Wundersame Geldvermehrung

Anmerkungen zur Heilung der ökonomischen Coronakrise

Dass Geld schier nach Belieben vermehrt werden kann, daran hatte man sich in der großen Finanzkrise plus Rezession zwischen 2007 und 2009 einigermaßen gewöhnt. In dem jetzigen nach dem Virus „Coronakrise“ genannten weltweiten Wirtschaftseinbruch gehörte die wundersame Geldvermehrung sozusagen zum Standardhausmittel des Staates, um die kapitalistische Störung zu mildern und – so die geäußerte Hoffnung – in einem späteren Stadium wieder in einen Aufschwung und in eine neue Wachstumsperiode zu führen. Die Grundeinheit dieser Geldschöpfung war nicht mehr wie vor zwölf Jahren Hunderte von Milliarden Euro oder Dollar, sondern Billionen solcher Währung. Im Ergebnis hat sich dadurch laut Angaben des IWF die Bilanz der US-Notenbank „Fed“, also die Summe des von ihr in Umlauf geschickten Zentralbankgeldes, von 4 Billionen Dollar Anfang 2020 auf 7,4 Billionen Anfang 2021 erhöht. Das Volumen des von der Europäischen Zentralbank emittierten Zentralbankgeldes erhöhte sich in derselben Zeit von umgerechnet 5 auf 8,6 Billionen Dollar. Der Anstieg des von der Chinesischen Zentralbank in Umlauf geschickten Zentralbankgeldes von 5 auf 6 Billionen Dollar blieb vergleichsweise bescheiden.

Bescheidener blieben auch die Ausschüttungen der zentralen Staatshaushalte. Denn die mehreren Billionen Euro, welche die europäischen Staaten an Bürger und Kapital vergaben oder ihnen zumindest garantierten, sind auf mehrere Jahre verteilt. Dennoch stiegen die jährlichen Defizite von den zuvor geforderten unter 3 Prozent am Bruttoinlandsprodukt auf ungefähr 25 Prozent. Interessanter sind die rechtlichen Änderungen. In Deutschland wurde die Schuldenbremse „ausgesetzt“. Analog galten keine Bestimmungen mehr für die EU-Regeln zur Kontrolle nationaler Staatshaushalte. Die EU selber erhielt das Recht, zusätzlich Schulden zu machen. All das geschah zwar nicht mit leichter Hand, aber doch – auch in Deutschland – politisch fast nicht kontrovers. In den USA, immer noch eindeutiger Markt- und Meinungsführer des globalen Kapitalismus – nach Meinung der Presse tief zerstritten zwischen den Parteien – schüttete der Zentralstaat unter Donald Trump im März vorigen Jahres 2,2 Billionen und unter Joe Biden im März 2021 1,9 Billionen Dollar aus.

Man könnte annehmen, dass die schier unendliche, weil durch keinerlei ökonomisches oder juristisches Gesetz eingeschränkte Geldvermehrung zum Merkmal des aktuellen Stadiums des Kapitalismus geworden ist und jeweils von ökonomischen Krisen hervorgerufen wird. Das ist nicht ganz richtig. Vielmehr tritt die Geldvermehrung schon vor den Krisen auf. Wie man erwarten würde, wird Geld vor allem in Zeiten des Aufschwungs und der Hochkonjunktur geschöpft. Zum allergrößten Teil ist heutiges Geld seinem Ursprung nach Kredit. Um zu investieren, nimmt das kapitalistische Unternehmen Kredite auf, das sogenannte Fremdkapital, das zwar nur geliehen ist, aber an der Ausbeutung, auch Wertschöpfung genannt, teilnimmt und dem Kreditgeber, meist eine Bank, durch den Zins einen Teil des erzielten Profits zukommen lässt.

Seit der Finanzkrise von 2007/2008 hat sich herumgesprochen, dass die Kreditgewährung der Bank zugleich Geldschöpfung ist. Die Bank wartet jedenfalls nicht, bis sie genug Geld im Panzerschrank oder als virtuelle Notiz hat, um den Kredit zu erteilen. Vielmehr schreibt sie dem Kapitalisten im Zuge der Kreditgewährung eine Summe Geldes auf dessen Konto gut, verbucht das als Schuld und verbucht gleichzeitig die Kreditforderung zu ihren Gunsten. Sie ist netto kein Stück reicher. Aber der Kapitalist verfügt nun über eine Summe Geldes, die es vorher nicht gab.

Kreditgeld wird also aus dem nichts erschaffen. Aber natürlich effektiv nur von potenten Menschen und Institutionen. Sind sie nicht ökonomisch potent, ist die Sache nicht Geldschöpfung, son-
dern Kreditbetrug. Im blühenden Kapitalismus, den es zuweilen ja gibt, vermehrt sich so die Geldmenge etwa in dem Maße, wie sich Kapital akkumuliert, also das Produktions- und Profitpotenzial vermehrt. Wie aber die Erfahrung und einige kluge Ökonomen, wie zum Beispiel Karl Marx oder John Maynard Keynes lehren, führt Hochkonjunktur zu Überakkumulation und Krise. Außerdem führen überschäumende Kreditvergabe und Geldschöpfung zu aufgeblähten Finanzinstitutionen, wüst steigenden Vermögenspreisen, enorm steigender Verschuldung und dem dann folgenden Finanzkrach.

Dem Crash von 2007/2008 ging eine nie dagewesene Ausweitung der Geldschöpfung, also der Kreditvergabe, der Verschuldung des realen Kapitals und der Finanzinstitutionen und -instrumente voraus. In der Periode des sogenannten Neoliberalismus seit etwa 1980 wurden diese Entwicklungen nicht nur nicht kontrolliert, sondern im Rahmen der als notwendig erachteten Deregulierung entfesselt oder gefördert. Das Ergebnis kann man in den Worten von Jörg Huffschmid als „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ bewundern, der sich durch eine Vielzahl von Finanzkrisen auszeichne. Der erste, sozusagen klassische Fall war der Zusammenbruch der japanischen Spekulationsblase 1999. Es folgte die Ostasienkrise 1998, die Dotcom- und Aktienmarktkrise 2000 bis 2003 und die bisher größte Finanzkrise nach 2007, aus der sich ab 2010 die Eurostaatsschuldenkrise entwickelte.

Diesen Krisen ist gemeinsam, dass ihnen ein Boom von Teilen der Realwirtschaft vorausging, der zu einer besonders wüsten, spekulativen Aufblähung des Finanzsektors führte. Bemerkenswert ist dabei, dass die „Heilung“ der jeweiligen Krise durch noch mehr Geld erfolgte, die gefährdeten Positionen der Vermögenden also durch frisches Geld im System geschützt wurden. Beobachter haben dafür das treffende Bild des Heroinabhängigen gefunden, dessen Entzugserscheinungen durch eine neue Spritze Stoff vorübergehend gemildert werden. Das Resultat ist eine noch höhere Verschuldung, die auch nach der Krise nicht einfach verschwindet, sondern mitgeschleppt wird. Das Sonderbare an dem Phänomen ist, dass es kaum je als ökonomisch relevante Frage behandelt wird. Die Frage, wie viel Verschuldung kann sich das Weltkapital leisten, wird nicht diskutiert geschweige denn beantwortet.

Dabei tritt der Überfluss an Geld massiv zutage, wenn die Krise in den Zwischenperioden besänftigt ist. Die Zinsen sinken – unter dem Gezeter der Gläubiger, Banken, Fonds und Anlageberater – auf unter Null. Spekulanten, Groß- und Kleinunternehmen kommen an jede Menge Geld, wenn sie Projekte finanzieren wollen. Sie nehmen Kredite auf, um den erwarteten Gewinn nach oben zu hebeln und treiben damit die sonderbare Geldvermehrung wieder und weiter an. Auf der anderen Seite sinken auch die dem real agierenden Kapital verbleibenden Profite, weil ein immer größerer Anteil in Richtung des Geldkapitals, der Banken, Schattenbanken, Hedge- und Private-Equity-Fonds etc. abgegeben werden muss. Das Ergebnis sind sinkende Investitionen und niedriges Wachstum. Mit Sorge stellen führende Ökonomen fest, dass Volkswirtschaften nach einem Finanzkrach von einer lang dauernden Stagnationsphase geplagt werden. Statt sich dem Problem zu stellen, wie die Aufblähung des Finanzsektors vermieden werden kann, konzentriert sich die Diskussion auf die Frage, wie viel Verschuldung sich der Staat – meist in der Form „unser“ Staat – leisten kann. Auch das ist eine berechtigte Frage. Wahrscheinlich ist sie falsch gestellt. In jedem Fall aber nur ein Teilaspekt des Problems.

Nach der letzten Finanzkrise haben einige gutbürgerliche Ökonomen aus der Erfahrung, dass für viele Staaten die Beschaffung von Kredit kein Problem darstellte, die vernünftige und eigentlich längst bekannte Schlussfolgerung gezogen, dass dem Staat Geld in unbegrenzter Höhe zur Verfügung steht. Denn der Staat produziert schließlich das Geld selbst. Trotz der Einschränkung, dass das Geld von einer mehr oder weniger unabhängigen Behörde, nämlich der Notenbank produziert wird, trifft diese Aussage im Prinzip zu. Die Ökonomen, die diese einfache Wahrheit „entdeckt“ und dem breiten Publikum zugänglich gemacht hatten, nannten sie „Modern Monetary Theory“ (MMT) oder deutsch „Moderne Geldtheorie“. Die unmittelbare Schlussfolgerung besteht darin, dass sich die Politiker ihre Streitereien über die Höhe der laufenden und in den Jahren angehäuften Verschuldung, die in Deutschland beispielsweise zur so genannten und absurden Schu ldenbremse geführt haben, schenken können. Ob der Finanzminister die Ausgaben über Steuern und Abgaben oder über von „seiner“ Notenbank frisch geschöpftes Geld finanziert, sei eigentlich egal. Nicht egal ist dagegen auch nach Meinung der umsichtigeren MMT-Vertreter, wie viel von diesem Geld im Umlauf und wie viel jeweils in den Händen von einfachen Bürgern, von Kapitaleigentümern und von Banken ist. Das führt dann auch wieder sehr schnell zu den traditionellen Fragen, von wem in welcher Höhe Steuern eingezogen und wem Geld in welcher Höhe zugeteilt wird.

Eine wichtige Einschränkung zum Geltungsbereich der MMT muss ge-macht werden: Die geldpolitische Souveränität gilt nur für wirtschaftlich mächtige oder besonders begünstigte Staaten. Andere können zwar auch Geld drucken und ihren Bürgern als Bezahlung andienen. Wenn diese allerdings das nationale Geld zum Kauf von Importwaren verwenden wollen, sind sie darauf angewiesen, dass die Währung im Ausland akzeptiert wird. Das wird umso eher der Fall sein, je größer das Interesse ist, Produkte oder Fabriken und Immobilien, oder Aktien und andere Wertpapiere aus dem entsprechenden Land zu kaufen. Das krasseste Beispiel für diese Asymmetrie – auf Englisch „bias“ – bietet der Dollar, der, wieviel davon auch gedruckt wird, schon seit dem Ersten Weltkrieg die weltweit am meisten gefragte Währung ist.

Lucas Zeise ist Wirtschafts- und Finanzjournalist. Er schreibt regelmäßige Beiträge über das wirtschaftliche Geschehen im Weltkapitalismus in der Tageszeitung junge Welt