Sozial-national oder Gulasch-faschistisch?

Ungarns Wirtschaftspolitik unter Fidesz
Hannes Hofbauer. Lunapark21 – Heft 21

Fast zwei Jahre ist es her, als Viktor Orbán mit seinem Bürgerbund Fidesz im Mai 2010 die ungarischen Parlamentswahlen mit einer Zweidrittelmehrheit – einer außerhalb Bayerns europäischen Anomalie – gewinnen konnte. Wir wollen versuchen, eine Zwischenbilanz in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht zu ziehen.

Acht Jahre lang – zwischen 2002 und 2010 – hatten zuvor wechselnde Ministerpräsidenten der Sozialistischen Partei (MSZP) die Verhältnisse in einem Ausmaß sozial dereguliert und ökonomisch liberalisiert, das in der Nachbarschaft seinesgleichen sucht. Allein die schlichte Gegenüberstellung von Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Arbeitslohn gibt einen Eindruck von der Dimension der gesellschaftlichen Verwüstung: Während 2010 in Ungarn das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner 60 bis 65 Prozent des EU-Durchschnitts entsprach, lagen die Löhne bei mageren 20 Prozent. 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts flossen am Ende der „sozialistischen“ Regierungszeit über Gewinntransfers an Investoren oder Zinszahlungen aus dem Land. Die Auslandsschuld wuchs auf 100 Milliarden Dollar an. Durchschnittliche Pensionen von 200 Euro, Mindestrenten von 100 Euro und Anfangsgehälter von netto 300 Euro haben einen großen Teil der Bevölkerung verarmen lassen, was auch im Straßenbild der Hauptstadt Budapest unübersehbar ist.

Dergestalt abgewirtschaftet hat Fidesz Mitte 2010 das Land übernommen und die Regierungsgeschäfte angetreten. Die parlamentarische Zweidrittelmehrheit erlaubt es Orbán seither, regulierend in ökonomische Prozesse einzugreifen. Und er nützt die Möglichkeit. Dabei mischen sich makroökonomisch linke Interventionen mit rechtem Sozialrassismus. Vieles folgt dem unmittelbaren Notstand. Als Programmatik ist einzig das Bekenntnis zur Rettung eines ungarischen Mittelstandes erkennbar, der in der gewünschten Form jedoch kaum vorhanden ist.

Politische Eingriffe in die Wirtschaft
Mit den Auswirkungen der 2008er-Krise war für alle sichtbar geworden, dass das wirtschaftsliberale Modell des Laissez-faire – im ungarischen Kontext der nahezu vollständige Ausverkauf staatlicher und daseinsvorsorglicher Einrichtungen an ausländische Kapitalgruppen – bankrott war. Von den leeren Staatskassen getrieben und von einer breiten Mehrheit getragen, warf die Fidesz-Regierung das liberale Dogma staatlicher Enthaltsamkeit in wirtschaftlichen Fragen über Bord. Politischer Eingriff in das zuvor unhinterfragte freie Spiel der Marktkräfte wurde wieder machbar.

Als erste und bedeutendste wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahme landete Orbán mit der Rückverstaatlichung der Pensionsfonds einen veritablen Coup. Seit der schrittweisen Privatisierung der Altersvorsorge im Jahre 1997 hatte der Staat jährlich hohe Beträge für die im alten System verbliebenen Pensionisten nachschießen müssen. Die in den privaten Fonds der sogenannten zweiten Säule angelegten Gelder verschwanden auf dem Wertpapiermarkt, während die allgemeinen staatlichen Kassen ab 1998 über immer weniger Mittel verfügten. Die unter IWF-Anleitung und nach chilenischem Vorbild der 1980er Jahre im sogenannten Kapitaldeckungsverfahren aus dem solidarisch-kollektiven Kreislauf abgezogenen Mittel hinterließen ein Budgetloch für die Auszahlung der alten, auf dem Generationenvertrag beruhenden Renten. Dieses Minus hatte sich im Jahr 2010 auf umgerechnet 11 Milliarden Euro vergrößert. Die staatlichen Pensionskassen waren leer.

Rückverstaatlichung des Rentensystems
In dieser Situation lag es nahe, sich das Geld dort zu holen, wohin es abgezogen worden war: bei den privaten Versicherungsinstituten. Das Programm dazu existierte bereits seit 2009 unter dem Namen „90-Grad-Linkswende“, ausgearbeitet von NGOs rund um die ungarische Attac-Gruppe. „Wir riefen nach der Nationalisierung der Pensionsfonds, aber Fidesz hat es dann später gemacht“, weist Annámaria Artner, die als Ökonomin dieser linken Allianz angehört hatte, auf die Ironie der Entstehungsgeschichte hin.

Anfang 2011 griff Viktor Orbán nach den privaten Fondsgeldern. Jeder Ungar und jede Ungarin erhielt einen Brief, in dem angeboten wurde, innerhalb einer bestimmten Frist vollständig in die staatliche Pensionsversicherung zurück zu wechseln. Von den 2,9 Millionen privat Versicherten blieben nur 100000 dem Kapitaldeckungsverfahren treu, der Rest wanderte zurück zu Vater Staat. Dieser scheute sich nicht, etwa die Hälfte der nun wieder eintrudelnden Gelder zur Deckung des Budgetdefizits (und zum Rückkauf von Anteilen des Energieriesen MOL) zu verwenden, was ihm von seinen Gegnern als Missbrauch der Pensionskassen vorgeworfen wurde. Eine gewisse Logik hatte die Orbánsche Vorgangsweise allemal, waren doch in den Jahren zuvor jährlich hohe Millionenbeträge aus dem Budget aufgewendet worden, um die durch die Privatisierung entstandenen Löcher im Pensionssystem zu stopfen.

Eine zweite tiefgreifende Maßnahme, diesmal zur Entprivatisierung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge, ist in Vorbereitung. Dabei geht es um Wasser, Abwasser und Abfallbeseitigung. Die Fidesz-Regierung ließ ein Gesetz beschließen, wonach wichtige kommunale Einrichtungen nur noch zu maximal 49,9 Prozent in privaten Händen verbleiben dürfen. Mit dem 1. Januar 2014 wird das Gesetz in Kraft treten. Die großen, allesamt aus Österreich stammenden Abfallunternehmen wie „Saubermacher“ oder „AVE“ schäumen. Sie sprechen von „kalter Enteignung“ und bemühen die Bundesregierung in Wien, für ihre Interessen in Brüssel vorstellig zu werden. „Wir stehen dazu, dass kommunale Einrichtungen der Gesellschaft zu dienen haben. Im Übrigen müssen auch strategische Dinge wie Strom- und Gasleitungen staatlich kontrolliert werden“, kontert der Chef der Auslandsabteilung von Fidesz, Zsigmond Perényi, die Kritik. In Städten wie Budapest und Pécs sind die Wasserversorgungseinrichtungen von den Gemeinden mittlerweile wieder zurückgekauft worden, vor dem Hintergrund der zukünftigen Gesetzeslage zu mutmaßlich erschwinglichen Preisen. In Nagykanizsa freut sich der Bürgermeister über die Rekommunalisierung der Abfallentsorgung: „Wir haben ein Gewinn bringendes Unternehmen erworben“, berichtet er im Interview gegenüber der Wiener Presse.

Sondersteuern
Besonders viel Staub in Brüssel hat die Einführung von Sondersteuern für bestimmte Branchen aufgewirbelt, die unmittelbar nach Machtantritt von Fidesz erlassen und entgegen der ursprünglichen Zusage, sie zu befristen, mittlerweile verlängert wurden. Bei den Banken ist die Aufregung besonders groß. Sandor Richter vom Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) schätzt, dass die auf den Umsatz erhobene Sondersteuer einer Belastung von 11 bis 12 Prozent des Grundkapitals der großen Banken ausmache. Parallel dazu hat Orbán – übrigens als erster in der EU – eine seit 2013 zu erhebende Finanztransaktionssteuer von 0,2 Prozent eingeführt.

Vorgesehen sind des Weiteren Sondersteuern für Telekommunikationsunternehmen, Energiekonzerne und für den Einzelhandel. Letzteres rechtfertigt Zsigmond Perényi vom internationalen Sekretariat der Fidesz-Partei mit jahrelangen Verlustabschreibungen und Gewinntransfers der großen Handelskonzerne. Konkretisiert wurde das am Beispiel der britischen Lebensmittelkette Tesco: Die habe „zuletzt einen Jahresumsatz von zwei Milliarden Euro gemacht, Steuern wurden aber nur wenige Millionen bezahlt. Die Profite wurden nach England verschoben“.

Politisch-strategisch stecken mehrere mögliche Überlegungen hinter den Orbánschen Sondersteuern. Zum einen die Differenzierung von ortsgebundenem und weniger ortsgebundenem Kapital. Das wird auffällig, wenn man sich vor Augen hält, dass es hauptsächlich der Dienstleistungssektor ist, über den zusätzliche Steuern verhängt werden. Telefonbetreiber, Energielieferanten, Banken und Handelsketten haben eines gemeinsam: Sie müssen vor Ort sein, um ihre Profite realisieren zu können. Mit der Frage der Standortgebundenheit korreliert auch der unterschiedliche steuerpolitische Zugang zu produzierendem und nicht-produzierendem Kapital. Um historisch von rechts gebrauchtes Vokabular zu verwenden: Schaffende Investoren werden von Fidesz hofiert, raffende zur Kasse gebeten. Eine Fidesz von westlichen Medien oft vorgeworfene Unterscheidung von ungarischem und ausländischem Kapital, nach der sich die neue Steuergesetzgebung richten würde, ist nur bedingt richtig. Denn erstens betreffen die Sondersteuern auch große ungarische Unternehmungen wie die Bank OTP oder den Energieriesen MOL. Und zweitens entspricht dies eben der Wirtschaftsstruktur des Landes. In allen profitablen Sektoren haben sich seit 1989 mehrheitlich ausländische Gruppen festgesetzt.

Auch in der Frage des Wechselkurses von Forint zu Euro bzw. Forint zu Schweizer Franken hat Fidesz sich nicht gescheut, den freien Marktkräften ein staatliches Korsett zu verpassen. Dies hat mit dem Platzen der heimischen Immobilienblase 2008/09 zu tun. Damals wurde ruchbar, dass fast zwei (von insgesamt zehn) Millionen Ungarinnen und Ungarn in den vorausgegangenen Jahren Fremdwährungskredite, v.a. in Schweizer Franken, aufgenommen hatten. Diese waren ihnen mit Verweis auf die angeblich niedrigeren Zinsen von vornehmlich österreichischen Bankhäusern förmlich aufgedrängt worden. Der rasante Verfall des Forint trieb dann Millionen in die Schuldenfalle. „Es gibt Menschen, die haben nach sieben Jahren regelmäßiger Kreditrückzahlung mehr Kapitalschulden als zur Zeit der Aufnahme des Darlehens“, weiß Matyas Benyik von Attac zu berichten.

Die Dimension des Wahnsinns wird deutlich, wenn wir uns die konkreten Wechselkursveränderungen ansehen. Zum Zeitpunkt der Kreditaufnahme beispielsweise 2005 war ein Schweizer Franken 150 Forint wert, fünf Jahre später, 2010, musste man schon 240 Forint für einen Franken hinlegen. Rückzahlungen für Forint-Verdiener wurden damit immer teuer und zunehmend unmöglich. In dieser Situation kam Orbáns Fidesz an die Macht. Und er machte ein konkretes, für eingefleischte Liberale schockierendes Angebot: Ein politisch festgesetzter Wechselkurs vom Franken zum Forint in der Relation von 1 zu 180 sollte den Schuldnern die Möglichkeit bieten, auf dieser Basis aus dem teuren Fremdwährungskredit auszusteigen. Knapp 400000 verschuldete Menschen nutzten den vom Staat festgesetzten Wechselkurs, der zuvor freilich hinter den Kulissen mit den Banken ausgehandelt worden war. Denn auch diese waren nicht an Hunderttausenden Privatkonkursen interessiert, die eine Unzahl halb fertig gebauter Häuser als „Sicherheiten“ in die Portfolios der Banken gespült hätten. Insofern war die Aufregung gespielt, aber freilich nur zum Teil. Denn auch die Präzedenzwirkung einer politischen Intervention in den Kapitalmarkt ist nicht zu unterschätzen.

Fidesz asozial
Beim staatlichen Eingriff in das Wechselkurssystem zeigte sich auch deutlich, dass die wirklich Armen nicht profitieren konnten. Ihnen zu helfen, war auch gar nicht die Absicht von Orbán. Sie waren schlicht nicht in der Lage, von irgendwoher das Geld aufzubringen, um den günstigeren Wechselkurs zu nutzen. Das entspricht auch dem Klassencharakter der Politik von Fidesz, die sich als Vertretung des ungarischen Mittelstandes versteht. Mit dem unteren Drittel der Gesellschaft will sie nichts zu tun haben.

Die Umsetzung der im Wahlkampf versprochenen Steuersenkung zeigte dann in besonderem Maß das unsoziale, die Armen verachtende Gesicht der Orbánschen Politik. Als einschneidende Maßnahmen wurden die Abschaffung der Steuerprogression bei der Einkommenssteuer und die Festlegung einer Flat Tax in der Höhe von 16 Prozent beschlossen. Zuvor waren Steuersätze bis 32 Prozent für Gutverdiener üblich. Damit nicht genug: Fidesz senkte die Körperschaftssteuer für Unternehmen auf 10 Prozent. Gleichzeitig wurde der höchste Mehrwertsteuersatz auf EU-Rekord von 27 Prozent angehoben.

Zsigmond Perényi vom internationalen Sekretariat bei Fidesz erklärt die Maßnahmen ideologisch: „Die Idee war, den Konsum mehr und die Einkommen weniger zu besteuern. Alle, die mehr als 220000 Forint im Monat (umgerechnet 800 Euro) verdienen, gewinnen mit der 16-Prozent-Flat Tax.“ Diejenigen, die darunter liegen, und das ist bei einem Durchschnittslohn von gerade einmal 140000 Forint mehr als ein Drittel der Bevölkerung, sind die Verlierer dieser Maßnahme, weil parallel zur Einführung der Flat Tax die Streichung der Ausgleichszulagen beschlossen wurde. Staatliche Anreizsysteme für Firmen, die geringere Löhne als die 220000 Forint brutto bezahlen, sollen zwar zu einem allgemeinen Anheben des Lohnniveaus beitragen. Inwieweit dies allerdings funktioniert, ist unklar. So behauptet Fidesz-Mann Perényi, nur Firmen, die entsprechend höhere Löhne zahlen, könnten an staatlichen Ausschreibungen teilhaben. Wer allerdings die Praktiken kennt, wie Löhne in offizielle und schwarz ausbezahlte gespalten werden, muss die Umsetzbarkeit solcher Ideen bezweifeln. Bleibt das angesichts der ungarischen Verhältnisse schon fast verzweifelt anmutende Mittelstandskonzept, dem Fidesz nachhängt: „Wir wollen einer gebildeten Mittelschicht entsprechende Möglichkeiten bieten“, lautet das Credo.

Kritik an der Flat Tax kommt nicht nur von sozialen Einrichtungen und linken Kräften. Auch die ehemalige Staatssekretärin in der konservativen Regierung Antall, Katalin Botos, lässt kein gutes Haar an der flachen Steuer: „Die Flat Tax ist problematisch. Sie hilft den Armen nicht und belässt das Geld bei den Reichen“, meint sie im Gespräch.

Das Kalkül hinter der Abschaffung der progressiven Einkommenssteuer war indes nicht nur ein ideologisches zur Rettung des Mittelstandes, sondern auch materiell fundiert. Bemerkenswert in dieser Hinsicht ist die Gleichzeitigkeit der Einführung der Sondersteuern für große Dienstleistungsbetriebe und der Steuersenkung auf höhere Einkommen. Das könnte ein Signal an das mittlere und höhere Management in den Banken, Energiebetrieben und Handelsketten gewesen sein, nach dem Motto: Wir besteuern zwar die Unternehmen höher, in denen ihr arbeitet, aber eure persönlichen Einkommen steigen mit der niedrigen Flat Tax gewaltig. Die Empörung über die Sondersteuern konnte mit dieser Maßnahme jedenfalls im Management, nicht jedoch bei den Eigentümern klein gehalten werden.

Im übrigen konnte noch ein makro-ökonomischer Effekt, der sich mehr oder weniger direkt aus der Senkung der Einkommenssteuer ergab, verzeichnet werden: Das nun überschüssige Geld der besser Verdienenden suchte nach Anlagemöglichkeiten. Fidesz bot dieser Klientel gut verzinste Staatsanleihen. Der Run auf die staatlichen Papiere war enorm. „Die Idee, erspartes Geld der Reichen zur Zeichnung von Staatsanleihen zu requirieren, ging voll auf“, meint dazu die Ökonomin Botos, die an der katholischen Péter-Pázmány-Universität lehrt. Anleihen in Forint, die 9 Prozent Zinsen versprachen, und solche in Euro, die 5 Prozent garantieren, waren im Nu überzeichnet. Damit gelang es Fidesz auch, jenseits des ungeliebten IWF Kapital zur Refinanzierung des Staates aufzubringen.

Auch Gegner von Viktor Orbán betonen, dass dieser mitten in der Krise private Reserven zur Finanzierung des Staates mobilisieren konnte – auf Kosten der Armen.

Von Hannes Hofbauer erschien jüngst – gemeinsam mit Co-Autor David Noack – das Buch Die Slowakei. Der mühsame Weg nach Westen im Promedia Verlag (Wien 2012).

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