Weiteres Indiz für die Verwahrlosung der Deutschen Bahn
Am 3. Juni 2022 gab es in Burgrain, in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen, Bayern, ein schweres Zugunglück. Ein gut besetzter Regionalexpress entgleiste, mehrere Waggons stürzten einen steilen Bahndamm hinunter. Fünf Menschen starben, 68 Fahrgäste erlitten teilweise schwere Verletzungen. Die Deutsche Bahn AG argumentiert seither, vieles spreche dafür, dass Betonschwellen, die im Unfallbereich „teilweise Unregelmäßigkeiten in der Materialbeschaffenheit“ aufgewiesen hätten und die wiederum aus einer größeren Charge stammten, mitursächlich für das Unglück gewesen seien.
Am 26. Juli 2022 gab es in München eine Pressekonferenz, zu der die GDL Bayern eingeladen hatte. Auf dem Podium saßen Uwe Böhm (GDL), der Bahnexperte Dieter Doege aus Hamburg, Michael Jung (Bahninitiative Prellbock Altona) und Winfried Wolf (Bürgerbahn). Vorgestellt wurde eine 16-seitige Studie, verfasst von Dieter Doege und dem Hamburger Verkehrsexperten Jens Ode, in der den Thesen der DB widersprochen und als wahrscheinliche Ursache die Schwächung des Bahndamms genannt wurde. Diese Schwächung sei wesentlich zurückzuführen auf den Neubau und die Verknüpfung zweier Bundesstraßen, B2 und B23, auf deren Verlegung direkt an den Bahndamm, wobei Bahngelände verkauft und der Fuß des Bahndamms in seiner Breite reduziert wurde. Zusätzlich wurde ein Bach direkt an den Bahndamm verlegt.
Obgleich es zu unserer Studie und zu der Pressekonferenz in mehr als zwei Dutzend Zeitungen und auf mindestens drei TV-Kanälen teilweise ausführliche Berichte gab, ignorierte die DB die Erkenntnisse und ließ die Unfallstelle unverändert wieder herrichten. Seit Herbst 2022 ist der Fahrbetrieb ohne Einschränkungen, das heißt mit maximaler Geschwindigkeit 100, wieder aufgenommen worden.
Am 7. Februar 2023 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel zum Unglück, verfasst von Matthias Köpf und Klaus Ott. Er war überschrieben mit „Aufgeweichter Bahndamm könnte Grund für Zugunglück gewesen sein“. Die SZ-Autoren gingen auch auf unsere Studie ein und stellten fest, dass deren „These neue Nahrung erhielt“. Allerdings wurden die Verfasser der Studie und die beteiligten Bahninitiativen nicht erwähnt. Nur fünf Tage später reagierte die DB und reduzierte die maximale Geschwindigkeit an der Unfallstelle auf 70 Kilometer pro Stunde. In der „Tages-La“, dem Verzeichnis der „Langsamfahrstellen im Bereich Süd“ vom 11. Februar 2023 wird als Grund für die Temporeduktion angegeben: „Untergrundmangel“.
Netzzustand
Marode und vernachlässigt ist das gesamte Schienennetz. Der Spiegel hat die DB-Fahrvorschriften für das gesamte Streckennetz vom 3. Juni 2022 analysiert. Demnach bremsten an diesem Tag 331 Langsamfahrstellen den Bahnverkehr in Deutschland aus. Mehr als 60 Langsamfahrstellen waren auf Mängel zurückzuführen, etwa auf schadhafte Brücken, defekte Signale und Bahnübergänge oder auf Schäden am Gleis. 123 Bummelstrecken lagen an Baustellen, bei 71 nennt die Bahn in den Unterlagen als Begründung „sonstiger Grund“.
Von den 331 Langsamfahrstellen bestanden zu diesem Zeitpunkt 225 seit mehr als einem Monat, davon einige seit mehr als fünf Jahren. Ent-gegen der Ankündigung der Bahn, vor Einführung des Neun-Euro-Tickets Langsamfahrstellen zu beseitigen, sind Langsamfahrstellen dazugekommen. Die Auswertung legte ebenfalls offen, dass die Bahn nach dem Eisenbahnunglück von Garmisch-Partenkirchen weitere Langsamfahrstellen aufgrund von Mängeln an den Schienen angeordnet hat. Nach dem Unglück tauchten im Verzeichnis der Langsamfahrstellen „für die Region Süd“ plötzlich mehr als 50 neue Streckenabschnitte auf. Die Begründung damals: „Oberbaumangel“.
Unglücksfahrt der RB 59458
Normalerweise hätte die RB 59458 ihren Startbahnhof Garmisch-Partenkirchen um 12.07 Uhr von Gleis 3 verlassen und ihren Zielort München-Hbf gegen 13.26 Uhr erreichen sollen. Der erste fahrplanmäßige Halt wäre nach fünf Kilometern Fahrt im Bahnhof Farchant um 12.10 Uhr gewesen.
Am 3. Juni 2022 war einiges anders. Erst gegen 12.12 Uhr verließ RB 59458 den Bahnhof Garmisch-Partenkirchen. Anders als üblich, war der Zug an dem Unglückstag nur mit einer Lokomotive bespannt, welche die fünf Doppelstockwagen von hinten anschob. Normalerweise verkehren auf der Strecke neben einstöckigen Triebwagen sogenannte Sandwich-Züge, bei denen die Doppelstockwagen zwischen zwei Lokomotiven laufen. Eine Lok zieht die fünf Wagen von vorn und die zweite Lok schiebt von hinten.
Der am Unglückstag eingesetzte Wendezug mit einem antriebslosen Steuerwagen vorn und der nachschiebenden Lokomotive hinten ist seit vielen Jahren als erprobte Technik im europäischen Eisenbahnwesen anerkannt. Gleichwohl haben sich mit dieser Zugart und nachschiebenden Lokomotiven schon Entgleisungen ereignet, die mit einer den Zug ziehenden Lokomotive mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht passiert wären.
Am Unglückstag wurden fünf Doppelstockwagen der RB 59458 mit 140 Fahrgästen und einem Gesamtgewicht von rund 245 Tonnen von der nachschiebenden, 83 Tonnen schweren, am 15. Juli 1976 in Dienst gestellten und am 17. November 2018 zuletzt untersuchten Elektrolok der Baureihe 111 mit einer Motorleistung von 3700 kWh beschleunigt. Die auf dieser Strecke zugelassene Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h dürfte in Höhe der Bioabfallverwertungsanlage Loisachauen, nach zwei Kilometern Fahrt und damit rund 800 Meter vor der Entgleisungsstelle erreicht worden sein.
Besonderheit der Unglücksfahrt und primäre Entgleisungsursache
Merkwürdig erscheint,, dass der Steuerwagen mit dem Triebfahr-zeugführer an der Spitze des Zuges die spätere Entgleisungsstelle in der langgestreckten Linkskurve noch unbeschadet passieren konnte. Merkwürdig deshalb, weil in jedem Gleisbogen die sich Kurvenfahrten entgegenstellenden Fliehkräfte stärker am ersten Wagen des Zuges wirken, während die nachfolgenden Wagen auch vom jeweils vorausfahrenden Wagen geführt werden. Entgegen dem normalen physikalisch-technischen Ablauf sprang beim Burgrain-Unglück das vordere zweiachsige Drehgestell des in Form und Gewicht ähnlichen zweiten Wagens aus den Schienen und lief, geführt vom noch nicht entgleisten Steuerwagen und vermutlich unbemerkt vom Triebfahrzeugführer, auf dem Schotter und den Schwellen des Gleisbettes weiter.
Doch durch das Anhäufen von immer mehr Schotter vor dem ersten Drehgestell des zweiten Wagens kam es innerhalb von kaum mehr als zehn Sekunden aus der Fahrgeschwindigkeit von 100 km/h zum abrupten Abbremsen des Zuges und schließlich zum Stillstand des zweiten und damit auch des angekuppelten ersten Wagens. Da das entgleiste Drehgestell bei der Fahrt auf den Schwellen diese diagonal verschoben hatte, kam es zu einer Spurverengung, die den ersten Wagen nun auch zum Entgleisen brachte.
Was könnten für Gründe vorgelegen haben, damit der erste Wagen ohne Störung über das Gleis fahren konnte und erst der zweite Wagen zur Entgleisung gebracht wurde?
a Gleisschaden, der durch den ersten darüber fahrenden Wagen ausgelöst oder verursacht wurde.
b Gleislagefehler, wobei ein instabiles Gleis durch den vorausfahrenden Wagen in seiner Lage kurz- oder langfristig so verändert wurde, dass es beim folgenden Wagen zum Verlust des Rad-Schiene-Kontaktes gekommen ist.
c Schaden am entgleisten Wagen oder Fehlstellung des Drehgestells mit dem Verlust des Rad-Schiene-Kontaktes.
d Ungewöhnliches Verhalten der Fahrgäste im Wagen, was eventuell zu starken Wankbewegungen des Wagenkastens geführt haben könnte.
Da die eigentliche Entgleisungsstelle und auch das Gleis im Verlauf der Überfahrung durch die mit den nachfolgenden Wagen und mit der doppelt so schweren Lokomotive umfassend zerstört wurde, wird sich vermutlich die primäre konkrete Ursache nicht mehr mit der gebotenen Eindeutigkeit feststellen lassen.
Unglücksverlauf im hinteren Teil des Zuges
Bei Zugunglücken auf geraden Strecken hat man die Erfahrung gemacht, dass sich bei einem Aufprall durch die hohe kinetische Energie (Bewegungsenergie) des Zuges die hinteren Wagen auf die ersten aufschieben oder sich die Wagen vor dem Hindernis im Zickzack wie bei einem Zollstock falten. So geschah es beim Zugunglück in Eschede 1998. Beim Aufprall in Gleisbögen weichen die Wagen oft zur Außenseite des Gleisbogens aus und knicken bisweilen, wie auch im vorliegenden Fall, ein. Verschärfend kam in Burgrain hinzu, dass die hohe kinetische Energie der 83 Tonnen schweren Lok mitgeholfen hat, die Wagen drei und vier über die steile Böschung den Bahndamm zu schieben.
Außerdem wird sich die elektronische Zugkraftregelung der den Zug schiebenden Lok verhängnisvoll ausgewirkt haben. Denn die elektronische Steuerung versucht selbsttätig, eine Verlangsamung des Zuges mit Steigerung der Antriebsleistung auszugleichen. Der zusätzliche Schub wird vermutlich zu einer noch stärkeren Verformung der Wagenkästen beigetragen haben, bis die Lok entgleist ist oder durch Zerstörung der Fahrleitung stromlos geworden ist. Pech auch, dass trotz der erheblichen Zerstörungen die Bremsschläuche intakt geblieben sind und damit eine automatische Zwangsbremsung verhindert haben.
Weitere Ursachen
Wie bereits erwähnt, wird die großflächige Zerstörung des Gleisbettes die Suche nach der primären Entgleisungsursache erschweren oder unmöglich machen. In der Tendenz spricht allerdings einiges für die Version b der möglichen Gründe. Denn gegen a spricht, dass der erste Wagen fahrgestellmäßig dem zweiten entspricht, gegen c die bereits erfolgte Untersuchung der Wagen, und Gründe zu d kennt man eigentlich nur bei randalierenden Sportfans.
Ein starkes Indiz für Version b sind die im Laufe der Jahre immer wieder und ausschließlich im Bereich der Unglückskurve ausgewechselten Schwellen, zu erkennen an der helleren Farbe auf Luftbildern. Die Behauptung der Deutschen Bahn zu möglichen schadhaften Betonschwellen geht weitgehend ins Leere, weil man dann nicht nur einzelne Schwellen hätte auswechseln müssen, sondern die gesamte schadhafte Charge der etwaig fehlproduzierten Betonschwellen.
Schwächung des Bahndamms
Betonschwellen mit dem Vorteil einer längeren Lebensdauer gegenüber Holzschwellen sind schwerer und bruchempfindlicher. In der größeren Bruchempfindlichkeit der Betonschwellen liegt möglicherweise ein oder sogar der Schlüssel zur Entgleisung. Denn bei der eingangs erwähnten Zusammenlegung der Bundesstraßen 2 und 23 sowie deren raumgreifender Verknüpfung wurde der Bahndamm gleich in mehrfacher Hinsicht erheblich geschwächt. Die Straßenführung und insbesondere die unterlassenen Sicherungsmaßnahmen am Gleis sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für die Todesfälle und Schwerverletzten des Eisenbahnunglücks von Burgrain verantwortlich zu machen.
Für Brüche an Betonschwellen gibt es im Wesentlichen vier Gründe:
• fehlerhafte Schwellen
• Überschreitung der Lebensdauer
• partielle Überlastung durch Einbaufehler
• nachgebender Untergrund durch geschwächten Bahndamm
Anlässlich der umfangreichen Straßenbauarbeiten für die Bundesstraßen 2 und 23 vor gut zwei Jahrzehnten wurde die Böschung an der Ostseite des Bahndamms erheblich verschmälert. So liegt nicht nur die angrenzende neue Bundesstraße 2/23 etwa zwei Meter tiefer als die alte B2, sondern es wurde auch noch der vor dem Straßenumbau östlich der Bundesstraße 2 verlaufende Katzenbach zwischen der neuen Bundesstraße 2/23 und dem Bahndamm eingezwängt. Die Bahndamm-Böschung wurde an der Unglücksstelle mehr als doppelt so steil und wird unten von der massiven Betonkante der Straße begrenzt.
Das nächste Problem stellt der verlegte Katzenbach selbst dar. Der noch am 5. und 6. Mai 2022 – also knapp einen Monat vor dem Zugunglück – nach heftigen Regenfällen und erheblichen Überschwemmungen zum reißenden Wildbach gewordene Katzenbach stößt etwa 100 Meter vor der Entgleisungsstelle rechtwinklig auf den Bahndamm, um diesem in unmittelbarer Nähe entlang des gesamten Unfallbereiches zu folgen und dann in die Loisach zu münden. Es liegt also durchaus nahe, dass der an die Bahndamm-Böschung umgelenkte Katzenbach im Laufe der Jahre den Bahndamm unterspült und dessen Festigkeit beeinträchtigt hat. Die auf diesem Abschnitt häufig ausgewechselten Schwellen könnten ein weiteres Indiz für einen instabil gewordenen Bahndamm sein.
Bleibt die Frage, warum bei der Analyse der ausgewechselten Schwellen niemand auf die Idee gekommen ist, den durch das Straßenbauprojekt offenkundig instabil gewordenen Bahndamm genauer zu untersuchen.
Für die These, dass die Bahndamm-Schwächung wesentlich zum Unglück beigetragen hat, sprechen auch Aussagen von Lokführern in einem WhatsApp-Chat nach dem Unglück, die am 5. Juli 2022, den eine ARD-Sendung dokumentierte: „Wir wissen alle, in welchem Zustand diese Strecke ist“. Ein anderer teilte mit: „ Ab Tutzing ist alles am Arsch…“ Ein dritter erklärte gegenüber der ARD am Telefon: „Auf der Strecke gab es in den letzten Jahren ganz viele Oberbaumängel, also Schienenfehler, das heißt Gleise, die nicht mehr ganz gerade sind oder sich sogar abgesenkt haben.“
Fehlende Fang- oder Führungsschiene
Entgleisungen gehören zur Eisenbahn und kommen in diesem komplexen System immer wieder vor. Dass die Eisenbahn trotzdem als das sicherste Verkehrsmittel gilt, ist nicht zuletzt den zahlreichen Sicherheitseinrichtungen zu verdanken, mit denen beispielsweise die Folgen einer Entgleisung minimiert werden sollen. Entsprechende Maßnahmen sind in Burgrain jedoch unterblieben.
Sogenannte Fang- oder Führungsschienen sind auf und unter Brücken zwingend vorgeschrieben, damit ein entgleister Zug nicht abstürzen kann oder bei der Durchfahrt unter einer Brücke diese nicht zum Einsturz bringen kann. Bei einem Erdbauwerk wie einem Bahndamm ist die Fangschiene zwar nicht vorgeschrieben, doch selbst bei bloßer Inaugenscheinnahme hätten die Genehmigungsbehörden unschwer feststellen können, dass die Folgen beim Absturz eines entgleisten Zuges vom Bahndamm in Burgrain dem Absturz von einer Brücke weitgehend gleichen. Nicht zuletzt wegen der Betonkante der Bundesstraße. Auf die sind bewiesenermaßen die meisten Todesfälle zurückzuführen, was mit einer Fangschiene vermieden worden wäre.
Untersuchung der Verantwortlichkeiten
Das Unglück von Burgrain hat alle Schwächen des aktuellen Eisenbahnbetriebs und dessen Planung offengelegt. Dazu zählen die jahrzehntelange Vernachlässigung der Infrastruktur ebenso wie das Zulassen der Bahndamm-Schwächung einschließlich der Versäumnisse bei den Genehmigungsverfahren und natürlich die offenkundige Fehleinschätzung der realen Gefahrensituation. Ferner ist zu untersuchen, ob bei den Verantwortlichen der Deutschen Bahn bei der Abtretung der Grundstücke zum Straßenbau die Sicherheit des Bahnbetriebs ausreichend beachtet wurde und nicht etwa die finanziellen Interessen bei diesem Grundstückstausch im Vordergrund standen.
Dieter Doege lebt in Hamburg. Er war viele Jahre lang Vorsitzender von PRO BAHN Berlin-Brandenburg. Er arbeitet eng mit der Bahninitiative Prellbock Altona zusammen.