Schuldenschnitt statt „Gesundsparen“. Wie es Argentinien aus der größten Wirtschaftskrise seiner Geschichte in eine der stabilsten Perioden schaffte

Aus: LunaPark21 – Heft 17

Ob Fernando de la Rúa die Menschenmassen gesehen hat, die sich am 20. Dezember 2001 auf die Plaza de Mayo drängten, weiß keiner. Gehört haben wird er sie in jedem Fall. Denn an seinem 640sten Tag als argentinischer Präsident bestieg er um 19.52 Uhr einen Hubschrauber auf dem Dach der Casa Rosada und flüchtete – eingefangen von unzähligen Kameras, die das Bild pünktlich zu den 22- Uhr Nachrichten auf vielen TV-Kanälen der Welt brachten.

De la Rúa war nicht der einzige Präsident, der in Wochen des argentinischen Aufstandes Ende des Jahres 2001 und im Jahr 2002 weggefegt werden sollte. Zwölf Jahre Neoliberalismus hatten das Land nicht in die versprochene erste Welt, sondern geradewegs in die Dritte katapultiert. Während Hunderttausende um ihre Einlagen betrogene Sparer monatelang vor den Bankhäusern demonstrierten, kam es in den armen Vorstädten zu Hungerkrisen. Die Menschen plünderten Supermärkte, Arbeitslosenorganisationen lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Losung „Que se vayan todos – Alle Politiker sollen gehen“ wurde zur Volkshymne. Zumindest die Präsidenten gingen, fünf innerhalb von zehn Tagen.

Wer dieser Tage durch die argentinische Hauptstadt geht, wird höchstens durch die Jubiläumsausgaben in den Auslagen der Zeitungskioske an die Ereignisse vor zehn Jahren erinnert. Im Zentrum von Buenos Aires blüht das Leben. Die wieder zu Geld gekommene Mittelschicht bevölkert die unzähligen Cafés, Restaurants und Geschäfte, die sich von der Plaza de Mayo nordöstlich durchs Zentrum ziehen. Und der Verkehr stockt nicht mehr wegen der ständigen Demonstrationen, sondern schlicht, weil die Straßen zu voll sind. 5000 Autos werden aktuell täglich im Land verkauft. Man kann sich wieder etwas leisten. Die Arbeitslosigkeit ist von 25 Prozent im Jahr 2002 auf sieben Prozent gesunken, die Reallöhne sind gestiegen. Während Europa sich von einer Krise zur nächsten windet, wuchs die argentinische Wirtschaft im vergangenen Jahr um acht Prozent.

Knackpunkt Schulden

Der kometenhafte Aufstieg aus der schwersten Wirtschaftskrise der Geschichte des Landes in eine der stabilsten Perioden ist fraglos mit dem Namen Néstor Kirchner verbunden. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass der im März 2003 inmitten von Streiks und Protesten angetretene peronistische Provinzgouverneur sich länger im Amt hält als seine Vorgänger. Im Oktober 2010 erlag er einem Herzleiden. 2007 war ihm seine Frau Christina im Amt gefolgt. Sie wurde im Oktober 2011 mit historischen 54 Prozent der Stimmen für eine zweite Amtszeit bestätigt. Als Zwischenlösung begonnen, verfügt der „Kirchnerismus“ heute über den größten Rückhalt in der Wählerschaft seit der Rückkehr zur Demokratie 1983.

Schlüssel für die soziale Stabilisierung war die ökonomische. Kirchner brach mit vielem von dem, was damals in Argentinien als ökonomisch rational galt und in den meisten Teilen der Welt bis heute gilt: Die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit und die Aufhebung festen – in der Verfassung verankerten – Bindung der argentinischen Währung an den US-Dollar gingen noch auf das Konto seines Vorgängers Eduardo Duhalde. Doch was beim Rechtsperonisten aus der Not geboren war, setzten die Kirchners konsequent als Modell fort. Niedrige Zinsen, staatliche Investitionen und eine unterbewertete Währung machten den Exportsektor, der durch die jahrelange Gleichsetzung 1 Peso = 1 US-Dollar darniederlag, wieder konkurrenzfähig. Sie verstaatlichten einige der während der 90er Jahre privatisierten Unternehmen (darunter die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas) sowie die hoch defizitären privaten Renten- und Pensionsfonds. Entgegen aller Unkenrufe von Experten im In- und Ausland hatte sie Erfolg damit: Seit 2003 wurde jedes Jahr mit einem Wachstum von rund acht Prozent beendet, lediglich unterbrochen durch ein leichtes Straucheln im Jahr der globalen Wirtschaftskrise 2009.

Zentral für diese langfristige Erholung war die Lösung des Schuldenproblems: Als Argentinien im Dezember 2001 die Zahlungsunfähigkeit verkündete, drückte das Land eine Schuldenlast von 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (insgesamt 144,3 Milliarden US-Dollar). 65 Prozent der Exporterlöse gingen direkt in den Schuldendienst. Die Regierung war sich im Klaren darüber, dass die klassischen Rezepte wie schmerzhaftes „Gesundsparen“, um die Gläubiger und damit die Kapitalmärkte nicht zu vergraulen, ins Leere laufen würde. Vor allem aber hätte sie eine solche Politik nicht durchsetzen können, der Widerstand auf der Straße war zu groß. Also wurden nur noch die nötigsten Zinszahlungen getätigt. Forderungen des IWF nach weiteren Privatisierungen und Kompensationszahlungen an private Geschäftsbanken wurden abgelehnt.

Internationale Organisationen reagierten zunächst eher perplex, als dass sie versuchten, Druck auszuüben. „Ich musste es mehrfach wiederholen. Köhler dachte, es liege an meinem Englisch, dass er mich nicht verstand. Er konnte nicht glauben, dass jemand die Segnungen des IWF ablehnen will“, erinnerte sich Roberto Lavagna, Wirtschaftsminister unter Duhalde und Kirchner, kürzlich im Handelsblatt (27.12.2011). Man kann sich das Gesicht des damaligen IWF-Vorsitzenden Horst Köhler vorstellen, als Lavagna ihm ankündigte, künftig auf Kredite des Fonds zu verzichten. Mehr Widerstand allerdings war von den privaten Gläubigern zu erwarten. Anfang 2005 schickte Kirchner Lavagna nach Dubai, um eine Umschuldung zu verhandeln. Die Regierung pokerte hoch. Die Gläubiger sollten auf zwei Drittel ihrer Forderungen verzichten. Die Interessenverbände tobten, doch Lavagna setzte sich durch. Fast 80 Prozent aller Gläubiger akzeptierte. Unter ihnen genauso tausende kleine Bondbesitzer wie große, gut organisierte institutionelle Anleger. 81,8 Milliarden US-Dollar wurden in neue Anleihen mit niedrigerem Nennwert, längeren Laufzeiten und niedrigeren Zinsen umgewandelt – eine riesige Erleichterung.

Auch vom IWF trennte man sich, wenn auch auf weniger spektakuläre Weise: Im selben Jahr wurde der Fonds ausgezahlt, abgestimmt mit Brasilien und mithilfe von venezolanischem Geld. Wie reagierten die Märkte? So, wie sie es immer tun: Argentinien wurde zum Paria. Noch heute bewertet Moody´s das Land mit B3; argentinische Anleihen haben Spekulations-Standard. Die anfänglichen 15 Prozent Risikoaufschlag sind zwar inzwischen auf fünf gesunken. Doch am Río de la Plata zahlt man immer noch mehr als doppelt soviel Zinsen wie in Brasilien oder Chile. Zudem halten die verbleibenden privaten Schuldner ihren Druck aufrecht. Noch immer wird geklagt, prozessiert und gedroht. Doch die Rechnung ging auf. Außer für die noch laufende Umschuldung wurden bisher keine neuen Anleihen auf den Kapitalmarkt gebracht.

Ohne Wachstum geht nichts

Für diese Selbstfinanzierung braucht das Land jedoch konstant hohes Wachstum. Ob dies dauerhaft aufrechterhalten werden kann, ist fraglich. Das argentinische Wachstumsmodell basiert nicht unwesentlich auf den hohen Weltmarktpreisen für Rohstoffe. Zu Recht wird von linken wie auch rechten Ökonomen vor der Anfälligkeit einer einseitigen Ausrichtung auf Agrarexporte gewarnt. Tatsächlich haben die Ausfuhr von Soja und die boomende Minenwirtschaft im Norden des Landes seit den 90er Jahren enorm an Bedeutung gewonnen. Argentinien ist heute der weltweit drittgrößte Exporteur von genmanipuliertem Soja, China sein wichtigster Abnehmer. Für viele Landwirte ist es inzwischen rentabler, die gelben Bohnen anzubauen, als auf Weizen oder die traditionelle Rinderzucht zu setzen.

Doch ist der Rohstoffexport wirklich dominant? Die Zahlen geben das nicht her. Während in nahezu allen lateinamerikanischen Ländern der Anteil von Primärgütern am Export in den letzten zehn Jahren zugenommen hat, ist er in Argentinien zurückgegangen. Gleichzeitig erlebte das Land seit der Aufgabe der Dollarbindung eine beachtliche Industrialisierung. 37 Prozent der Exporte waren 2010 Industriegüter, knapp 30 Prozent verarbeitete Rohstoffe. Der Anteil von unbehandelten Produkten aus Landwirtschaft und Bergbau liegt mit 28 Prozent weit unter den Werten der vergangenen Jahre. Besonders die Autoindustrie hat enorm zugelegt und erreicht einen Anteil von 8,5 Prozent an der gesamten industriellen Produktion.

Diese Entwicklung ist kein Selbstläufer. Sie ist Produkt einer durchaus konsequenter Haltung gegenüber ausländischen Investoren. „Wer in Argentinien verkaufen will, muss hier auch investieren und produzieren“, lässt sich Christina Fernández de Kirchner gerne zitieren. Das ist kein billiger Populismus. Weil große Erntemaschinenhersteller nicht bereit waren, Teile ihrer Produktion ins Land zu verlagern, stoppte die Regierung Ende vergangenen Jahres kurzerhand den Import der Maschinen. Den Anbietern drohte ein Markt mit einem Umsatzvolumen von 1,4 Milliarden Dollar verloren zu gehen, sie lenkten ein.

Arbeiterselbstverwaltung – zehn Jahre danach

In der ersten Ausgabe von Lunapark21 (Heft 1, Frühjahr 2008) fand sich ein von Alix Arnold verfasster Bericht über „sechs Jahre Arbeiterselbstverwaltung in Argentinien“. Auszug:

„Tausende Betriebe wurden in Argentinien in der Krise 2001 geschlossen. In verzweifelten Situationen begannen Beschäftigte, Fabriken zu besetzen und den Abtransport der Maschinen zu verhindern. Daraus entstand das Phänomen der empresadas recuperadas, der ´zurückeroberten´, selbstverwalteten Betriebe. (…) In der bewegten Zeit nach dem Aufstand wurden diese Betriebe zu einem Bezugspunkt, sowohl für die vom Absturz bedrohten Mittelschichten als auch für die bereits im Elend gestrandeten Arbeitslosen, die sich als piqueteros und piqueteras organisierten. Bei Räumungsdrohungen konnten die Arbeiter und Arbeiterinnen auf diese blockadeerprobten Leute zählen. Inzwischen ist es um die Besetzungen ruhig geworden, auch um die empresas recuperadas (…) Eine Ausnahme bildet Zanon in Neuquén, Patagonien. Die moderne Fliesenfabrik wurde im Oktober 2001 von 260 Beschäftigten besetzt. Sie konnten die Belegschaft auf 480 Beschäftigte ausweiten und 2007 erstmals exportieren. Der eigene Erfolg hat die companeros und companeras aber nicht vergessen lassen, dass sie nur durch die große Solidarität, die sie immer wieder gegen Räumungsversuche mobilisieren konnten, so weit gekommen sind.“

Klickt man auf die Internetseite www.obrerosdezanon.com.ar stellt man fest: Auch vier Jahre später existiert es noch – das besetzte und selbstverwaltete Fliesenwerk Zanon. Und viele andere selbstverwaltete Projekt und Bewegungen aus den Jahren 2001/ 2002 beziehen sich positiv auf Zanon, wenn sie sich gegen die Angriffe der Unternehmer, gelegentlich unterstützt von Teilen des Regierungslagers, zur Wehr setzen müssen. Siehe auch unter: www.labournet.de/internationales/ar/

Gleichwohl sind es vor allem die Big Player, die bisher am stärksten von der Industriepolitik profitieren. „Die 1976 von den Militärs eingeleitete Deindustrialisierung wurde beendet, doch es gab keine Politik für Mittelständler“, beklagte sich der kürzlich verstorbene Wirtschaftswissenschaftler Daniel Azpiazu in einem seiner letzten Interviews (página 12, 29.3.2009). Die ohnehin schon hohe Unternehmenskonzentration in der Wirtschaft ist noch gestiegen. Die 100 größten Unternehmen erbringen 44 Prozent des gesamten Industrieprodukts, 2001 waren es noch 38. Hinzu kommen strukturelle Blockaden. Zwar wächst die Industrie wieder, doch sie ist nicht in der Lage, die benötigten Maschinen konkurrenzfähig zu produzieren. Die müssen aus Europa und den USA importiert werden, was die Handelsbilanz zunehmend belastet.

Take-off?

„Europa sollte das argentinische Wachstum im Auge behalten, es zeigt, dass es ein Leben nach dem Staatsbankrott gibt“, empfahl der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz Anfang Dezember (página 12, 8.12. 2011). Vor dem Hintergrund der EU-Krise mutet die Entwicklung Argentiniens in den letzten zehn Jahren geradezu vorbildlich an. Während Deutschland die Rente mit 67 und Hartz IV in alle Mitgliedsstaaten exportiert und osteuropäische Länder sich im Steuersenkungswettbewerb gegenseitig unterbieten, wird in Argentinien klassische Sozialdemokratie praktiziert: Wachstum mit sozialem Ausgleich. In den vergangenen zehn Jahren wurde das Rentensystem wieder verstaatlicht, die Schwarzarbeit von knapp 35 Prozent auf etwa 20 Prozent reduziert; die Regierung führte erstmals in der Geschichte ein universelles Kindergeld in Höhe von 50 Dollar pro Familie ein und erhöhte die Bildungsausgaben auf sechs Prozent des BIP – in Deutschland sind es laut OECD 4,6 Prozent. Der Mindestlohn ist der höchste des Subkontinents.

Gleichwohl können über Jahrhunderte gewachsene Abhängigkeiten nicht durch einige reformorientierte Jahre überwunden werden. Argentinien befindet immer noch im Stadium des Take-offs, um einen Begriff des US-Entwicklungsökonomen Walt Whitman Rostow aufzugreifen. Die Reise zu dem von Néstor Kirchner versprochenen „normalen und seriösen Kapitalismus“ ist noch weit. Wesentliche Komponenten der Unterentwicklung bestehen weiter: Das ungerechte Steuersystem, die Unterentwicklung des Binnenmarktes bei gleichzeitiger Exportabhängigkeit oder die hohe Inflation mit rund 20 Prozent – ohne größere Konflikte werden sich diese Probleme nicht lösen lassen.

Ob die Regierungen überhaupt bereit ist, sich den Herausforderungen zu stellen, hängt in erster Linie vom Druck der Linken ab. Der argentinische Philosoph Horacio González bringt dies auf den Punkt, wenn er sagt: „Die Regierung Kirchner war nie eine linke, aber sie hat sich mangels Alternativen zu linker Politik drängen lassen.“ (Interview vom Autor im Februar 2011).

Der Bruch von 2001 war groß. Doch er war nicht grundlegend. Die Linke hat es nicht geschafft, die große Bewegung von 2001 in unabhängige Strukturen zu überführen. Gleichwohl ist sie ein wesentliches Stützbein der Regierung geworden. Anders als der Wahlsieg im November vermuten lässt, verfügt Christina Fernández de Kirchner über keine eigenständige Basis. Im Gegenteil: Das peronistische Regierungsbündnis ist zutiefst heterogen. Die Abhängigkeit von den traditionell korrupten Provinzfürsten bleibt enorm. Der progressive Teil der Regierung ist also auf die politische Mobilisierungsfähigkeit der Linken angewiesen. Zumindest die hier vorhandenen Handlungsspielräume muss sie nutzen.

Johannes Schulten arbeitet als Politredakteur bei der Tageszeitung junge Welt in Berlin. Er hat ein Jahr in Argentinien studiert und besucht das Land regelmäßig

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