“ kontrolliert.

Widerstand regt sich
David Bennett, Chef der Regulierungsbehörde „Monitor“, die den Privatisierungsprozess begleiten soll, machte 2012 mit einer unüberlegten Aussage deutlich, wohin die Reise gehen soll: „Wir haben die Eisenbahnen und das Wasser privatisiert. Wir haben 20 Jahre Erfahrung damit, monopolistische Strukturen wirtschaftlicher Regulierung auszusetzen.“

Jeder, der sich einmal in den Fängen der privatisierten Eisenbahnen Großbritanniens befunden hat oder unter den massiven Preissteigerungen der Gasversorger leiden musste, wird diese Aussage als Drohung empfinden. Das für die NHS-Privatisierung zuständige parlamentarische Komitee wertete sie dementsprechend als „nicht hilfreich“.

Bereits jetzt gibt es eine Vielzahl von Berichten über die negativen Auswirkungen von Privatisierungsmaßnahmen im Gesundheitsbereich. So weigert sich die Firma Practice plc, Arztpraxen in verarmten Stadtteilen zu eröffnen. Sie sieht dort nicht genügend Profitmöglichkeiten.

Doch es regt sich Widerstand. Allein in London demonstrierten im Frühjahr 2013 Zehntausende gegen drohende Krankenhausschließungen. Ein Höhepunkt war eine Großdemonstration am 18. Mai, die von einer breiten Koalition aus Gewerkschaften und Bürgerinitiativen getragen wurde.
Eine solche Koalition braucht es auch auf nationaler Ebene. Allerdings zeigen sich die Führungen mancher Gewerkschaften immer noch zögerlich. Sie hoffen auf eine Labour-Regierung bei den nächsten Parlamentswahlen. Doch zum einen sind diese erst im Jahr 2015. Und zum anderen gibt es die klare Aussage der Labour Partei, die NHS-Privatisierung nicht rückgängig machen zu wollen. Zur Rettung des NHS führt für die Gewerkschaften daher kein Weg daran vorbei, alle Kampfmittel einzusetzen – inklusive eines Generalstreiks, über den in der britischen Gewerkschaftsbewegung mittlerweile intensiv diskutiert wird.

Christian Bunke ist freier Journalist. Er lebt und arbeitet in Manchester und Wien

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