Quartalslüge IV/MMXVII: „Flüchtlinge sind bedauernswert. Aber eben eine normale Begleiterscheinung der Geschichte“

Das Thema Migration spielte bei den jüngeren Wahlen in Deutschland und Österreich eine wichtige Rolle. Die konservativen Parteien der Mitte, CDU/CSU und ÖVP, war nach rechts gerückt und predigten selbst Abschottung und Obergrenze. Die rechtsextremen Parteien AfD und FPÖ fuhren ihre Ernte ein. Dabei wird – nicht nur auf der rechten Seite des Parteienspektrums – davon ausgegangen, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem kapitalistischen System und der Migration gibt. Die Quartalslüge lautet: „Flüchtlinge sind bedauernswerte Menschen, aber eben eine normale Begleiterscheinung in der Geschichte. Es gab sie immer. Wenn es zu viele werden, muss man sich ihrer zu erwehren wissen.“

Derzeit seien es eben schlicht zu viele. Weswegen sogar die deutschen Grünen in den Verhandlungen über eine mögliche „Jamaika-Koalition“ die Obergrenze geschluckt und den zynischen Begriff einer „atmenden Obergrenze“ mit geschaffen hatten (siehe Seite 72 im Heft).

Tatsächlich gab es Flüchtlinge als Massenphänomen nicht immer. Vor allem gibt es Flüchtlinge nicht „einfach so“. Sie sind auch nicht Ergebnis von „schlechtem Wirtschaften“ in den Herkunftsländern. Wohl aber sind sie Resultat einer „schlechten Wirtschaftsweise“, Ergebnis des kapitalistischen Systems, in dem es zwei Grundtendenzen gibt: Erstens werden die Reichen immer reicher und dies auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung und verbunden mit einer „Produktion“ wachsender Armut. Das gilt für das Binnenverhältnis, die inländische Klassengesellschaft. Und das gilt für das Verhältnis zwischen den hoch entwickelten Industriestaaten und den Regionen, die in der Unterentwicklung gehalten werden: Afrika, Lateinamerika und große Teile von Asien. Siehe ausführlich die Beiträge im LP21-Spezial „Migration & Kapital“ (auf den Seiten 40ff.) Zweitens führen das Konkurrenzprinzip und die Existenz eines kapitalistisch betriebenen Rüstungssektors dazu, dass die Konkurrenz auf dem Weltmarkt auch militärisch ausgetragen wird und dass dabei das Krieg Führen für einen aufsteigenden Wirtschaftszweig ein hochprofitables Business darstellt. Gleichzeitig wird der Abstand zwischen dem reichen Norden und den ärmeren Regionen durch Kriege und Waffenexporte aufrechterhalten.

Die Zahl der Flüchtlinge nimmt somit einerseits in dem Maß zu, wie der Neoliberalismus mit der „freien Konkurrenz“ und dem Niederreißen von Schutz, also von Protektionismus, von protektionistischen Schranken (Zöllen z.B.), sich ausbreitet. Andererseits wächst die Zahl der Menschen, die in die Flucht getrieben werden, im Gefolge von Kriegen und parallel zum Waffenexport.

In unserer Grafik haben wir die Zahl der Flüchtlinge seit 1950 und bis einschließlich 2017 abgebildet. Siehe dort die schwarze Linie. Wir haben dieser Migrationsbewegung eine zweite (graue) Kurve gegenübergestellt, diejenige der Exporte schwerer Waffen. Die Zahl der Flüchtlinge wird auf der linken Senkrechten dargestellt (und in Millionen Flüchtlingen oder Geflüchteten wiedergegeben).* Die Höhe der Waffenexporte muss rechts auf der Senkrechten abgelesen werden; sie wird dort in Milliarden US-Dollar (zu festen Preisen) wiedergegeben.

Nicht dargestellt wird in der Grafik die Zeit 1940 bis 1950, eine Periode, in der es während des Zweiten Weltkriegs und dann als Folge dieses Kriegs weltweit eine große Zahl Flüchtlingen – wenn auch nicht so viele wie heute – gab.

Wie in der Grafik auf Basis der offiziellen Zahlen des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR ablesbar, gab es, beginnend 1950 und bis in die erste Hälfte der 1960er Jahre, weltweit „nur“ wenige Millionen Flüchtlinge. In dieser Zeit waren die Waffenexporte – verglichen mit dem späteren Niveau, moderat. Mitte der 1960er Jahre entwickelte sich die Zahl der Flüchtlinge zunächst leicht nach oben; in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre gab es hier eine kurze Spitze mit mehr als 10 Millionen. Beides erfolgte parallel mit dem US-geführten Vietnamkrieg, der 1965 begann und 1975 endete.

Ende der 1970er Jahre begann ein langanhaltender Anstieg der Flüchtlingszahlen – von rund 5 Millionen 1978 auf mehr als 20 Millionen 1993. Bis Mitte der 1980er Jahre hatten wir auch ein Rekordniveau der Exporte schwerer Waffen. Es ist die Zeit, in der sich Kriege überlagerten: der sowjetische Krieg in Afghanistan (1979-1989), der Iran-Irak-Krieg in den Jahren 1980 bis 1988 (der Westen lieferte damals an beide Seiten Waffen und profitierte davon, dass die beiden Ölstaaten so viel Öl wie möglich förderten, womit der Ölpreis massiv sank).

Ab Mitte der 1980er Jahre gehen die Waffenexporte zurück. Dies hat vor allem mit der inneren Krise der damaligen Sowjetunion und dann – ab 1990 – mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums zu tun.

1995 bis 2003 stagnieren die Flüchtlingszahlen. Zwar sprachen damals viele von einer „Friedensdividende“. Doch die Flüchtlingszahlen verharrten auf einem für die damaligen Verhältnisse sehr hohen Niveau. Den Hintergrund bildeten dafür die 1990 beginnende Zerstörung Jugoslawiens mit den neuen Balkankriegen (ab 1990) und dem Kosovokrieg 1999 (siehe S.37ff) und der neue US-Krieg im Irak 2003.

Ab 2003 steigt dann die Zahl der vom UN-Flüchtlingswerk registrierten Flüchtlinge ein weiteres Mal steil an. Sie verdreifacht sich bis 2017 auf mehr als 60 Millionen. Seit 2004 sind auch die Rüstungsexporte wieder im Ansteigen begriffen. 2017 liegen sie bei 33 Milliarden US-Dollar.

Dieser neue Anstieg der Flüchtlingszahlen erklärt sich mit den in der Grafik dargestellten neuen – immer vom Westen mit geschürten, oft mit getragenen – Kriegen: der Afghanistankrieg seit 2001, die Zerstörung Libyens durch die europäischen Nato-Staaten Frankreich und Großbritannien und die USA 2011, der Bürgerkrieg und der Krieg in Syrien seit 2011 – bis heute anhaltend.

Dies ist zugleich die Periode der „Globalisierung“: die Zeit der Verallgemeinerung des Freihandels, die Phase, in der den schwachen Staaten neue Freihandelsabkommen aufgezwungen werden, in der sich die EU-Exporte ausweiten, in der die neuen weltweiten Freihandelsabkommen diskutiert und teilweise beschlossen werden.

Ohne Zweifel gibt es eine Reihe anderer Faktoren, die zur Migration beitragen, und die hier nicht dargestellt sind. Hier soll kein einseitiger und mechanischer Zusammenhang behauptet werden. Grundsätzlich aber gilt: Migration ist nicht „normal“. Sie wird produziert. Und sie wird in erster Linie vom kapitalistischen System selbst produziert. Wobei hinter jeder einzelnen UNHCR-Ziffer ein Mensch und ein menschliches Schicksal steht.

*) Wir verwenden für Menschen, die sich konkret auf der Flucht befinden, den Begriff Flüchtlinge. Für Menschen, die nach ihrer Flucht in einem Land angekommen sind und dort bleiben wollen, kurzzeitig Geflüchtete. Wobei sie dann binnen kurzem als Bürgerinnen und Bürger ihres neuen Heimatstaats begriffen werden sollten.