Warum steigen die Preise?

Die Zentralbanken und ihre Sorge um eine zu geringe Inflation

Der Wert einer Ware ist nach Marx durch den zu ihrer Reproduktion erforderlichen Arbeitsaufwand bestimmt. Sinkt dieser Arbeitsaufwand, beispielsweise durch eine Steigerung der Arbeitsproduktivität, so sinkt auch der Wert der einzelnen Ware. Ihr Preis hingegen ist, ebenfalls nach Marx, der Geldausdruck ihres Werts. Die Preise können seiner Meinung nach zwar infolge eines veränderten Verhältnisses von Angebot und Nachfrage schwanken, aber das Gravitationszentrum, um das sie schwanken, bleibt der Wert. Im Idealfall, wenn Angebot und Nachfrage übereinstimmen, ist der Preis der exakte Geldausdruck des Werts, und wenn die Arbeitsproduktivität steigt, fallen die Preise. So weit die Theorie.

Ein Blick in die historische Statistik zeigt, dass seit Marxens Zeiten die Preise enorm gestiegen sind, beispielsweise der Goldpreis in London von 1865 bis August 2019 von 4,24 Pfund Sterling auf 1245,57 Pfund, also auf fast das Dreihundertfache, und im selben Zeitraum die allgemeinen Warenpreise in Großbritannien auf immerhin knapp das 94fache.1 Den daraus zu ziehenden Schluss jedoch, dass die allgemeine Arbeitsproduktivität auf ein Hundertstel gesunken sei, die spezielle in der Goldproduktion gar auf ein Dreihundertstel, wird wohl niemand für richtig befinden. Ist also die Marx’sche Arbeitswerttheorie falsch?

Marx fügte seiner Feststellung „Preis ist an sich nichts als der Geldausdruck des Werts“ die Erläuterung hinzu: „Hierzulande z. B. werden die Werte aller Waren in Goldpreisen, auf dem Kontinent dagegen hauptsächlich in Silberpreisen ausgedrückt. Der Wert von Gold und Silber wie der aller andern Waren wird reguliert von dem zu ihrer Erlangung notwendigen Arbeitsquantum.“2 Diese prononcierte Aussage, die seine außerordentlich verwickelte Darstellung der verschiedenen Wertformen im Kapital-Band I auf den Punkt bringt, entzieht all jenen Diskussionen den Boden, die davon ausgehen, dass Marx im ersten Band lediglich eine Werttheorie entwickelt habe, der erst im dritten Band eine Preistheorie folgen sollte (an der er gescheitert sei).

Mithin ging Marx davon aus, dass Geld in Gestalt von Gold- oder Silbermünzen Produkt gesellschaftlicher Arbeit ist, die in Arbeitszeit gemessen wird, also selbst einen bestimmten Wert hat. Allerdings bemerkte er schon damals, dass Gold „in dieser Funktion durch relativ wertlose Papierzettel ersetzt werden kann“.3 Das Geld, mit dem heute eingekauft wird, das Papiergeld, aber auch das „Plastikgeld“ (Bank- bzw. Kreditkarten) und erst recht das „virtuelle Geld“, mit dem die bestellte Ware beim Online Banking bezahlt wird, sie alle symbolisieren daher einen Wert, der mit dem Arbeitsaufwand zu ihrer Herstellung nichts zu tun hat: Die Herstellung eines Fünfhundert-Euro-Scheins kostet nicht mehr als die eines Fünf-Euro-Scheins, und der Preis, der für den Erwerb einer Kreditkarte gezahlt werden muss, hängt nicht davon ab, ob mit ihr Einkäufe von zwanzig Euro „bezahlt“ werden oder Einkäufe von zwanzigtausend Euro.

So betrachtet, ist auch voll verständlich, dass die „relativ wertlosen Papierzettel“ nahezu beliebig vermehrt werden können, um anschließend, wenn die darin ausgedrückten Preise allzu stark gestiegen sind, auf den Zetteln ein paar Nullen wegzustreichen; die deutsche Hyperinflation von 1923 und ihr mit der Streichung von neun Nullen angezeigtes Ende ist wohl das instruktivste Beispiel, aber auch die seit 1990 vorgenommenen Streichungen von drei bis sechs Nullen in Polen, der Türkei, Russland, Argentinien usw. waren bemerkenswert.

Bleibt die Frage, was das Spiel mit den Papierzetteln bewirkt, welchen Sinn diese „Schöpfung aus dem Nichts“ hat, warum diejenigen, die viel Geld und zudem in der Wirtschaft das Sagen haben, nichts dagegen unternehmen. Die Antwort ist ebenso einfach wie sie unverständlich ist für die meisten, die nur wenig Geld haben: Das eigene Geld interessiert wirklich Reiche kaum. Sie reagieren, vielleicht nicht in der Öffentlichkeit, aber im trauten Kreis genauso wie der russische Oligarch Oleg Deripaska, der in der Finanzkrise von 2008 neunzig Prozent seines Geldvermögens, etwa 25 Milliarden US-Dollar, verlor, und im Interview meinte: Es ist doch nur Geld… Recht hatte er, denn sein Realvermögen – die ihm gehörenden Fabriken, Bergbauunternehmen, Elektrizitätswerke usw. – blieb ihm ja erhalten, und das ist das Entscheidende für den Kapitalisten, nicht das eigene Geld.

Das Geld der anderen dagegen, das ist interessant, denn „die anderen“, das sind die, die die im Unternehmen produzierten Waren und Dienstleistungen kaufen. Ob sie über das Geld wirklich verfügen oder es sich auf dem Wege des Kredits besorgen müssen, ist schon zweitrangig. Zweitrangig, aber keineswegs ohne Effekt: Die künstliche, durch Kreditvergabe erzeugte Erhöhung der zahlungsfähigen Nachfrage bewirkt eine erhöhte Geldmenge, und die führt bei gleichbleibender Geldumlaufgeschwindigkeit nahezu automatisch zu steigenden Preisen.

Zu Marx’ Zeiten war die Masse des als Zirkulationsmittel funktionierenden Geldes durch die Preissumme der Waren und die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes bestimmt.4 Heutzutage, da Geld „aus dem Nichts erschaffen“ werden kann, ist es umgekehrt: Die Preissumme der Waren ist durch die Masse des als Zirkulationsmittel funktionierenden Geldes und dessen Umlaufgeschwindigkeit bestimmt. Das durch Kreditvergabe erzeugte Anwachsen der Geldmenge hat die steigenden Preise zur Folge. Steigen die Preise nicht mehr, ist – von durch exorbitanten technischen Fortschritt bewirktem Preisverfall abgesehen – Gefahr im Verzug, denn schon ein Gleichbleiben der Preise deutet auf eine nachlassende Kreditvergabe hin, die eine Abschwächung der kreditierten Konjunktur zur Folge haben kann. Und umgekehrt in der Phase einer Überhitzung der Konjunktur: Nicht nur steigt die kreditierte Geldmenge enorm, auch ihre Umlaufgeschwindigkeit erhöht sich, was die Preise zwangsläufig noch weiter st eigen lässt.

Daraus resultiert, dass die Konjunkturforschungsinstitute mit besonderer Sorgfalt die Bewegung der Preise beobachten. Zurzeit sind sie besorgt, dass die Inflation in Europa so gering ist, und meinen, dass sie wieder auf zwei Prozent pro Jahr steigen müsse. Dass bei der gegenwärtigen Nullzinspolitik diejenigen, die ihre kleinen Ersparnisse auf der Bank zu liegen haben, damit Jahr für Jahr zwei Prozent Verlust zu verbuchen haben, stört die Forschungsinstitute offenbar nicht, denn zur Behebung dieses „Kollateralschadens“ genügt es ja, den Geschädigten im Bedarfsfalle neue Kredite auszureichen.

Allerdings zeigt die Geschichte auch, dass die Wege kreditierter Konjunktur nur eine begrenzte Reichweite haben, ganz einfach deshalb, weil die ausgereichten Kredite nicht mehr zurückgezahlt werden können. Dem kann zwar durch weitere Kreditaufnahme entgegengewirkt werden, womit aber früher oder später die sogenannte Konjunkturüberhitzung beginnt, die dann meistens im Krach endet: Die regelmäßig wiederkehrenden Finanzkrisen zeigen, dass die nur scheinbare Abkoppelung von der materiellen Produktion (der sog. Realwirtschaft) nichts daran ändert, dass es realwirtschaftliche Vorgänge sind, die die Eigentümer auch der ausgeklügeltsten Finanzprodukte aus ihren Wolkenkuckucksheimen wieder auf den harten Boden der Realität zurückschleudern, erst recht natürlich die Besitzer auf Kredit gekaufter Eigenheime, die in Wahrheit der kreditierenden Bank gehören. Das hat, sicherlich nicht zum letzten Male, die Finanzkrise von 2007 sehr nachdrücklich demo nstriert.

Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin

Anmerkungen:

1 Zu den konkreten Daten vgl. http://www.measuringworth.com sowie https://www.gold.de/kurse/goldpreis/britische-pfund/ (konsultiert am 16. 8. 2019).

2 Karl Marx: Lohn, Preis und Profit. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 16, S. 127. – In der von mir 2015 im Hamburger LAIKA-Verlag herausgegebenen kommentierten Einzelausgabe S. 76.

3 Karl Marx: Das Kapital, Bd. 1. In: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 140/41. – In meiner 2017 im Hamburger VSA: Verlag erschienenen Neuen Textausgabe S. 96.

4 Vgl. ebenda, S. 133 bzw. S. 89.