Was steckt hinter edlen Labels und billiger Mode?
Gisela Burckhardt in Lunapark21 – Heft 30
Vor zwei Jahren stürzte das Rana Plaza, ein baufälliges Gebäude der Textilindustrie in Bangladesch, ein. Über 1130 Menschen, vor allem Arbeiterinnen, verloren dabei ihr Leben. Über 2400 wurden verletzt. Obwohl die Entrüstung groß war – auch in Europa –, hat sich für die Textilarbeiterinnen bis heute wenig verändert. Dem Entschädigungsfonds für die Opfer von Rana Plaza wird kaum Folge geleistet. Aktuell ist erst die Hälfte, nämlich 40 Millionen Dollar von den beteiligten Unternehmen eingezahlt worden. Viele Arbeiterinnen sind bis heute traumatisiert und an Leib und Leben versehrt. Die miserable Lebenssituation von Textilarbeiterinnen hat nicht zuletzt auch mit der Bekleidungsindustrie und dem Konsumverhalten in unseren Breitengraden zu tun.
Statistisch gesehen kauft jede Person in Deutschland (Kleinkinder inbegriffen) Monat für Monat fünf neue Bekleidungsstücke (Schuhe, Kleidung, modische Accessoires). Das sind am Ende des Jahres 60 Bekleidungsstücke mehr. Allerdings werden von diesem Kleiderberg nur 40 Prozent überhaupt je getragen. Der große Rest bleibt im Schrank beziehungsweise wird in den Müll entsorgt. Seit 1980 ist der Verbrauch um das Vierfache angewachsen. Vor allem junge Menschen verfallen angesichts von Billigklamotten und Billigaccessoires dem Konsumrausch. Shoppen wird zur Freizeitbeschäftigung. Es kostet ja auch fast nichts. Den Preis dafür zahlen die Arbeiterinnen in den Textilfabriken im Süden mit Hungerlöhnen, Überstunden und nicht selten mit ihrem Leben. Der Respekt vor der Arbeit der Näherin ist nicht mehr vorhanden.
Dieses System der fast-fashion prangern einschlägige Nichtregierungsorganisationen seit Jahren an. Immerhin hat sich seit der Rana-Plaza-Katastrophe und den zahlreichen Reportagen, Talkshows und Berichten zum Thema bei vielen europäischen Konsumentinnen und Konsumenten das Bewusstsein für die Situation der Textilarbeiterinnen geschärft. Allerdings zeigt sich, dass sich die meisten vor allem von der Vorstellung leiten lassen: Billigklamotten gleich Billigproduktion.
Werden teure Markenwaren tatsächlich unter besseren Bedingungen hergestellt? Halten die großen Modelabels im Hochpreissegment die Arbeitsstandards ein und werden den Arbeiterinnen existenzsichernde Löhne gezahlt? Leider nein! Die Kollektionen teurer Modelabels werden oft unter denselben prekären Bedingungen gefertigt wie die der Textildiscounter, was seitens der lokalen Partnerorganisationen von FEMNET oder der Clean Cloth Campaign (CCC) immer wieder berichtet und durch eigene Recherchen bestätigt wird. Die Autorin war vor Ort in Bangladesch und hat mit Hilfe der zivilgesellschaftlichen Partnerorganisation RISE (Research Initiative for Social Equity Society) die Produktionsbedingungen bei den Lieferanten von Qualitätsmarken wie Hugo Boss mit jenen der Billigmarken wie H&M verglichen. Wir wissen, dass Hugo Boss für hochpreisige Premium- und Luxusmode steht, H&M für billige Trendklamotten. Was steckt dahinter, wenn gerade solche Firmen von Nachhaltigkeit sprechen?
Teure Marken – Das Beispiel Hugo Boss
Zunächst ist es sehr schwierig, unter den rund 5000 Textilfabriken in Bangladesch mit insgesamt vier bis fünf Millionen Beschäftigten, darunter 80 Prozent Frauen, diejenigen zu finden, die für Hugo Boss produzieren. Dank RISE konnten zwei Fabriken ausfindig gemacht werden. Wie vermutet kam zutage, dass die Beschäftigten unter den gleichen schlechten Arbeitsbedingungen wie auch Kolleginnen und Kollegen in anderen Fabriken leiden. Bei einem Boss-Zulieferunternehmen in Chittagong gab es für viele keine Arbeitsverträge. Zudem sind sie ständig den Beschimpfungen ihrer Aufseher ausgesetzt. Ohne Vorankündigung werden die Näherinnen gezwungen, Überstunden zu leisten, was eine Planung des täglichen Lebens und der Erholungszeit unmöglich macht. Dazu kommt, dass viele Fabriken Mängel in der Statik, Elektrik und beim Feuerschutz aufweisen. Einige mussten deshalb geschlossen werden.
Nach der Katastrophe von Rana Plaza wurde ein Gebäude- und Brandschutzabkommen (Accord on Fire and Building Safety) ins Leben gerufen, dem mittlerweile fast 200 Unternehmen hauptsächlich aus Europa beigetreten sind. Die Firma Hugo Boss hat es bis heute nicht unterzeichnet.
Billigmarken – Das Beispiel H&M
H&M macht viel Werbung mit nachhaltiger Produktion und fairer Arbeit. Die Untersuchung aber ergab, dass die Arbeitsbedingungen in ihren Produktionsstätten immer noch katastrophal sind: Bei zwölf untersuchten Fabriken, von denen fünf für H&M produzieren, fehlen schriftliche Arbeitsverträge, nirgendwo gibt es einen frei gewählten Betriebsrat und Mutterschaftsurlaub wird nicht korrekt gewährt. RISE befragte in diesen Fabriken insgesamt 115 Beschäftigte. Im Vergleich zu Hugo Boss veröffentlicht H&M wenigstens die Lieferantenliste. Der Konzern behauptet, dass seine Produzenten einen „fairen Lohn“ zahlen. Was darunter zu verstehen ist, wird nicht gesagt. Sie geben an, dass die Näherinnen ihren Lohn selber bestimmen sollen – scheinbar individuell, ohne Gewerkschaften und Tarifverträge. In Deutschland geht der Konzern gezielt gegen Betriebsräte vor. Das ist nicht verwunderlich, schließlich beruht das Geschäftsmodell auf vielen Stundenjobberinnen, die oft vor Gericht klagen, um ihre verbrieften Rechte durchzusetzen. Drei Viertel der H&M-Mitarbeiterinnen sind in Teilzeit beschäftigt: Es ist billiger, Studentinnen mit Zehn-Stunden-Verträgen jobben zu lassen, als erfahrene Mitarbeiterinnen zu bezahlen. Wenn H&M seine Beschäftigten in Deutschland so behandelt, wie sieht es dann erst in Bangladesch bei den Zulieferern aus?
Nachhaltigkeit oder Greenwashing versus
echtem Engagement?
Nicht nur H&M hat das Thema Nachhaltigkeit für sich entdeckt, aber was steckt hinter dem Engagement der verschiedenen Modehäuser? Ein Bericht von Rank a Brand aus dem Jahr 2014, der 368 Marken in den Bereichen Klimaschutz, Umweltschutz und faire Arbeitsbedingungen in der Produktion untersuchte, kommt zum Ergebnis, dass inzwischen 63 Prozent der untersuchten Marken über das Thema berichten, ein Anstieg um zehn Prozent gegenüber 2011. Die Zeichen der Zeit werden also von den Unternehmen erkannt. Aber ein Drittel der Marken vernachlässigt in ihren Berichten jegliche Substanz, was nichts anderes als Greenwashing heißt. Bei der Gesamtbewertung erhalten nur zehn der untersuchten Marken die bestmögliche Bewertung A. Hugo Boss wird zusammen mit der großen Mehrheit in die schlechteste Kategorie E eingestuft. Die Bewertung der Marken erfolgte anhand eigener Aussagen auf ihrer Homepage.
Millionengeschäft für Prüfgesellschaften
Viele Unternehmen bekennen sich zwar inzwischen zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung und haben Zulieferer zu bestimmten Standards verpflichtet, die sie in sogenannten Audits überprüfen lassen. Doch was ein Qualitätssiegel für die Unternehmen sein sollte, ist vor allem ein Millionengeschäft für die Prüfgesellschaften. Eine Fabrik im Rana Plaza wurde vor dem Einsturz von den Technischen Überwachungsvereinen, TÜV Süd und TÜV Rheinland (der Bericht war für die Autorin zugänglich) geprüft. Abgesehen von der Gebäudesicherheit, für die der TÜV nicht zuständig war (was immer betont wurde), erweist sich das Audit als absurd. Die Fabrik bekam die Gesamtnote „Verbesserungen nötig“. Aus Sicht der Auditoren sind die Verstöße nicht so gravierend, dass die Fabrik keine Aufträge erhalten soll.
Angeblich gab es weder Kinderarbeit noch Zwangsarbeit – aber erzwungene Überstunden. Diskriminierung soll in der Fabrik nicht existiert haben, was allerdings bezweifelt werden kann. Sogar Koalitionsfreiheit soll es gegeben haben. Zwar haben die meisten Fabriken ein so genanntes Participation Committee. Doch dieses Gremium wird in der Regel nicht frei gewählt, sondern durch das Management bestimmt. Ein anderer Skandal ist, dass die Audits nicht öffentlich werden. Selbst betroffene Arbeiterinnen und ihre Gewerkschaften erfahren nichts davon. Die Audits bleiben Geheimsache zwischen Fabrikbesitzer, Einkäufer und Tester.
Auch die Tazreen Fabrik, die im November 2012 abbrannte, wurde angeblich vorher von Auditoren geprüft. Beim Sprung aus dem brennenden Gebäude und an den späteren Folgen starben im Sommer 2014 insgesamt 125 Arbeitnehmende und 150 verletzten sich teilweise schwer. Obwohl bei der Fabrik die Notausgänge und Feuerleitern fehlten, wurden keine Maßnahmen ergriffen. Sogar Laien konnten diese Mängel feststellen. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob die Fabrik überhaupt jemals überprüft wurde.
Die Tazreen-Fabrik gehört zur Tubagruppe, die sich in Besitz von Delwar Hossain befindet. Er konnte sich auf Kaution mehrfach aus der Haft freikaufen, zuletzt am 5. August 2014. Er erpresste die Justiz, indem er drei Monatslöhne für 1600 Arbeitende zurückhielt. Diese wollte er nur auszahlen, wenn er auf freien Fuß käme. Auch deutsche Einkäufer wie KiK und Lidl und internationale Unternehmen wie Walmart und C&A sind Auftraggeber der Tubagruppe.
Was ist zu tun?
Auch wenn der öffentliche Druck nun gute zwei Jahre nach dem tragischen Unglück von Rana Plaza weiter anhält und die Debatte um den Schutz der Arbeiterinnen in der globalen Bekleidungsindustrie für erste wichtige Schritte gesorgt hat – wie beispielsweise den Accord oder das vom BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) initiierte Textilbündnis – bedarf es weiterer Maßnahmen, damit die Arbeitsbedingungen in der globalen Bekleidungsindustrie langfristig menschenwürdig und ökologisch gestaltet werden.
Dazu ist die Politik gefragt. Sie muss Rahmenbedingungen schaffen, Rechtsvorschriften erlassen und Unternehmen zu Verantwortung und Sorgfalt verpflichten. Die unternehmerische Verantwortung für die gesamte Lieferkette muss gesetzlich verankert werden. So könnte auch geregelt werden, welche Entschädigungszahlungen ein Unternehmen wie im Fall von Rana-Plaza an die Opfer zu zahlen hätte. Aktuell ist es dem einzelnen Unternehmen überlassen, ob und wie viel es zahlen will.
Die Beweislast ist umzukehren. Einkaufende Unternehmen müssen Transparenz herstellen, über die Bedingungen wie ihre Ware hergestellt wird und nachweisen, dass ihre Textilprodukte ökologisch und menschenwürdig hergestellt wurden.
Neben den einkaufenden Unternehmen hat auch die Regierung von Bangladesch eine Verantwortung. Sie muss die Arbeits- und Menschenrechte der Beschäftigten in der Bekleidungsindustrie gemäß landesüblichem Arbeitsgesetz wie den Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) schützen.
Die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter müssen in den Produktionsländern gestärkt werden. Dazu gehört zwingend die Koalitionsfreiheit, also das Recht auf Betriebsräte und Gewerkschaften als Interessenvertreter der Arbeitenden. Einkaufende Unternehmen sollten sich aktiv für Organisationsfreiheit bei ihren Lieferanten einsetzen.
Verbraucherinnen und Verbraucher haben auch Verantwortung. Nicht zuletzt ist unser Konsumverhalten ein entscheidender Aspekt. Inzwischen kostet ein T-Shirt bei der Billigkette Primark weniger als eine Tasse Kaffee. Für jede und jeden ist es gut zu wissen, dass für billige Produkte in unseren Breitengraden andere Menschen unter prekären Arbeits- und Lebensbedingungen leiden. Es gibt einige wenige Siegel wie Fairtrade für Baumwolle oder GOTS für Umweltstandards, die für Nachhaltigkeit stehen. Unternehmen, die der Fair Wear Foundation beigetreten sind, wollen die Arbeitsbedingungen in der Konfektion verbessern. Nicht nur Unternehmen, Politik und Verbände stehen in der Pflicht, für würdevolle Produktionsbedingungen im Süden einzutreten – auch wir als Konsumentinnen und Konsumenten müssen unseren Beitrag leisten.
Gisela Burckhardt ist entwicklungspolitische Expertin und Vorstandsvorsitzende von FEMNET e.V. Ihre Recherchen vor Ort in Bangladesch hat sie im Buch Todschick. Edle Labels, billige Mode – unmenschlich produziert im Heyne-Verlag veröffentlicht.