Kapital – Macht – Staat

Stichworte von Werner Goldschmidt

Um diese Begriffe, die angesichts der Entwicklungen in den USA oder der Corona-Pandemie noch wichtiger erscheinen als vordem, geht es in einem Sammelband, der Beiträge von Werner Goldschmidt, kommentiert von seinen Freunden, zusammenfasst. Der 2019 verstorbene Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg hat nichts ausgelassen, was kontrovers ist in der marxistischen Diskussion: Herrschaft, Diktatur, Gewaltenteilung, Macht und politische Repräsentation, Staatformen und zugleich auch Kapital – Kapitalismus, Klassenkampf und Ware. Das sind die Stichworte, die er lieferte für zwei Wörterbücher des Marxismus: einerseits für die von Hans Jörg Sandkühler initiierte Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften und zum anderen von der Gruppe um Zeitschrift und Verlag Das Argument, also von Wolfgang Fritz Haug und anderen herausgegebene Historisch-Kritische Wörterbuch des Marxismus. Beide in langen Jahren und von viel en Autorinnen und Autoren entwickelte Nachschlagewerke fußen auf der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus. Während der Entstehung der Lexika gingen die Vertreter beider Schulen nicht immer freundlich mitein-ander um, aber Werner Goldschmidt lieferte Artikel für beide Darstellungen marxistischer Theorie. „Nicht meine Kapelle“, wie der trotzkistische Ökonom Ernest Mandel gesagt hätte, aber in Ausführung, Ton und Argumentationslinie so beschaffen, dass sie zum Weiterdenken anregen.

Werner Goldschmidt lernte ich erst relativ spät persönlich kennen, gut vier Jahrzehnte nach seinem fulminanten Aufschlag mit dem Rowohlt-Band Klassenkämpfe in Westeuropa. Wir tauschten Manuskripte seines Literaturberichtes über die Krisentheorie und meines Buches über Karl Marx in Hamburg. Ich solle mein Manuskript ein Jahr liegen lassen, um dann neu daran anzusetzen – meinte Werner damals. In diesem Ratschlag liegt seine ganze Sorgfalt und Bedachtsamkeit beschlossen und zugleich die Verbindlichkeit, die seinen Beiträgen in jeder politischen Kontroverse die äußere Schärfe nahm. Seine Behutsamkeit bedeutete nicht inhaltliche Gleichgültigkeit oder Unschärfe, wie die Lexikonbeiträge in dem rezensierten Band zeigen. Er hat darin die Erfahrung verarbeitet, dass Kontroversen nur zu Erkenntnissen und Weiterentwicklung führen, wenn die jeweiligen Argumente genau vorgetragen, gelassen angehört und weitergedacht werden, immer mit der Möglichkeit, dass auch der andere recht hat.

Diese Zurückhaltung entsprach wohl seiner Lebenserfahrung und politischen Einstellung. Werner Goldschmidt, 1940 in einer Arbeiterfamilie geboren, besuchte die Volksschule, dann die Handelsschule, arbeitete als Buchhalter und holte sein Abitur erst am Saarlandkolleg in Saarbrücken nach. 1964 ging er zum Studium nach Westberlin mitten hinein in die Auseinandersetzung der Studentenbewegung mit seinen Hochschullehrern, darunter Richard Löwenthal. Im Argument-Klub setzte er sich mit der Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus und anderen Deutungen des Kapitalismus auseinander. Nach seinen Arbeiten in der Forschungsgruppe, die zu jener berühmten Veröffentlichung bei rororo über die Klassenkämpfe in Westeuropa, England, Frankreich, Italien führten, bewarb er sich seit Frühjahr 1975 für eine Lehrtätigkeit an der HWP, also der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg, die für Absolventen des zweiten Bildungsweges konzipiert war. Nach lang en Kämpfen gegen ein Berufsverbot konnte er doch Hochschullehrer im Bereich Sozialökonomie werden, nach der Auflösung der HWP im Fachbereich Sozialökonomik der Universität Hamburg.

Die Auswahl der Schlagwörter für die beiden Nachschlagewerke zeigen, dass Werner keine Kontroverse mied, auch wenn er sie sanft ausfocht: Es geht bei den Lexikoneinträgen, die er ganz oder teilweise bearbeitete neben der Sphäre der Ökonomie vor allem um die Sphäre des Politischen, die der Herrschaft.

Beim Lexikoneintrag Herrschaft referiert er beispielsweise prägnant den Stand der marxistischen Theorie und verortet genau andere Denkerinnen und Denker, die vor und nach Marx die entsprechenden philosophischen Felder bearbeitet haben. Das geschieht mit einer Genauigkeit und Einsehbarkeit, die sonst der Beschäftigung mit von vornherein als „bürgerlich“ erkanntenr Soziologen und Philosophen häufig fehlt. Stichworte aus dem Bereich der Politik, des Staates und seiner Funktion in und für die Ökonomie gehen auch auf ein zentrales Problem der nachkapitalistischen Gesellschaften ein: wie denn Sozialismus möglich wäre, was im Realsozialismus schiefgelaufen ist und wie eine politisch-gesellschaftliche Organisation der Produktion künftig beschaffen sein müsste.

Weil Werner Goldschmidt seine Darstellung genau in den Strom der Gedanken der Denkerinnen und Denker vor und nach Marx und Engels einordnet, macht er Fehlstellen sichtbar, die nicht nur Varianten der Theorie des Staatmonopolistischen Kapitalismus haben. Goldschmidts Darlegungen zu Staatsformen, Herrschaft und Macht erklären nicht, welche Funktion der Staat historisch bei der Entstehung und Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise hatte, auf welche Weise er die Konkurrenz zwischen den Kapitalien reguliert und welche besondere Rolle er hat, wenn es um „nachholende Entwicklung“ geht, wenn Gesellschaften dem Druck der billigeren Waren bereits entwickelter kapitalistischer Gesellschaften ausgesetzt sind. Bei der Betrachtung von Staatsorganisation fehlen ebenfalls Aspekte, die als Erklärung für das Scheitern des Realsozialismus durchaus herangezogen werden könnten, nämlich dass Organisationen und Institutionen, Klassen, Herrschaftsgruppen und Schichten durcha us eigene Interessen und Schwergewichte entwickeln, die dem vorgeblichen Hauptzweck ihres Bestrebens widersprechen können. Man kann am Ende durchaus die kapitalistische Produktionsweise reproduzieren, auch wenn man sich sozialistisch nennt.

Dies wären also alles Fragen, die wir gern mit Werner selbst erörtert hätten, auf verbindliche genaue Weise, wie er es liebte, und die allen Beteiligten Erkenntnisgewinn verschafft hätten, die wir nun aus seinen hinterlassenen Texten in diesem Band ziehen müssen.


Werner Goldschmidt, Kapital-Macht-Staat, Stichworte zur marxistischen politischen Theorie

hg. von Wulf D. Hund und Lars LambrechtV, SA: Verlag 2020, 372 Seiten, 29,80 Euro


Detlev Albers/Werner Goldschmidt/Paul Oehlke:

Klassenkämpfe in Westeuropa, England, Frankreich, Italien, Rowohlt Taschenbuch, 1971