Wirft die Corona-Pandemie Frauen zurück?

Frauen als „Land of the Last Resort“

Die Arbeitswelt wurde kaum je so in den Strudel gezogen, wie wir das seit dem weltweiten Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühling 2020 mitverfolgen können. Darüber hinaus wurden vor allem Lücken und Schwächen unserer gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme sichtbar. Mit anderen Worten: Es handelt sich nicht einfach um eine Krise, die die Produktion oder die Finanzwelt beeinträchtigt. Wir sehen uns vor allem mit einer strukturellen Krise, die insbesondere Frauen in all ihren Lebensbereichen stark trifft, konfrontiert.

Die letzten Monate haben uns deutlich vor Augen geführt, was es alles braucht, damit Menschen der Produktion und dem Erwerbsarbeitsmarkt zur Verfügung stehen können. Nun haben Frauen das immer schon gewusst und die feministische Ökonomie ist sich dessen auch seit längerem bewusst. In den von der Pandemie gezeichneten Monaten wurde deutlich, dass Frauen in all ihren Lebensbereichen nachdrücklich getroffen wurden. Sei es als Frauen in ihrer Erwerbstätigkeit, wo sich einiges zu ihren Ungunsten verändert hat. Oder sei es im Bereich der Versorgungsarbeit in der Familie und im eigenen Haushalt.

Seit dem ersten Lockdown wurde in vielen Fällen flächendeckend von einem Tag auf den anderen Homeoffice verordnet und der Schulunterricht durch Homeschooling ersetzt. Kinderbetreuungseinrichtungen wurden teilweise oder ganz geschlossen. Sozusagen als „Land of the Last Ressort“ haben Frauen an vorderster Front systemrelevante Jobs garantiert, haben ihre Familie versorgt, den Haushalt am Laufen gehalten, so dass der Alltag funktionieren konnte. Darüber hinaus haben sie sich hilfe- und pflegebedürftiger Angehöriger angenommen. Schließlich haben sie dafür gesorgt, dass das Bildungssystem nicht zusammengebrochen ist. Ungefragt wurden sie zum „Land of the Last Resort“. In verschiedenen Diskussionsrunden der letzten Zeit wurde hervorgehoben, dass Frauen dazu beigetragen haben, dass Männer grosso modo dem Erwerbsarbeitsmarkt zur Verfügung standen und weiterhin stehen. Und die Erwartung, dass sich Männer im Homeoffice vermehrt den Kindern und den Haus arbeiten annehmen würden, hat sich nicht bewahrheitet.

Auf Überlastung folgen finanzielle Einbussen

Aus Erfahrungsberichten von Betroffenen wie von Frauenorganisationen und Gewerkschaften wird deutlich, dass viele Frauen mit Betreuungsaufgaben als Folge der Pandemie unter Überlastung sehr leiden. Konzentriertes Arbeiten im Homeoffice mit Kindern ist kaum möglich; die Arbeitsleistung nimmt ab; kontinuierliches Durcharbeiten wie in einem Büro ist kaum zu realisieren. Das führte in vielen Fällen dazu, dass Frauen ihre Homeoffice-Arbeit auf die Abend- und Nachtstunden verlegten. So erzählen Frauen, dass sie in der Regel bis ein Uhr nachts arbeiten und bereits zwischen fünf und sechs Uhr morgens wieder aufstehen, um den Alltag mit Kindern und Familie, mit Haushalt und Erwerbstätigkeit zu bewältigen. Bekanntlich geht wenig Schlaf auf Kosten der Gesundheit.

In etlichen Diskussionsrunden wurde die Frage aufgeworfen, wo diese Frauen wohl all die Kraft hernehmen würden. Es verwundert nicht, dass viele Frauen sich nur noch müde fühlen. Die Reaktion blieb nicht aus. Auf Grund dieser beinahe übermenschlichen Arbeitsbelastung haben Frauen ihre Erwerbsarbeitszeit teilweise reduziert oder sogar ihre Anstellung aufgegeben – mit den bekannten Folgen von finanziellen Einbussen oder Verlust des Einkommens, was sich später bei der Rente niederschlagen wird. In den meisten Fällen kann nicht auf eine sogenannte Jobgarantie zurückgegriffen werden. Mit den strukturellen Veränderungen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt werden nunmehr Arbeitsplätze für Frauen abgebaut. Beispielsweise gehen in der Schweiz in der Gastronomie 40.000 Arbeitsplätze als Folge der Pandemie verloren. Es handelt sich um eine Branche mit einem überproportional hohen Frauenanteil.

Nicht ausgeblendet werden dürfen die Hunderttausenden Care-Migrantinnen aus Osteuropa, Ostasien oder aus Lateinamerika, die jeweils während eines definierten und begrenzten Aufenthaltes bei uns in Westeuropa in Privathaushalten oder in speziellen Einrichtungen pflege- und betreuungsbedürftige Menschen versorgen. Auch sie standen von einem Tag auf den anderen vor geschlossenen Landesgrenzen mit schwerwiegenden Folgen von Einkommenseinbrüchen. Davon betroffen waren nicht nur Care-Migrantinnen allein, sondern ebenso ihre Familien in den Herkunftsländern, die auf diese Einkommen angewiesen sind.

Veränderungen in der Arbeitswelt

Lange vor der Pandemie zeichnete sich ab, dass die Zunahme der Beteiligung der Frauen an der Erwerbsarbeit, die sich statistisch überall nachweisen lässt, nicht dazu geführt hat, dass die Familien- und Hausarbeit und die Versorgungsarbeit besser auf die beiden Geschlechter verteilt worden wäre. Im Gegenteil, Frauen haben für ihre Erwerbstätigkeit gekämpft und darüber hinaus für Einrichtungen, die ihnen außerhäusliche Erwerbstätigkeit besser ermöglichte. Dazu gehören unter anderem institutionelle Strukturen für die Kinderbetreuung. Mit dem Resultat, dass Männer in der Regel außen vorgelassen wurden. Es zeigte sich, dass dort, wo nicht die geschaffenen Institutionen die Versorgung der Kinder übernahmen, diese Arbeit weiterhin den Frauen oblag. Diese Diskrepanz ist während der Pandemie unmissverständlich zu Tage getreten und sie schlägt gewaltig auf die Frauen zurück.

Die Pandemie-Krise führt überdies vor Augen, was bisher nicht vorstellbar oder denkbar war. Nämlich, dass Branchen, die sich durch einen hohen Frauenanteil auszeichnen wie Gastronomie (es braucht immer eine Kellnerin) und Tourismus oder Tätigkeiten im körpernahen Bereich wie Frisieren, Fußpflege oder Tätigkeiten in der Kinderbetreuung (es braucht immer eine Kindergärtnerin) von der Krise stark in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Aus früheren Krisen wissen wir, dass in der Regel Produktions- und Industriezweige oder die Finanzwelt betroffen waren. Das zeigt sich vor allem in der Einführung und finanziellen Unterstützung von Kurzarbeit, um die Krise zu bewältigen und die Struktur von Arbeitsplätzen in bestimmten Branchen zu erhalten. Hingegen konnten geringfügig Beschäftigte oder erwerbstätige Frauen mit Kindern, die ihre Erwerbsarbeit reduzierten oder aufgaben, keine finanzielle krisenbedingte Kompensation in Anspruch nehmen.

Nachdenken über strukturelle Veränderung

Im Juni 2021 bekräftigte die 109. Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die unter dem Titel „Soziale Gerechtigkeit voranbringen, würdige Arbeit fördern“ (Advancing social justice, promoting decent work) steht, dass soziale Sicherheit für soziale Gerechtigkeit zentral ist und dauerhafte Entwicklung begünstigt. Soziale Sicherheit ist ein wegweisendes Menschenrecht, das gute Gesundheit und würdiges Leben garantiert. Auch Amnesty International fordert in ihrem Report 2020/21 verbesserte Lebenslagen für die Menschen weltweit.

Die britische Women’s Budget (wbg) ruft in ihrem Call to Action für eine Caring Economy auf (www.wbg.org.ukcommission). Darunter ist eine Ökonomie der Sorge füreinander und für die Umwelt zu verstehen. Qualitativ hochwertige Care-Arbeit, wie zum Beispiel Fürsorge für Erwachsene, Gesundheitsfürsorge und Kinderbetreuung sollen für eine gute Wirtschaft zum Maßstab werden. Der Vorschlag für eine Caring Economy beinhaltet auch würdige Löhne und gute Arbeitsbedingungen für die erwerbstätige Bevölkerung wie gemeinsames Handeln gegen jegliche Diskriminierung, Benachteiligung und Armut.

Eine wbg-Umfrage in Großbritannien hat ergeben, dass es für das Konzept Caring Economy starke Unterstützung gibt. So sind zwei Drittel der Befragten der Meinung, dass eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik mit dem Faktor Wohlbefinden gemessen werden müsse. Und: Mehr als die Hälfte der Interviewten ist der Meinung, dass Investitionen in Sozialfürsorge, Gesundheit und Bildung in Zukunft für die Wirtschaft wichtiger sein sollen als Investitionen in Verkehr und Technologie.

Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig, und arbeitet in verschiedenen frauen- und sozialpolitischen Projekten. Sie lebt in Bern.