„Steigt auf die Bäume in Eurer Stadt!“ Ultimatum in Ravensburg:

„Ihr könnt unsere Baumhäuser zerstören, aber nicht die Kraft, die sie schufen“

Ravensburg, 12. Dezember 2020 Es sind zunächst zwei Menschen, welche die zuvor hinter einem Stromkasten deponierten Baumstämme an Seilen in die friedlich dastehende Winterlinde ziehen und diese dann mit neonorangenem Seil an die Äste des Baumes knoten. Als ein spärliches Gerüst aus Baumstämmen und Ästen besteht, werden Holzpaletten nach oben gezogen und zusammengenagelt. Von unten dürfte man ein leises Hämmern hören und die kleinen Lichtkegel der Stirnlampen sehen und zwei vermummte Gestalten, die nach und nach Beutel, Körbe und Eimer mit Nahrung und Schlafsäcken erst aus der Dunkelheit holen, um sie dann an einem Seil zu befestigen und wie den Rest des zukünftigen Baumhauses in die mächtige Baumkrone ziehen. Als das Material zu einem kleinen Verschlag verbaut ist, ziehen sich die dunklen Gestalten darin zurück und verschmelzen mit der Baumkrone in der sich langsam auflösenden Dunkelheit. Was treibt sie an, in einer frostigen Dezemberna cht mehrere Stunden lang bis ins Morgengrauen ein Gerüst aus Holz und Plastikplanen in acht Metern Höhe, direkt neben der Ravensburger Schussenstraße, zu errichten? Es ist die Gewissheit, dass ihr jetziges Handeln eine schon längst fällige Entwicklung einleiten kann.

Handlungsbedarf

Um zu verhindern, dass die Erde sich um mehr als 1,5 Grad Celcius aufheizt, berechnet der IPCC im „Sonderbericht 1,5 °C globale Erwärmung“ das CO2-Restbudget für die Weltgemeinschaft.1 Für die Stadt Ravensburg ist das eine Menge von zwei Millionen Tonnen bis 2040. Die Maßnahmen der Stadt, um die 1,5 Grad-Grenze einzuhalten, sind überschaubar. So beschloss der Gemeinderat der Stadt im Juli 2020 den „Ravensburger Klimakonsens“, welcher zuvor von der „Klimakommission“2 erarbeitet wurde. In diesem ist das Ziel beschlossen worden, bis 2040 klimaneutral zu werden, die Emissionen also auf Nettonull zu reduzieren. Die Menge von zwei Millionen Tonnen CO2 würde bereits bis 2024 emittiert und bis zum Jahr 2040 mehr als vier Millionen Tonnen CO2 betragen– das Doppelte dessen, was Ravensburg zusteht, um das 1,5-Grad-Ziel mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Drittel einzuhalten. Ähnlich sieht es beim Landkreis Ravensburg aus, der ebenfalls bei dem aktu ellen Kurs das CO2-Budget bis 2024 emittiert haben wird.3

Diese Zielsetzung lässt am ernsthaften Klimaschutz-Willen zweifeln. Auch wurde im „Klimakonsens“ nicht vermerkt, mit welchen Maßnahmen man die festgelegten Ziele erreichen will. Wie fatal diese Beschlüsse und Ziele sind, weiß die Stadt gekonnt zu verschleiern, indem sie sich immer wieder als Modellkommune des lokalen Klimaschutzes präsentiert. Um diesen leeren Versprechungen ein Ende zu setzen, entsteht ein Klimacamp in luftiger Höhe, welches bald schon von mehr als 200 Menschen unterstützt und in der Presse fast dauerhaft abgebildet wird.

Ravensburg, 13. Dezember 2020 Die Erschöpfung steckt tief in den Knochen, als sich die Morgendämmerung auflöst und die Sicht auf das Baumhaus freilegt. Erste Passant*innen werden von dessen Anblick angezogen und schon werden den zwei Aktivist*innen Essen in eine Tüte gelegt und an einem Seil nach oben gezogen.

Solche Reaktionen von interessierten und solidarischen Menschen werden sich in der nächsten Zeit häufen. Im Laufe des Vormittags versammeln sich immer mehr Menschen um den Baum, manche mit Bannern und Schildern, auf denen „Wald statt Asphalt“ und „Fight Every Crisis“ steht. Es geht um die Forderung von ersthaften Maßnahmen gegen die Erderwärmung, auf die die Aktivist*innen im Gespräch mit der Presse immer wieder verweisen müssen und für die sie die neue Aufmerksamkeit gezielt nutzen. Bald darauf erscheint auch eine Streife der Polizei, welche sich über die Motive der Spontanversammlung erkundigt, noch zwei bis drei Stunden mit den Aktivist*innen verbringt und die Versammlung daraufhin auflöst. Auch das Ordnungsamt scheint nicht vorbereitet zu sein auf solch eine Situation und droht mit einer baldigen Räumung.

Verhalten wie dieses lässt sich auch im weiteren Verlauf des Klimacamps seitens der Polizei und des Ordnungsamtes beobachten. Diese handeln meist verunsichert, nicht selten ohne rechtliche Grundlage. Beeindrucken lassen sich die jungen Menschen im Baum davon nicht.

Verhandlungen

Das erste Gespräch vor Ort wird vier Tage nach Erbauen des Klimacamps vom Ersten Bürgermeister Simon Blümcke gesucht. Dieser findet das Anliegen der Besetzer*innen gut, verurteilt aber deren Aktionsform und betont, wie ambitioniert im Umweltschutz die Stadt doch sei. Auf Forderungen geht er nicht ein. An Tag 5 des Klimacamps veröffentlicht dieses die ersten ausgearbeiteten Forderungen. „Übergeordneter Appell ist die verbindliche Einhaltung des CO2-Restbudgets …“4

Auch wird eine zukünftige Aktion bekanntgegeben, bei der eine Traverse – ein Spannseil – in sicherer Höhe über die Obere Breite Straße gespannt wird, um durch öffentlichen Druck ein Gespräch mit der Stadtspitze zu erreichen. Aus deren Sicht besteht zu diesem Zeitpunkt noch immer kein Redebedarf. Die Traverse und das daran befestigte Banner mit der Aufschrift „1,5 Grad“ werden in der Nacht vom 26. auf den 27. Dezember 2020 gespannt. Zwei Tage danach wird das Camp mit Samuel Bosch, der sich gerade auf dem Baum befindet, von einem „Großaufgebot von Polizei und Feuerwehr (etwa 60 Einsatzkräfte) inklusive Sondereinsatzkommando mit Hebebühne“5 geräumt – eine klare Antwort des Oberbürgermeisters Daniel Rapp.

Groteskerweise wirft die Stadt den Aktivist*innen mangelnde Kommunikationsbereitschaft vor. Einen Tag nach der Räumung befindet sich ein paar Straßen weiter eine neue besetzte Plattform in einer Bluteiche. Polizeipräsident Uwe Stürmer sucht sofort das Gespräch mit den Klimaaktivist*innen. Nach Verhandlungen gibt es eine Absichtserklärung. in der der Bestand und die Legitimation des Baumhauses bis zum 10. Januar festgehalten wird. Vier Tage nach diesem Datum lädt OB Daniel Rapp per Privatnachricht auf Instagram zu einem Gespräch mit der Stadtspitze, mit Vertreter*innen der Politik und mit von Fridays for Future und Schüler*innenrat ein.

Das Klimacamp entsendet sechs Personen, darunter Prof. Dr. Wolfgang Ertel von den Scientists for Future, um an dem Gespräch teilzunehmen. Obwohl das ein lang ersehnter Erfolg ist, wird schnell klar, dass die Stadt auf Kritik nicht eingeht und das Treffen nutzt, um sich als grüne Stadt zu profilieren.6 Auch wird deutlich, dass es weiterhin Druck benötigt, um sich Gehör zu verschaffen – aus diesem Grund unterbrechen die Besetzer*innen ihr Klimacamp am 31. Januar 2021 und stellen der Stadt ein Ultimatum: OB Rapp soll sich zum Klimaschutz seiner Stadt und zum verheerenden Regionalplan7 klar positionieren und zeigen, dass seine Stadt Maßnahmen ergreift, um die gesetzten Ziele zu erreichen!

Sollte bis zum 1. Mai nichts geschehen, wird sich die Stadt Ravensburg in die Zeit zurückwünschen, in der es nur ein Baumhaus gab!

System Change – Not Climate Change!

Unsere Erde brennt. Wir müssen JETZT handeln. Wir müssen Druck auf die Politik ausüben. Das Thema Klimagerechtigkeit muss endlich ernst genommen werden. Leere Versprechen und Kompromisse interessieren das Klima nicht. Egal, wie groß der Widerstand ist: Wir sind viele. Sie können zwar unsere Baumhäuser zerstören, aber niemals die Kraft, die sie schufen! Die Baumbesetzung Ravensburg hat gezeigt, was ziviler Ungehorsam bewirken kann.

Sie hat gezeigt, dass sich viele Menschen mehr Klimagerechtigkeit wünschen und dass es Druck aus der Bevölkerung benötigt, um das zu erreichen.

Also: Steigt auf die Bäume in Eurer Stadt! Lasst uns Klimacamps in jeder noch so kleinen Kommune errichten! Lasst Euch durch leere Versprechen nicht davon abhalten, eine lebenswerte Zukunft zu fordern! Fight for 1,5!

Vanessa Krämer, 19 Jahre alt,  ist Klimagerechtigkeitsaktivistin bei der Baumbesetzung bzw. beim Klimacamp Ravensburg. Sie hat mehrere Tage im ersten Baumhaus verbracht und eine Nacht dort geschlafen. Außerdem war sie Bodensupport bei dem Bannerdrop vom RVBO-Gebäude [RVBO = Regionalverband Bodensee-Oberschwaben]. Sie schrieb im Juli 2020 Abitur und hat momentan ein „Gap Year“, welches sie für politischen Aktivismus im Bereich Antifaschismus und Klimagerechtigkeit nutzt. 

Anmerkungen:

1 IPCC steht für Intergovernmental Panel on Climate Change, auch als Weltklimarat bezeichnet.

2 Zum Nachlesen: https://www.ravensburg.de/rv/klimakonsens.php

3 Quelle: https://ravensburg.klimacamp.eu/co2-budget/

4 Die Forderungen zum Nachlesen: https://ravensburg.klimacamp.eu/forderungen/

5 Quelle: https://ravensburg.klimacamp.eu/pages/Pressemitteilungen/2020-12-29-Raeumung.html

6 Zum Nachlesen: https://ravensburg.klimacamp.eu/pages/Pressemitteilungen/2021-01-15-Gespraechsrueckblick.html

7 Der Regionalplan ist ein Plan, der die weitere Entwicklung der Region bestimmt. Der momentan gültige Plan stammt aus dem Jahr 1996 und in Kürze soll ein neuer verabschiedet werden, welcher dann wieder für etwa 20 Jahre Gültigkeit haben wird. Das Fatale an diesem Plan ist, dass er immense Umweltzerstörung für Straßenbau und Flächenversiegelung vorsieht. Zum Nachlesen: https://ravensburg.klimacamp.eu/regionalplan/