Nach dem Frauenstreik die Frauenwahl

Zu den Parlamentswahlen in der Schweiz

Im Jahr 2019 ist in der Schweiz so viel in Bewegung geraten, wie schon seit langem nicht mehr. Herausragend ist der Frauenstreik vom 14. Juni, der nach den ersten Frauenstreikaktionen im Jahr 1991, nun bereits ein zweiten Mal stattfand und der ebenso Geschichte schrieb und diese zugleich fortsetzte. Ein weiteres Datum, das nicht so schnell vergessen sein wird, ist der 20. Oktober 2019: Wahltag für das eidgenössische Parlament, für den Nationalrat (grosse Kammer) und den Ständerat (kleine Kammer).

Für schweizerische Verhältnisse haben diese Wahlen ausgesprochen erdrutschartige Verschiebungen gebracht. Der neu zusammengesetzte Nationalrat ist weiblicher, linker und grüner geworden. „Ein Signal für Europa“, betitelte Anna Jikhareva ihren Kommentar in der Wochenzeitung WoZ vom 24. Oktober 2019.

Frauen sind die Gewinnerinnen

Im Nationalrat ist der Frauenanteil überdurchschnittlich von 32 auf 40 Prozent angestiegen: Von 200 Sitzen werden neu 80 von Frauen eingenommen. Womit auch die Frauenquote in den Parlamenten der angrenzenden Länder überholt worden ist. Ein Erfolg, der zweifelsohne auf den Frauenstreik zurückzuführen ist. Womit der bevorstehende 50. Jahrestag seit Einführung des Frauenstimmrechts am 7. Februar 1971 gewürdigt wurde. Seither ist der Frauenanteil im Nationalrat konstant gewachsen; von gut 5 auf 32 Prozent im Jahr 2015. Im besten Fall waren es aber trotzdem lediglich vier Prozentpunkte Zuwachs pro Legislatur. Das dauerte auch deshalb so lange, weil eben nur ein knappes Drittel der 200 Sitze jeweils neu zu besetzen waren. Die anderen Sitze gingen faktisch an Bisherige. Und die sogenannten Bisherigen waren in der Vergangenheit und sind es auch heute noch, vor allem Männer.

Zusammenfassend ist hervorzuheben, dass die Frauen des rotgrünen Parteienspektrums ihre Mehrheit ausbauen konnten. Die frühere starke Frauenvertretung bei der Sozialdemokratischen Partei (SPS), den Grünen und den Grünliberalen hat sich bei den Wahlen 2019 noch verstärkt. So liegt nun der Frauenanteil bei der SPS bei 64 Prozent und bei den Grünen bei 61 Prozent. Bei den Grünliberalen ist der Frauenanteil zur Parität angestiegen und die kleine Evangelische Volkspartei (EVP) und die beiden kleinen Linksparteien, Partei der Arbeit (PdA) und solidaritéS, erreichten einen Frauenanteil von knapp 67 beziehungsweise 50 Prozent.

Auch bei den bürgerlichen Parteien ist der Frauenanteil zum Teil markant angestiegen: Bei den Freisinnigen (FDP) wuchs der Frauenanteil um 13 Prozentpunkte auf 34 Prozent, bei der Schweizerischen Volkspartei (SVP) um 8 Punkte auf gut 24 Prozent. Bei den Christlichen (CVP) waren die Frauen bisher immer relativ stark vertreten. Bei diesen Wahlen sank jedoch ihr Anteil um fünf Punkte auf 28 Prozent.

Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses ist das eidgenössische Parlament noch nicht vollständig bestellt. Bei den Wahlen in den Ständerat sind nach dem Wahlsonntag in zwölf Kantonen noch einer oder beide Sitze in zweiten Wahlgängen zu besetzen. Im Vorfeld der Wahlen wurde oft das Gespenst eines Ständerates mit nur noch einer Frau als Ratsmitglied heraufbeschworen. Zudem hieß es gelegentlich, die grüne Welle würde am Ständerat vorbeigehen. Aber der Ausgang verlief anders. Bereits im ersten Wahlgang wurden sechs Frauen und in zweiten Wahlgängen bis zum 10. November 2019 sechs weitere Frauen in den Ständerat gewählt. Für die weiteren zweiten Wahlgänge befinden sich in manchen Kantonen Kandidatinnen in guten Positionen, um gewählt zu werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass von den 46 Sitzen im Ständerat ein Drittel an weibliche Ratsmitglieder gehen könnte.

Und auch die Grünen haben überraschend im ersten Wahlgang je einen Ständeratssitz in den Kantonen Glarus und in Neuenburg geholt; und nach dem 10. November 2019 sind zwei Vertreterinnen aus den Kantonen Genf und Waadt dazugekommen. Für die noch verbleibenden zweiten Wahlgänge in den verschiedenen Kantonen zeichnen sich für die Grünen noch einige Wahlchancen ab.

Gewinnerinnen und Verliererinnen

Zu den Gewinnerinnen gehören als Partei in erster Linie die Grünen. Auf Anhieb haben sie bei den Wahlen in den Nationalrat 17 Sitze dazu gewonnen. Insgesamt nehmen sie 28 Sitze ein, was im wahrsten Sinne historisch ist. In der ganzen parlamentarischen Geschichte hat noch nie eine Partei einen solchen Zuwachs erlangt. Die vier Sitzverluste von namhaften Parlamentariern aus dem Kreis der Gewerkschaften ist für die SPS bitter; und auch historisch. Diese Wahlen brachten für die SPS bisher das schlechteste Resultat. Dennoch sind die Chancen für eine Politik im Interesse der Erwerbstätigen und der sozial Schwachen wesentlich besser als in den vergangenen vier Jahren. Denn für die reale Politik im Bundeshaus sind nicht bloß die Grössen der jeweiligen Fraktionen entscheidend, sondern auch, wie sie zusammengesetzt sind. Da ist hervorzuheben, dass aus gewerkschaftlicher Sicht die vielen grünen Sitzgewinne die paar Verluste der SPS-Sitze mehr als aufwiegen. Am Beis piel des Kantons Zürich, der am meisten Nationalrätinnen und Nationalräte nach Bern schicken kann, zeigt sich, dass die beiden Sitze der eher gewerkschaftsfernen, abgewählten SPS-Politiker eine an eine dezidiert linke und engagierte Parteikollegin ging und durch die drei Sitzgewinne der Grünen mehr als kompensiert werden. Der abtretende SPS-Parteipräsident, Christian Levrat, der weiterhin dem Ständerat angehören wird, zieht folgende Bilanz: „Was wir tun müssen, ist, die kommende Legislatur in Angriff nehmen. Wir haben jetzt wahrscheinlich das progressivste Parlament der Schweizer Geschichte. Diese Chance müssen wir packen, um Fortschritte zu machen, in der Gesundheitspolitik, bei der Rentenfrage, bei der Europafrage oder in der Klimadiskussion.“

Zur SVP

Zweifelsohne steht die rechtskonservative, populistische und ausländerfeindliche SVP als die grosse Verliererin da. Sie verlor zwölf Sitze, was auch einen historischen Einbruch darstellt. Keine Partei zuvor verlor jemals so viele Sitze bei einer Wahl. Anders als vor vier Jahren: Da gehörten die Rechte und die Rechtsaussen zu den grossen Wahlsiegern. SVP und FDP hatten im Nationalrat die absolute Mehrheit. Es ist aber verfrüht, darüber zu spekulieren, ob nun die extreme Rechte lediglich zurechtgewiesen worden oder ob der Rechtsrutsch nun Geschichte sei, wie verschiedentlich in den Medien kolportiert wurde. Nicht vergessen werden darf, die SVP ist mit ihren 53 Sitzen im Nationalrat immer noch stärkste Partei in der Schweiz. Sie verfügt jedoch auch zusammen mit der FDP nicht mehr über die absolute Mehrheit. Zusammen kommen sie auf 81 Stimmen; SPS und Grüne vereinen 67 Stimmen. Das Zünglein an der Waage wird künftig das Parteienspektrum der Mitte spielen. Insofern bleibt das Parlament bürgerlich.

Auch nicht zu vergessen: 2020 jährt sich die „Überfremdungsinitiative“ von James Schwarzenbach, zum 50. Mal. Schwarzenbach wurde damals als Mitglied der Nationalen Front in den Nationalrat gewählt und galt als erster fremdenfeindlicher europäischer Rechtspopulist. Obschon die Initiative abgelehnt wurde, veränderte sich die Schweiz: Sie bereitete den Boden für den Aufstieg der SVP mit Christoph Blocher. In der Folge nutzte die SVP die direkte Demokratie, um systematisch Minderheiten zu schikanieren, was ihr die Bewunderung von ausländischen Verbündeten einbrachte.

Allerdings scheint ihr Stern in letzter Zeit zu sinken. Nach der „Durchsetzungsinitiative“ (Zur Durchsetzung der „Ausschaffung krimineller Ausländer“, 2016), die deutlich abgelehnt wurde, hat die SVP in der Folge gleich mehrere Abstimmungen verloren. Auch wenn sie weiterhin stärkste Kraft bleibt: Ihre Verluste befördern die SVP auf das Niveau von 1991.

Obschon die Freude über diese drastische Niederlage gross und die Begeisterung über den sozusagen historischen Linksrutsch noch grösser ist, sollte die Euphorie über eine künftige progressive Schweiz nicht dazu führen, drohende Gefahren aus dem Blickwinkel zu verlieren. Bereits im Mai 2020, gerade mal sieben Monate nach den Wahlen, steht die nächste Abstimmung einer SVP-Initiative an – und es handelt sich um eine der gefährlichsten. Eine Annahme der „Begrenzungsinitiative“ („Für eine massvolle Zuwanderung“) würde zur Kündigung der bilateralen Verträge mit der EU führen. Das heisst Abbruch geregelter Beziehungen zum wichtigsten Partner. Insbesondere wäre die Personenfreizügigkeit gefährdet, die zu den vier Grundfreiheiten zählt. Eine Annahme wäre ein Rückfall ins dunkle Schwarzenbach-Zeitalter, ohne Rechte für Saisonniers und ausländische Arbeitskräfte.

Tamara Funiciello, JUSO-Präsidentin bis Ende August 2019, Feministin und neu in den Nationalrat gewählt, meint zum Erfolg der Frauenstreikbewegung bezüglich Wahlen: „Wir dürfen den Frauenstreik nicht auf die bloße Repräsentationsfrage reduzieren. Es ging und geht um viel mehr. Es geht darum, die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft zu setzen.“ Und weiter in einem Interview in einer Gratistageszeitung: „Es wird sich zeigen, wie links der Rat ist. Alle reden vom Linksrutsch. Aber wir sind nach wie vor in einem bürgerlichen Land mit einem bürgerlichen Parlament. Die GLP (Grünliberale) ist bürgerlich. Das Soziale wird auf der Strecke bleiben in den nächsten Jahren, das Rentenalter erhöht werden. Das werden wir in den nächsten Jahren zu sehen bekommen. Darum brauchen wir eine starke, konsequente Linke, die ihre Rolle als Opposition nicht aufgibt und ihre Kämpfe im Parlament mit denen auf der Strasse verbindet.“

Dennoch: Im rechten wie im linken Parteienspektrum wurden langjährige und namhafte Politiker (Politikerinnen sind nicht mitgemeint) abgewählt. An ihre Stelle wählte die Stimmbevölkerung engagierte weibliche, linke, grüne und eine jüngere Generation von Vertreterinnen und Vertretern für das eidgenössische Parlament – ein Indiz dafür, dass die Stimmbevölkerung ein Parlament will, das ein anderes Gesicht repräsentiert.

Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig und arbeitet in verschiedenen frauen- und sozialpolitischen Projekten, lebt in Bern.