Grundsatzkonflikt

Einzelhandelsunternehmer wollen ihren Beschäftigten an den Mantel
Manfred Dietenberger. Lunapark21 – Heft 22

Im deutschen Einzelhandel hat ein bedeutender Grundsatzkonflikt begonnen. Außer in Hamburg haben die Unternehmerverbände in sämtlichen Regionen die Manteltarifverträge gekündigt. Unter dem Schlagwort „Modernisierung“ streben sie eine deutliche Senkung des Lohnniveaus an. Die mehr als 2,7 Millionen Beschäftigten, von denen viele ohnehin schon unter prekären Bedingungen arbeiten, sehen sich einem Generalangriff ausgesetzt.

Vor dem Hintergrund stagnierender Umsätze führen die Einzelhandelskonzerne einen gnadenlosen Verdrängungswettbewerb. Ihre Strategie dabei: längere Öffnungszeiten, immer größere Verkaufsflächen und Lohndumping. Schon jetzt ist jeder dritte Arbeitsplatz in der Branche prekär und das Einkommensniveau kümmerlich. Jüngste Untersuchungen haben ergeben, dass nur die Hälfte der Beschäftigten direkt nach Tarif entlohnt wird. Ein weiteres Viertel arbeitet in Unternehmen, die die Regeln des Tarifvertrags oder wenigstens große Teile davon per Arbeitsvertrag übernehmen. Beschäftigte ohne den Schutz eines Tarifvertrages bekommen laut der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di oft nur fünf Euro pro Stunde. Nach fünf Jahren Berufspraxis verdient eine Einzelhandelsfachkraft im Monatsschnitt gerade mal 2248 Euro brutto – ein Stundenlohn von 13,79 Euro.

Das ist dem Unternehmerverband HDE noch zu viel. Mit der Kündigung der Manteltarifverträge will er die Lohnkosten weiter drücken. Begründet wird der Schritt aber damit, die bisherige Entgeltstruktur sei „unausgewogen“ und werde „den Anforderungen an die Mitarbeiter in der modernen Arbeitswelt nicht gerecht“. Dass das Eingruppierungssystem im Einzelhandel nicht mehr zeitgemäß ist, wird auch von der Gewerkschaft ver.di nicht bestritten, stammen die Verträge doch im Kern aus den 1950er- und 60er-Jahren. Neben absolut Unverzichtbarem sind dort beispielsweise noch Berufsbilder wie der Fahrstuhlführer, die Kaltmamsell oder die Pelznäherin zu finden. Ebenso überflüssig sind die Regelungen für ehemalige Angehörige der Wehrmacht, Flakhelfer und Rückkehrer aus Kriegsgefangenschaft.

Den Einzelhandelsunternehmern geht es aber nicht darum, diese überholten Passagen zu streichen. Sie nutzen sie lediglich dafür, den Tarifvertrag lächerlich zu machen, um ihre Profitinteressen noch rigoroser durchsetzen zu können. Das gilt auch für die Absicht, sich von der bisherigen Einteilung in Angestellte und gewerbliche Beschäftigte zu verabschieden. Mit der Neudefinition von Berufen will der HDE vor allem eine schlechtere Eingruppierung weiter Teile der Belegschaften erreichen.

Tarifflucht trotz hoher Gewinne
Die Gewinne der Einzelhandelskonzerne vor Steuern sind von 2000 bis 2012 um 76,3 Prozent oder neun Milliarden Euro gestiegen. Dennoch sind für sie gesicherte Einkommen, die 37,5-Stunden-Woche, Mehrarbeitszuschläge, Zuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit, 36 Werktage Urlaub, Kündigungsschutz für ältere Beschäftigte sowie die Freistellung für Hochzeiten und Todesfälle lästige „alte Zöpfe“, die abgeschnitten gehören.

Zugleich setzen wichtige Teile des Unternehmerlagers auf Tarifflucht. So steigt die Warenhausgruppe Globus mit Sitz im saarländischen St. Wendel, die 32500 Menschen beschäftigt, bundesweit aus den Einzelhandelstarifen aus. Das Unternehmen brauche „Globus-spezifische Entgeltstrukturen“, hieß es zur Begründung. Die Entscheidung des Konzerns ist ein starker Einschnitt, weil im Lebensmittel-Einzelhandel – anders als etwa bei Modediscountern – bisher noch fast alle Unternehmen dem Flächentarif unterliegen.
Auch Karstadt möchte seine „Sanierung“ ohne finanzielle Hilfe des „Investors“ Nicolas Berggruen und auf Kosten der Beschäftigten fortsetzen. Die Essener Kaufhauskette legt dazu eine von ihr kreierte „Tarifpause“ ein. Die bundesweit rund 24000 Angestellten, die schon seit 2004 auf mehr als 650 Millionen Euro verzichtet haben, sollen für mindestens zwei Jahre ohne Gehaltserhöhung auskommen. Mit dem Ausstieg aus der Tarifbindung will der Konzern bis 2015 geschätzte 36 Millionen Euro einsparen.

Druck durch Automatisierung
Das sind nur zwei aktuelle Beispiele von Tarifflucht, denen noch weitere folgen könnten. In so mancher Chefetage werde ebenfalls ein Ausstieg aus der Tarifbindung erwogen, heißt es. Auch in tarifgebundenen Unternehmen werden einfache Tätigkeiten wie etwa das Auffüllen der Supermarktregale an Logistikfirmen vergeben, die wiederum Leiharbeiter oder Beschäftigte mit Werksverträgen zu Hungerlöhnen anheuern. Die im Handel üblichen Spät- und Nachtzuschläge von 20 bis 50 Prozent des Normallohns werden ihnen vorenthalten, was das Befüllen der Regale in den Randzeiten deutlich billiger macht.

Ähnliche Tendenzen gibt es an der Supermarktkasse: Mit Scannerkassen und einer großenteils von Werttransportfirmen organisierten Bargeldlogistik werden die Tätigkeit dort einfacher – aber nicht unbedingt weniger belastend. Die Unternehmervertreter nutzen das, um ihre Forderung nach einer neuen Tarifstruktur zu begründen, da die meisten der regionalen Tarifverträge die Arbeit einer Kassiererin graduell höher bewerten als die einer Verkäuferin. Auch mit neuer Entgeltstruktur dürfte aber die Entwicklung hin zu mehr „Selfscanning“-Kassen, an denen Kunden selbst abrechnen, zur Ausgliederung von Kassiertätigkeiten an Bargeldlogistikfirmen sowie zum Ausstieg der Händler aus dem Flächentarif weitergehen.

Doch auch das ist längst noch nicht das letzte Wort. In nicht allzu ferner Zukunft könnte es zu einer weiteren Perfektionierung bei der Automatisierung des Warendurchlaufs kommen. Die Ware wird dann schon bei der Anlieferung über an ihr aufgebrachte Chips gescannt. Dieser sogenannten RFID-Chip (radio-frequency identification) ermöglicht es, automatisch die gesamte Palette beim Wareneingang oder den ganzen Warenkorb beim Verkauf zu scannen. Damit entfällt zum Beispiel die Arbeit in der Wareneingangskontrolle. Ab der Rampe bis in den Verkaufsraum könnten künftig nur noch Warenverräumer zu Niedriglöhnen arbeiten. Der Kunde würde seinen Einkaufswagen eigenhändig durch den Scanner fahren, der die Ware ausliest. Auf dem Bildschirm würde der Rechnungsbetrag aufleuchten, der Bezahlvorgang würde bargeldlos – mit Kunden-, Kredit- oder EC-Karte – getätigt. In all diesen Plastikkarten müsste dann ebenfalls ein RFID-Chip integriert sein. Es wird allerdings noch etwas dauern, bis es soweit ist. Der RFID-Chip ist bislang zu teuer, um ihn auf jeden Krimskrams zu kleben.

Nicht Struktur-, sondern Machtfragen
Die Einzelhandelsbranche befindet sich also im Umbruch – mit weitreichenden Folgen für die Beschäftigten und ihre Arbeitsbedingungen. Vor diesem Hintergrund haben sich Teile der ver.di-Spitze in den vergangenen Jahren auf Gespräche mit dem HDE über eine grundlegende Reform der Tarifverträge eingelassen. Linke Gewerkschafter haben diesen Versuch, im Konsens mit den Arbeitgebern und ohne Mobilisierung der Beschäftigten weitreichende Veränderungen umzusetzen, deutlich kritisiert.

Spätestens mit dem jetzigen Konfrontationskurs haben die Unternehmer klar zu erkennen gegeben, dass sie unter dem Etikett der „Modernisierung“ des Manteltarifs eine Absenkung der Entgelte betreiben. Es geht letztlich nicht um Struktur-, sondern um Machtfragen. In der laufenden Tarifrunde steht daher Grundlegendes auf dem Spiel: Nämlich die Frage, ob den Beschäftigten des Einzelhandels existenzsichernde Mindestbedingungen auch in Zukunft per Tarifvertrag garantiert werden.

„Hände weg von meinem Mantel!“ Das ist die Losung, unter der seit Beginn des Jahres mehr als 12000 Beschäftigte für die Gewerkschaft gewonnen wurden. Auch sie haben erkannt: Es geht um die entschiedene Abwehr eines Generalangriffs auf existenzielle Arbeits- und Einkommensbedingungen, auf Arbeitszeiten und Zuschläge, Eingruppierung und viele weitere Schutzregelungen. Alle DGB-Gewerkschaften müssen den Kampf der Kolleginnen und Kollegen teilen – oder sie teilen deren Niederlage.

Manfred Dietenberger ist Gewerkschafter, Vorsitzender eines Mietervereins, Ostermarschierer und schreibt regelmäßig für Lunapark21, SoZ und UZ.

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