Kubanische Revolution (KR)

ist nach Finanzkrise, Kurzarbeit und Mensch-Naturverhältnis das vierte ausgewählte Stichwort aus der alphabetischen Stichwörtersammlung im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (HKWM), das wir hier auszugsweise zitieren. Der wiedergegebene Ausschnitt aus dem HKWM enthält mehr als man bei Eingabe des Links: http://www.inkrit.de/e_inkritpedia/e_maincode/doku.php?id=k:kubanische_revolution zum Stichwort KR findet, aber wesentlich weniger als im Original. Die Besonderheit des Teilabdrucks besteht dieses Mal darin, dass einer der beiden Autoren, nämlich Michael Zeuske einen aktuellen Beitrag im nächsten LP-Heft schreiben wird, in dem er auf zwei Aspekte der kubanischen Entwicklung eingeht, die von größter Bedeutung für die weitere gesellschaftliche Entwicklung Kubas sind. Wer also neugierig geworden ist, die bis heute wichtige, gleichwohl knappe Strukturanalyse – gegliedert in acht Abschnitte und mit einer umfangreichen Bibliographie versehen – der kubanischen Revolution zu lesen, die (und der) sei erneut auf das Stichwort im InkriT verwiesen. Der Bestellvorgang wird auf dessen Website erläutert. (JHS)

E: Cuban Revolution. – F: Révolution cubaine. – R: Kubinskaja revoljucija. – S: Revolución cubana. – C: gubageming 뮴것몌츱 Rainer Schultz, Michael Zeuske HKWM 8/I, 2012, Spalten 244-264

Im ›sozialistischen Lager‹ galt das revolutionäre Kuba einst als »Leuchtturm des Sozialismus auf dem amerikanischen Kontinent« (Honecker 1974). Die KR, deren Wirkung über weltanschauliche und politische Schranken hinweg reichte, faszinierte die Linke weltweit. Der von ihr ausgehende humanistische Impuls, ihre Solidarität mit progressiven Bewegungen und Staaten in aller Welt, nicht zuletzt ihr jahrzehntelanger Widerstand gegen den US-Goliath vervielfachten ihre Strahlkraft. Zugleich werfen Bürokratie, Repression und fehlende Freiheiten ihre Schatten.

Der Verlauf der KR zeigt Möglichkeiten und Grenzen emanzipatorischer Politik einer Staat gewordenen revolutionären Bewegung im Zeitalter des Kalten Krieges und der ihm folgenden neoliberalen Globalisierung. Zu vielen Grundfragen marxistisch inspirierter Politik bot sie praktische Lösungen an, so durch eine kulturelle Revolution, die bisherige Formen von Klassen-, Geschlechter- und Rassenungleichheit zu überwinden suchte. Die von ihr aufgeworfenen Fragen samt der Antworten und widersprüchlichen Ergebnisse verlangen eine historisch-kritische Aufarbeitung.

Angetreten mit dem Anspruch, aus einer diktatorisch regierten, unterentwickelten und US-abhängigen Karibikinsel eine freie, würdige und gerechte Gesellschaft zu machen, hat die KR eine Reihe von Errungenschaften aufzuweisen. So ermöglichte sie den Aufbau des ersten Sozialstaats in Lateinamerika, der sich auch nach dem Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus des 20. Jh. trotz schwerster Einschnitte und durch Marktreformen gewachsene Widersprüche weiter entwickelt hat und, sollte der 2008 begonnene Reformprozess erfolgreich sein, als Brücke zum »Sozialismus des 21. Jh.« in Lateinamerika gesehen werden kann.

Im Gefolge der Reformen, die durch den Zusammenbruch des Sowjetsozialismus erzwungenen wurden, ist auch die Führung der KR mit dem Widerspruch konfrontiert, einerseits Verwertungsbedingungen fürs Kapital zu schaffen, Marktmechanismen und Privatproduktion in begrenztem Maße zu ermöglichen, und andererseits ein hohes Maß an Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit zu erhalten. Im Gegensatz zu China etwa sieht sich Kuba allerdings mit der folgenreichen Last der umfassenden, wenn auch nur noch selektiv praktizierten Blockadepolitik der USA konfrontiert, mit der nach wie vor das Regierungsziel eines Systemwandels auf Kuba verfolgt wird.

1. Wann endet die >Revolution<? Mit dem Sieg der Guerilla und der Flucht des Diktators am 1. Januar 1959? Mit der Ausrufung des sozialistischen Charakters und der Orientierung auf den Aufbau des Kommunismus seit Mai 1961? Mit dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen auf der Insel 1966? Mit der neuen sozialistischen Verfassung 1976? Mit dem Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus 1989? Existiert auf Kuba eine >postrevolutionäre< Gesellschaft und, wenn ja, seit wann? Handelt es sich um eine »unvollendete« Revolution, wie Verlautbarungen der Regierung bis heute behaupten, oder um eine »permanente«, die nicht zur Ruhe kommt? […]

Grob lässt sich zwischen folgenden Phasen und Merkmalen unterscheiden: 1. der politische und militärische Kampf gegen die Diktatur (1953–1958), 2. die reformerisch-antiimperialistische Phase (1959–1961), 3. der »kubanische Entwicklungsweg« (1961–1969): Industrialisierung, Guerilla-Unterstützung (in Afrika bis 1989), »revolutionäre Offensive« (1968), 4. die Institutionalisierung eines kubanischen Sozialismusmodells in sowjetischen Formen (1970–1986): RGW-Mitglied (1972), sozialistische Verfassung (1976), 5. »Rektifikation« (1986–1991): Entbürokratisierung, Re-Mobilisierung, Distanz zu Perestroika, >Re-Lateinamerikanisierung< und schließlich, nach dem Wegfall des Sowjetsozialismus, 6. die offiziell euphemistisch als »Spezialperiode in Friedenszeiten« (ab 1990) bezeichnete Phase der »Neuen Ökonomischen Politik« mit Reform- und Antireformansätzen. Seit dem Rücktritt Fidel Castros 2006 und dem formalen Amtsantritt sei nes Bruders Raúl 2008 zeichnet sich eine offiziell als »Aktualisierung und Perfektionierung des Sozialismus« bezeichnete Phase ab, die geprägt ist von stärkerer Marktorientierung, Privatinitiative und einer Neudefinition von Staat und Partei.

[2. bis 7.] […]

8. Nach 50 Jahren KR, am Lebensabend ihrer historischen Führungsfiguren, behauptet sich das Staats- und Regierungssystem noch immer als »sozialistisch« (R. Castro, 16.4. 2011), wenn auch die wirtschaftlichen Reformen seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus die Widersprüche enorm verschärft und den »Reformbedarf, um die Krise zu managen«, erhöht haben (Espina 2012, 261). Mit einer »Aktualisierung und Perfektionierung des Wirtschaftsmodells« nahm der VI. Parteitag der PCC 2011 eine Neudefinition in Angriff. Hauptziel ist Effizienzsteigerung und Minderung der externen Abhängigkeit, v.a. im Lebensmittel- und Energiebereich. Verkleinerung des Staatssektors, Öffnung der Privatproduktion und des Genossenschaftssektors, Schaffung eines Dienstleistungssektors, größere Rolle des Marktes bei Beibehaltung zentraler Planungsmechanismen sowie mehr Rechtssicherheit – mit diesen Maßnahmen versucht man den Spagat zwischen Plan und Markt. Die Gefa hr des Hegemonieverlusts wurde erkannt und zu mehr Dialog und Selbstkritik aufgerufen. Es gelte, den »Hurra-Formalismus zu beerdigen« sowie »veraltete und sinnentleerte Strukturen, Rituale und Mentalitäten« aufzubrechen (R. Castro, 16.4.2011). […]

Die Linksregierungen Lateinamerikas zu Beginn des 21. Jh. und die Hegemoniekrise der USA trugen mit dazu bei, dass sich die KR von ihrer »Spezialperiode« ansatzweise erholen und die folgenden Krisen zu einer Erneuerung nutzen konnte. Kuba wurde Teil der unabhängig von den USA gegründeten regionalen Organisationen wie UNASUR, ALBA etc. und vermochte weitreichende Wirtschaftsverträge mit lateinamerikanischen und europäischen Staaten sowie Kanada und China abzuschließen, die v.a. Rohstoffe wie Erdöl und Nickel sowie Tourismus und Biotechnologie betreffen. […]

Würde endlich auch die USA-Regierung die Realität anerkennen und ihre Beziehungen normalisieren, könnten sich neue Entwicklungschancen und -risiken für einen Sozialismus des 21. Jh. ergeben.