Immerath, RWE und das Sterben der Dörfer

Ein Rückblick auf Erlebnisse und Begegnungen am Tagebau

Als ich vor fünf Jahren am 
9. Januar während der Mittagspause den im Osten der Stadt Erkelenz gelegenen Ortsteil Immerath aufsuchte, drückte nach kaum mehr als einem Arbeitstag ein Bagger die Reste des zweiten Kirchturms ein.

Die mehreren Hundert Anwesenden in dem einst wunderschönen Ort werden die Bilder vom Abriss der alten Immerather Kirche im Januar 2018 sicherlich so wenig vergessen können wie ich. Mit vom Staub des in Rekordtempo zerstörten Kirchengebäudes bedeckten Schuhen fuhr ich zu meiner Arbeitsstelle zurück. Das Erlebnis sollte mich länger beschäftigen, als ich damals ahnte.

Den Braunkohletagebau gab es schon, bevor ich geboren wurde, und lange Zeit habe ich nichts davon bemerkt. Weit entfernt war das riesige Loch, an dessen Hängen nicht minder imposante und gefräßige Großbagger in westlicher Richtung ein Dorf nach dem anderen verschlangen. Zuerst hörte ich in der Schule davon, das war gegen Ende der siebziger Jahre. Unser Erdkundelehrer erzählte von den Zwangsumsiedlungen und von der Hoffnung der Bewohner*innen, mit geschlossenem Widerstand die geplante „bergbauliche Inanspruchnahme“ ihrer Heimatorte verhindern zu können. RWE, damals noch Rheinbraun, setzte ein Mittel ein, das in der langen Zeit seiner Aktivitäten im Rheinischen Revier immer wieder zum Erfolg geführt hat: Geld.

Dabei wurden, so schilderte unser Lehrer, frühzeitig einflussreiche Personen im Ort, wie der Bürgermeister, mit hohen Entschädigungszahlungen für eine Umsiedlung gewonnen. Auch wurden Ausbildungs- und Arbeitsplätze bei Rheinbraun an Dorfbewohner vergeben. Waren die ersten Widerständler*innen gekauft und zum Schweigen gebracht, war es mit der Einigkeit im Ort schnell vorbei. Als wirkungsvoll erwies sich auch die Unterstützung der Ortsvereine. Die versprochenen Zuschüsse für ein neues Vereinsheim und weitere, über viele Jahre von RWE gewährte kleine und große Gefälligkeiten provozierten Konflikte zwischen denjenigen, die zum Bleiben entschlossen waren und denen, die die Umsiedlung ganz pragmatisch als nun mal nicht zu ändern betrachteten. Schließlich mussten auch die letzten einsehen, dass ihre Heimat verloren war.

Im Jahre 1983 brachte das Fernsehen einen Dokumentarfilm über den Umzug des Baggers 261 vom alten Tagebau Frechen nach Garzweiler. Eine riesige Maschine näherte sich meiner Heimat. Was mir von jenem Sonntagnachmittag in Erinnerung blieb, waren keinesfalls die Eingriffe in die Natur durch derart große Bagger, sondern die Darstellung einer technischen Meisterleistung, die für diverse Straßen-, Fluss- und Stromtrassenquerungen auf einer 22 Kilometer langen Strecke vollbracht worden war. Nicht zuletzt machte die Dokumentation deutlich, welche enormen wirtschaftlichen Interessen mit dem Kohleabbau verbunden sind.

Wer heute einen der Aussichtspunkte an einem der drei großen Tagebaue, Garzweiler, Hambach oder Inden besucht, wird Hinweise auf dauerhafte Umweltprobleme oder das Schicksal der aus ihrer Heimat vertriebenen Bevölkerung vergebens suchen. Propagiert wird ein bis ins Detail durchdachtes Großprojekt zur Sicherung der heimischen Energieversorgung. Ehrfurcht einflößende Daten der Baggerschaufeln, Abraummengen und Fördertiefen vermitteln den Eindruck, nichts sei bei der Planung und Umsetzung derart großer technischer Maßnahmen außer Acht gelassen worden. In den Abendstunden gespenstisch beleuchtet, wirken die endlosen Förderbänder, die von winzig scheinenden LKW befahrenen Werkstraßen tief unten im Tagebau und die bis zu 100 Meter hohen Schaufelbagger wie die Kulisse eines Science-Fiction-Films. Fantastisch, beeindruckend. Aber zerstörerisch?

Ende der achtziger Jahre erzählten Bekannte meinen Eltern, dass in der Nähe des kleinen Jüchener Dorfes Priesterath Obstbäume standen, die von niemandem mehr abgeerntet würden. Wir fuhren hin. Das sommerliche Wetter machte den Anblick des friedlich und verlassen daliegenden Ortes, dessen Zerstörung bevorstand, noch trauriger. Nicht weniger bedrückend war der Blick Richtung Tagebau – ein sich hinter den noch stehenden Bäumen abzeichnendes dauerrauschendes schwarzes Loch, das fruchtbares Ackerland geschluckt und in eine trostlose Haldenlandschaft verwandelt hatte.

In den folgenden Jahren war ich häufiger mit dem Bergbau konfrontiert, schon aufgrund dessen Näherrückens. Beruflich hatte ich mit einer im Tagebau tätigen Kiesbaggerfirma zu tun. Ich erinnere mich noch daran, dass hier, im Gegensatz zu vielen anderen Kunden bei der Belieferung mit Installationsmaterial, keine Preisverhandlungen erforderlich waren. Wer das Glück hat, mit RWE Geschäfte machen zu können, der darf sich an überdurchschnittlichen Gewinnmargen erfreuen, was bei Konzernen dieser Größenordnung in anderen Branchen nicht unbedingt zu erwarten ist. Großzügig bewilligte Konditionen machen RWE für jeden Unternehmer in der Region zu einem bevorzugten Geschäftspartner.

Durch das großflächige Wirken des Bergbaukonzerns gibt es eine Vielzahl von Bereichen, in denen sich mit RWE langfristige und lukrative Geschäfte machen lassen. Wo ganze Landstriche im Tagebau verschwinden, muss die komplette Infrastruktur mit Straßen, Autobahnen, Eisenbahnlinien, Stromtrassen, Flussläufen und Ortschaften zurück- und anschließend wieder aufgebaut werden. Allein für die Entfernung des Wassers aus den Gruben, der sogenannten Sümpfung, und der Wasserüberleitung in nahegelegene Naturschutzgebiete werden Tausende leistungsstarke Förderpumpen und Hunderte Kilometer lange, groß dimensionierte Rohrleitungen benötigt. Wen sollte es da wundern, dass RWE in der Wirtschaftsregion höchstes Ansehen genießt.

Politikerinnen und Politiker in Bund und Land sind schon aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung zu manchen Zugeständnissen an den Bergbaukonzern bereit. Auch die Städte und Gemeinden sind als Kunden und Anteilseigner am Wohlergehen der RWE AG interessiert. Darüber hinaus sind in der Vergangenheit immer wieder teils sechsstellige Zuwendungen an Politiker bekannt geworden. Undurchsichtig bleibt auch die Rolle des ehemaligen nordrheinwestfälischen Ministerpräsidenten und Bundeswirtschaftsministers Wolfgang Clement, der vor und nach Ausübung seiner politischen Ämter im Aufsichtsrat von Rheinbraun und RWE saß, Reglementierungen zu Lasten der Energiewirtschaft vehement ablehnte und für die Genehmigung des Tagebaus Garzweiler II kämpfte.

In den vergangenen Jahren habe ich viele Menschen in den vom Tagebau bedrohten Dörfer kennengelernt. Immer noch fällt es mir schwer, zu begreifen, wie gering das Interesse selbst vieler in unmittelbarer Nähe wohnender, sich aber nicht direkt betroffen fühlender Menschen an der stattfindenden Zerstörung ist. So verwundert es nicht, dass in der Vergangenheit jeder Ort den Kampf gegen den Energieriesen allein führen musste – und vom ersten Tag an doch chancenlos war.

Erst in den letzten Jahren ist das Ausmaß der durch die Braunkohleverstromung verursachten Klimaschädigung, nicht zuletzt durch die Fridays-for-Future-Bewegung, einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt worden. Weitgehend unbekannt sind dagegen immer noch die wasserwirtschaftlichen Folgeschäden. Die Tage des Braunkohleabbaus gehen zu Ende, und so beeilt sich die RWE AG, ein grünes Image aufzubauen. Freilich nicht, ohne jeden noch erzielbaren Profit aus der Kohleverstromung abzuschöpfen.

Reinhard Noffke, Jahrgang 1964, wohnt im Süden Mönchengladbachs, nur wenige Kilometer vom Tagebau Garzweiler II entfernt. Seit einigen Jahren hat er es sich zur Aufgabe gemacht, das Ausmaß der für den Kohleabbau betriebenen Umweltzerstörung einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen.