Die alltägliche Einschränkung der persönlichen Freiheit

Gespräch mit zwei Aktiven der Gruppe Kölner Erwerbslose in Aktion (KEA) über das System Hartz IV
Lunapark21 – Heft 21

Wenn Hartz IV in den Medien mal Thema ist, dann wird in der Regel über Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, geschrieben. Sie selbst kommen selten zu Wort. Hartz IV-Leute, die sich selbst organisieren, sind in den Medien erst recht eine Randgruppe. Auf den folgenden sechs Seiten soll das anders sein. Der Lunapark21-Gestalter Joachim Römer, der selbst in Köln lebt und arbeitet, führte ein Gespräch mit den „Kölner Erwerbslosen in Aktion – KEA“.

Der Verein KEAs schreibt über sich: „Erwerbslosigkeit ist weder persönliches Schicksal noch schuldhaftes Vergehen der Betroffenen! (…) Im Rahmen der Selbsthilfe wollen wir einen Beitrag dazu leisten, Interessen im Sinne menschlicher Würde (…) zu artikulieren und selbstbewusst nach außen zu vertreten.“

Die Website von KEAs – ein Besuch lohnt! www.die-keas.org – enthält Meldungen und Berichte aus der Hartz-IV-Horror-Welt („JobCenter Spree-Neiße setzt einen an MoRbus Crohn erkrankten Menschen mal eben auf Null“), berichtet über die Ausrichtung und Zurichtung der JobCenter-Beschäftigten („Inge Hermann, JobCenter-Mitarbeiterin in Hamburg (…) fühlt sich dem Grundgesetz verpflichtet (…) und pflegt einen kritischen Internetblog. Geht das überhaupt zusammen? Offenbar nicht. Der Arbeitgeber hatte sie für den 8. März (!) zum persönlichen Gespräch geladen…“). Dokumentiert wird auf der KEAs-Homepage aber auch, dass dieser Kampf gegen Hartz IV auch mit Lust, Leidenschaft und Lebensfreude geführt wird.Um Repressionen auszuschließen, sind die zwei interviewten KEAS-Leute mit „A“ und „B“ anonymisiert.

Wie sind die KEAs – Kölner Erwerbslose in Aktion – entstanden?
A: Unser Ursprung war eine Arbeitslosengruppe beim Kölner Arbeitslosenzentrum. Als Hartz IV eingeführt wurde, sagten wir uns: Jetzt müssen wir etwas tun. Wir sind geschlossen bei ver.di eingetreten. Wir haben den „Kölner Erwerbslosen Anzeiger“* gegründet und angefangen, damit in den Jobcentern zu arbeiten. ver.di ging das zu weit. Wir hatten zunehmend das Gefühl, vor eine Wand zu laufen und haben uns verselbstständigt.

Könnt ihr eure Arbeit beschreiben?
A: Wir existieren seit zehn Jahren. Es ist eine Form von Selbstorganisierung. Wir wollen uns als Organisation nicht verstetigen, nicht in einer Funktionärsgewerkschaft enden. Dafür müssen wir uns immer wieder neu erfinden.
Am Anfang steht die direkte Betroffenheit, ein Schlüsselerlebnis. Ich denke darüber nach, wie ich mich wehren kann. Bis dahin mache ich das mit mir selber aus. Dann suche ich mir Gleichgesinnte, schließe mich einer Gruppe an oder gründe selbst eine – die zweite Phase. Bis hierhin ist das noch nicht zwingend politisch. Wir haben uns die Frage gestellt, ob wir ein antikapitalistisches Selbstverständnis brauchen, und stellten fest: Wir haben es – weil wir die Auseinandersetzung im Jobcenter und mit Hartz IV als eine politische begreifen. Das ist kein Unvermögen einzelner Politiker. Das hat etwas mit Kapitalismus zu tun. Wer nicht antikapitalistisch ist, kann es leicht in der Auseinandersetzung mit Hartz IV werden.

B: Hartz IV ist die Schule der Nation: Wenn du da drinsteckst, lernst du, in was für einem Scheiß-System du lebst.
A: Wir legen großen Wert darauf, organisationsmäßig unabhängig zu sein. Die Partei „Die Linke“ bekennt sich ja noch gegen Hartz IV. Im Moment findet da ein realpolitisches Umschwenken statt. Das hängt mit der kommenden Bundestagswahl zusammen. Wenn sie irgendwann rot-rot-grün mitregieren wollen, geht das nicht gegen Hartz IV. Für uns als Teil einer sozialen Bewegung ist das keine Option. Wenn Leute bei der Linken eintreten, weil sie Politik machen wollen, sollen sie das machen. Wenn sie sich für die Erwerbslosen einsetzen und dabei kommen monatlich 40 Euro mehr für uns raus: auch gut. Aber das ist nicht die Vision, die sich in einer sozialen Bewegung äußern sollte. Soziale Bewegungen sind tot, wenn sich alles, was sich außerparlamentarisch bewegt, bei der Linken einreiht. Eine Partei darf sich den Output von Bewegungen zu eigen machen, aber umgekehrt müssen soziale Bewegungen da ganz vorsichtig sein.

Zu unserm konkreten Engagement: Das verläuft auf vier Schienen. Erstens die Widerständigkeit in Form eines positiven Aktionismus. Wir gehen bewusst in die Konflikte rein, suchen die Konflikte und intervenieren dort, wo die Konflikte brodeln, im Jobcenter – Kölner Erwerbslose in Aktion eben. Wir lassen uns ungern agitieren im Sinne von: Geht doch nach Berlin, wo die Politik gemacht wird.

Die zweite Schiene: Wir wollen uns bilden. Das ist individuell für jede und jeden von uns wichtig, aber auch für unsere Öffentlichkeitsarbeit und die Unterstützung von anderen Betroffenen. Dokumentation, Analyse, Information – wir haben eine eigene Hompage (www.die-keas.org) und geben den Kölner Erwerbslosen Anzeiger heraus.

Die dritte Schiene ist die Beratung von anderen Betroffenen. Damit bewegen wir uns in einem Widerspruch, weil wir eine Dienstleistung anbieten, jenseits von Selbstorganisierung.

Während eurer Beratungszeiten kann man sich wie auf einem verlängerten Flur des Jobcenters fühlen…
A: Wir nehmen diesen Widerspruch hin, versuchen aber Ideen zu entwickeln, ihn abzumildern. Ganz auflösen können wir ihn nicht. Mit der Beratung verbinden wir u.a. den Wunsch, durch den Kontakt mit anderen Betroffenen mehr zu werden.
B: Es gibt einige, die als Ratsuchende zu uns gekommen sind und heute als Beratende wirken und auch bei unseren Aktionen dabei sind. Das sind Leute, die vorher nicht im linken Spektrum aktiv waren.

Wir kämpfen. Somit geht es uns auch gut.

A: Es fehlt noch unsere vierte Schiene: In den letzten Jahren ist für uns wichtig geworden, dass es uns trotz Erwerbslosigkeit gut geht – aufgrund der Tatsache, dass wir selbstorganisiert sind. Wir besetzen selbst zunehmend eine sozio-kulturelle Ebene, z.B. mit unserer unregelmäßig stattfindenden „KEAs und Freunde Party“. Wir brauchen Entspannungsmomente. Unser Wirken hat ja mit Kampf zu tun. Das ist auch erschöpfend. Keiner von uns kann es sich leisten, Kultur oder Kunst zu konsumieren. Wir versuchen, für uns etwas zu schaffen.

Könnt ihr die erste Schiene beschreiben – Widerstandsaktionen?
A: Da sind z.B. die Zahltage. Damit ist der ersten Werktag im Monat gemeint, an dem die Leute ihr Geld bekommen.
B: Oder eben nicht…
A: …durch Computerfehler, Fehlberechnungen, aus Schikane oder als Sanktion. An diesem Tag ist das Jobcenter besonders voll. Es herrscht eine gereizte Stimmung. Es geschieht viel von Seiten des Jobcenters, was nicht erklärbar ist und auch nicht erklärbar sein soll. Wir treten an den Tagen als entscheidende und entschiedene Masse auf, um den Betroffenen Hilfe anzubieten – auch als Ausdruck unseres Protestes.

Etwa so: Ich bin an dem Tag beim Jobcenter, die haben mir kein Geld ausgezahlt und ich spreche euch an…
A: … und wir gehen mit dir zum Sachbearbeiter und gehen nicht eher weg, bis du dein Geld hast. Diese Aktionsform haben wir vor Jahren hier in Köln gemeinsam mit anderen Gruppen entwickelt. Beim Zahltag spielt ein militanter Moment eine Rolle. Wir überschreiten die gegen uns gemachten Regeln. Wir hoffen, dass dadurch auch die nicht Selbstorganisierten Mut bekommen, sich mit anderen zusammenzutun. Wir schaffen es mit den Zahltagaktionen ganz gut, exemplarisch die Vereinzelung aufzubrechen. Wir haben meist Kaffee und was zu essen dabei. Über die direkten Interventionen hinaus kommen Betroffene miteinander ins Gespräch.

Wir lehnen die Opferhaltung ab. Wir haben unsere Würde nie verloren. Wir kämpfen, wir empören uns. Hartz IV ist ja auch Drohpotenzial gegenüber allen, die arbeiten. Lohnkürzungen, die Durchsetzung von schlechteren Arbeitsbedingungen – das hat viel mit Hartz IV zu tun. Die Auseinandersetzung suchen, ist für uns nicht beschränkt auf Hartz IV. Studiengebühren, Rentenkürzungen, Probleme im Ausländeramt, Auseinandersetzungen um Miete und Wohnung, Stromabschaltungen: Wir suchen die Schnittstellen zu anderen sozialen Auseinandersetzungen.

Es geht um „die Wirtschaft“
„BILD“: Wäre Deutschland ohne die Agenda in Not geraten?
Schröder: Die Gefahr bestand. (…) (Wir) mussten die sozialen Sicherungssysteme verändern. (…) Wir mussten die Wirtschaft wettbewerbsfähig machen. Arbeitsplätze gibt es nur, wenn wir unsere Produkte auch exportieren können. (…) Wir haben für eine neue Balance zwischen persönlicher Verantwortlichkeit für das eigene Leben und der Hilfe des Staates gesorgt. Jeder hat das für ihn Mögliche zu tun.“ Gerhard Schröder am 11.3.2013 in „Bild“
„Die größten Veränderungen traten aber nicht bei den Arbeitslosen selbst ein, sondern bei den Beschäftigten. Der Anspruchslohn hat sich verschoben. Die Menschen nehmen heute aus Angst vor Hartz IV auch schlechter bezahlte Jobs an.“ Professor Jobst Fiedler, 2002 Mitglied in der Hartz-Kommission, hier nach: Wirtschaftswoche vom 13.8.2012

Z.B. auch die Demo belgischer Ford-Arbeiter hier am Ford-Werk gegen die Schließung des Werkes in Genk?
A: Ja klar, da waren einige von uns. Das Beispiel Ford – Automobilproduktion – ist nicht unproblematisch: Inwieweit ist es sinnvoll, sich für eine Fortführung der Autoproduktion einzusetzen? Das hat ja auch etwas mit Ausbeutung zu tun. Wir haben seit einiger Zeit eine Auseinandersetzung beim Thema Schlecker. Die Schlecker-Frauen haben unsere Solidarität! Aber uns daran zu beteiligen, wie die möglichst schnell wieder in diesen Ausbeutungsprozess überführt werden können, ist meiner Meinung nach der falsche Ansatz. Dazu müsste es einen anderen Diskussionsprozess geben.

Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Produktion, von Arbeit und den konkreten Arbeitsbedingungen…
B: Genau. Für uns sind diese Themen natürlich zentral im Zusammenhang mit den Maßnahmen, die von den Jobcentern aufgedrückt werden. Die zwingen ständig Menschen in Maßnahmen mit dem Label „Ökologie“, nur, um sie aus der Statistik zu bekommen. Da gibt es auch Maßnahmenträger, die betreiben gleichzeitig eine gemeinnützige Gesellschaft und eine kommerzielle. Da wird reguläre Arbeit mit Ein-Euro-Jobbern durchgeführt. Das ist nicht zulässig, wird aber gemacht.

Wie geht das Jobcenter mit den Hartz IV-Beziehenden um?
A: Du kannst nie sicher sein, das dir gesetzlich Zustehende ohne Auseinandersetzung mit dem Jobcenter zu kriegen.

Umzugsnotwendigkeitsbescheinigung & Einstehensgemeinschaft

B: Wenn du auf Hartz IV angewiesen bist, erfährst du eine alltägliche Einschränkung der persönlichen Freiheit. Stichwort Ortsabwesenheit: Laut Sozialgesetzgebung musst du dich jedes Mal beim Jobcenter abmelden, wenn du den Wohnort verlassen willst. Oder Urlaub: Du musst fünf Tage, bevor du in Urlaub fährst, beim Jobcenter fragen, ob du Urlaub machen darfst. Die Möglichkeit, eine preiswerte Fahrkarte zu bekommen, ist dann schon stark eingeschränkt. Wenn du, weil es günstiger ist, schon gebucht hast, sagen die: Nein, das geht nicht, ich habe eine Maßnahme für Sie. Wir haben ständig Fälle von Menschen, die aus Afrika stammen. Da werden Verwandte krank und die wollen dringend zu den Verwandten. Das Jobcenter sagt: Nein! Die Betroffenen fahren trotzdem und werden sanktioniert.
A: Ein Umzug in eine andere Stadt geht nur unter den vom Jobcenter diktierten Bedingungen. Wenn ich Leistungen annehme, unterwerfe ich mich den Bedingungen des Jobcenters. Wenn ich den Umzug finanziert haben will, und am neuen Ort übergangslos Leistungen beziehen will, brauche ich eine Umzugsnotwendigkeitsbescheinigung. Ein Kriterium, diese zu erhalten, wäre ein bezahlter Job am neuen Ort.
Wenn du zu einer neuen Partnerin oder einem neuen Partner in eine andere Stadt umziehst, wird das als Grund nicht anerkannt. Die meisten ziehen trotzdem um, bekommen den Umzug vom Jobcenter nicht finanziert, fallen aus Hartz IV am alten Ort raus und starten am neuen Ort damit, um ihre Leistungen zu kämpfen.
B: Wenn dein Partner/ deine Partnerin berufstätig ist, hast du ein Problem…
A: …damit sind wir bei der „Bedarfsgemeinschaft“: Wenn du auf Harz IV „rutschst“, hast du ja als erstes das Problem, mit viel weniger Geld auskommen zu müssen. Du wirst erpressbar. Hinzu kommt, dass die Jobcenter unverheiratet Zusammenlebende automatisch wie Verheiratete behandeln. Das nennt sich Einstehensgemeinschaft, die erst vermutet und dann unterstellt wird…
B: …und durch einen Hausbesuch kontrolliert wird.
A: Ich muss denen das Gegenteil beweisen, z.B. durch getrennte Fächer im Kühlschrank und ähnliches. Zur Überprüfung darf das Jobcenter als letztes Mittel einen Hausbesuch bei dir durchführen.

Und wenn du sie nicht rein lässt?
A: Die Gerichte sagen: Wenn das Jobcenter nach „Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten“ nur durch einen Hausbesuch die Frage Einstehensgemeinschaft klären kann, muss ich die Kontrolleure rein lassen. Ich kann mich auf das Grundgesetz berufen und sie nicht rein lassen, aber dann muss der Staat mir keine Leistung geben. Das Jobcenter zwingt viele Menschen durch Nichtgewährung von Leistungen wegen einer behaupteten Einstehensgemeinschaft in ökonomische Abhängigkeit von ihren Partnern oder Partnerinnen.

Inwieweit steckt hinter den Jobcenter-„Pannen“ ein System?
B: Wir hatten den Fall einer Frau, die die Wohnung gekündigt bekam, weil das Jobcenter zwei Monate lang keine Miete mehr an den Vermieter überwiesen hatte. Die Frau konnte nichts dafür. Irgendein Fehler im System führte zum Stopp der Mietzahlung. Die Frau hat über einen unserer Anwälte eine einstweilige Anordnung beim Sozialgericht gemacht und wird damit auch durchkommen.
Oder eine über 60-jährige jüdische Aussiedlerin aus Russland: Die wollte das Jobcenter zwingen, ihre Mutter nicht weiter zu pflegen, damit sie „dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung“ steht.
Oder eine Frau mit vier Kindern, auf die das Jobcenter massiv Druck ausübt, ihre Kinder in eine Kita zu geben, damit sie arbeiten kann. Sie hat keine Ausbildung. Selbst wenn sie einen Job fände, könnte sie davon sich und ihre Kinder nicht durchbringen – einmal abgesehen davon, dass vier Kinder großzuziehen ein Vollzeitjob ist. Oder: Da gibt es studierte Germanisten, die sie in einen Deutschkurs schicken. IT-Fachkräfte, denen sie eine Maßnahme zur Erlangung von PC-Grundkenntnissen aufdrücken. Solche Fälle gibt es ständig.
A: Das hat unserer Erfahrung nach System, das ist mehr als die in Großsystemen normale Fehlerquote. Das gehört zu dem Klima der Verunsicherung, des Angst Schürens.

Anleihen bei Gestus und Sprache der NSDAP
Am 16. August 2002 präsentierten Kanzler Gerhard Schröder und der VW-Konzernvorstand Peter Hartz die Hartz-Arbeitsmarkt-Reform, offiziell „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“. Der Ort war monströs: unter der Kuppel des Französischen Doms in Berlin. Peter Hartz äußert dort: „Wir haben nach dem Krieg Deutschland aufgebaut. Wir haben die Wiedervereinigung geschafft – jetzt das Arbeitslosenproblem. Das ist ein schöner Tag für die Arbeitslosen in Deutschland.“
2005 schrieb Peter Hartz im „Zeit Magazin“: „Ich habe einen Traum. Es träumt mir, ich sei Alleinherrscher (…) der aber plötzlich konfrontiert ist mit einem gigantischen Problem, dem der fünf Millionen arbeitslosen Untertanen.“ Uneingeschränkt und „ohne Kompromisse“ müssten die Ideen des Alleinherrschers umgesetzt werden – dann könnte man „das Problem Arbeitslosigkeit lösen“.
Peter Hartz, der heute mit Büro, VW-Limousine und Chauffeur im Saarland lebt, propagiert inzwischen das Modell „Minipreneure“. Danach sollen „Selbsthilfegruppen aus je 20 Arbeitslosen gemeinsam Geschäftsideen“ verwirklichen. Die „Seele des Konzepts“ sei dabei „ein A-Trainer, am besten ein ehemaliger Arbeitsloser.“ Ziel sei es, „das Modell auf alle erwerbsfähigen Arbeitslosen auszudehnen. Wir liefern den totalen Arbeitsmarkt.“ Quelle: Zeit Magazin 41/2011 und 12/2005.
Für flächendeckende Korruption vorbestrafter Namensgeber
Peter Hartz war in den 1980er Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Management großer Konzerne (u.a. Dillinger Hütte) tätig. 1993 wurde er vom damaligen VW-Vorstandsvorsitzenden Ferdinand Piech in den Konzernvorstand geholt. Er war dort am Ende u.a. für das Südamerika-Geschäft von VW verantwortlich. Sein erstes großes Projekt bei VW war die Gründung eines ausgegliederten Konzernteils, in dem 5000 neu eingestellte Beschäftigte zu 5000 DM brutto arbeiteten. Die Löhne lagen damit deutlich unterhalb des Konzern-Haustarifs. Kurz darauf wurde bei VW ein umfassendes System zur Korruption des Konzernbetriebsrats mittels Geldzahlungen und Luxusreisen eingeführt. Allein an den Betriebsratsvorsitzenden Klaus Volkert flossen zwischen 1995 und 2005 zwei Millionen Euro als „Sonderbonus“; an dessen brasilianische Geliebte weitere 400000 Euro.
Der Schmiergeldskandal flog 2006 auf. Der Prozess gegen Peter Hartz Anfang 2007 dauerte nur zwei Tage. Infolge des „vollumfänglichen Geständnisses“ von Peter Hartz konnte „auf die Vernehmung weiterer Zeugen verzichtet“ werden. Hartz drohten zunächst 15 Jahre Gefängnis; er wurde dann nur zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung und zu einer Geldstrafe von 576000 Euro verurteilt. Hartz übernahm die gesamte Verantwortung für das Korruptionssystem. Er gab an, der übrige Vorstand habe von all dem keine Kenntnis gehabt.

B: Das Drangsalieren fängt ja schon beim Stellen des Erstantrags auf ALG II an. Du wirst aufgefordert, einen Riesenwust von Unterlagen beizuschaffen – auch von Sachen, die sie gar nicht abfragen dürfen. Wenn du z.B. erwähnst, dass deine Mutter eine Eigentumswohnung hat, wollen die Unterlagen darüber, obwohl deine Mutter nichts mit deinem ALG II-Antrag zu tun hat. Wenn du Pech hast, wollen sie zu jeder zweiten Frage des ca. 50-seitigen Antragformulars Bescheinigungen haben.
Jeder Mensch, der beim Jobcenter einen Antrag stellt, ist in deren Augen ein potenzieller Betrüger. Gegenüber jungen Menschen unter 25 ist das ganz krass. Die schicken sie oft sofort in eine Maßnahme. Die dürfen dann für 80 Cent in der Stunde in einer Küche rumstehen und Kartoffeln schälen.
A: Dieses jeden Job annehmen zu müssen, um aus ALG II rauszukommen, wird sehr weit ausgelegt. Man wird in die Zeitarbeit getrieben und in Trainingsmaßnahmen mit der Behauptung, das wäre für deine Arbeitsbiografie wertvoll. Es geht aber nur darum, dich aus der Statistik zu bekommen und dich zu zwingen, deine Ansprüche immer weiter zurück zu fahren. Du bist irgendwann so genervt vom Jobcenter – und das ist genauso gewollt – dass du bereit bist, jeden Drecksjob anzunehmen…

Wieviele Selbstmorde gab es wegen Hartz IV?

B: …oder du verfällst in Depression oder gehst in den Rhein. Das wäre eine spannende Frage: Wieviele Leute sich seit Einführung von Hartz IV im Zusammenhang damit umgebracht haben.
A: Dazu gibt es keine Statistiken. Einzelne Internetportale versuchen Selbstmordfälle mit Verbindung zu Hart IV zusammenzufassen.
B: Mit Leuten, die in die Depression getrieben werden durch die permanente Unsicherheit und die damit verbundene Angst, haben wir oft zu tun. Viele werden ein Fall für die Sozialhilfe. Auch das geht nicht so einfach. Die werden erst mal durch zig Maßnahmen wie „Leistungsdiagnostik“ getrieben. Da wird geprüft, wie viele Stunden sie noch stehen und arbeiten können. Selbst Menschen mit 60 Prozent Schwerbehinderung kommen aus solchen Maßnahmen mit der Diagnose „acht Stunden arbeitsfähig“ heraus.

Werden Menschen auch krank, die sich als Erwerbslose auf dem Abstellgleis fühlen?
A: Das ist sehr verbreitet. Viele leiden unter großen Schamgefühlen wegen ihrer Erwerbslosigkeit. Die versuchen alles, damit Nachbarn und Verwandte nicht mitbekommen, dass sie Hartz IV beziehen. Eine der ersten heiklen Fragen: Wie sag ich es meinem Vermieter? Beim Erstantrag will das Jobcenter eine Mietbescheinigung. Es gibt viele, die aus Scham gar nicht erst Leistungen beantragen.
B: Ich glaube, das, was mehr Menschen krank macht als das Sich-nutzlos-fühlen, ist die Schikane durch die Jobcenter: Dieses um jedes Fitzelchen Kämpfenmüssen, das individuell Schikaniertwerden durch Sachbearbeiter…
Gibt es unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jobcenter welche, die sich anders verhalten?
A: Einige gebärden sich anders als die meisten. Manche sind gewerkschaftlich organisiert. Aber die haben kaum Spielraum. Die Teams im Jobcenter stehen untereinander in einem Ranking. Wenn sich die Rate der verhängten Sanktionen von Team zu Team gravierend unterscheidet, wird nachgebohrt.
Es gibt dieses Spiel, das bei internen Mitarbeiterschulungen gespielt wird. Darin geht es darum, bei vorgegebenen Fallbeispielen alle Möglichkeiten für Sanktionen herauszufinden. Gewonnen hat der Sachbearbeiter oder die Sachbearbeiterin, der oder die alle Sanktionsoptionen erkannt hat.
B: Ich habe auch schon in Büros im Jobcenter große ver.di-Plakate gesehen. Ich dachte: „Schön, ein Kollege.“ Der hat sich dann aber genauso verhalten wie alle anderen.
A: Diejenigen, die sich im Jobcenter gewerkschaftlich organisieren, tun das wegen ihrer eigenen Betroffenheit. Viele haben auf zwei Jahre befristete Verträge. Die haben ja sogar schon mal gestreikt.
B: Aufgrund des enormen Drucks ist der Krankenstand sehr hoch. Die Fälle häufen sich, dass Jobcenterbeschäftigte kündigen, in Depressionen verfallen oder versuchen, aus dem direkten Kontakt mit den Betroffenen rauszukommen.
A: Wir kriegen aber ab und zu interne Informationen von Mitarbeitern gesteckt, anonym, als Whistleblowing.
B: Insgesamt sehe ich in Bezug auf ver.di hier in Köln auf absehbare Zeit eher schwarz.
A: Wir arbeiten uns daran nicht mehr ab. Beim Ringen mit den erstarrten Strukturen einer solchen Großorganisation verlierst du viel Energie, die dir dann für die direkte Arbeit vor Ort fehlt. Das ist bei der Programmatik der Gewerkschaften ein nicht zu überbrückender Widerspruch: Einerseits kämpfen sie um die verbliebenen nicht prekären Vollzeitstellen. Andererseits verlangt die Situation eine Öffnung in Richtung prekär Beschäftigte und Erwerbslose.

Leute, die in Einrichtungen mit Ein-Euro-Jobbern arbeiten, behaupten, viele Betroffene seien froh, einen geregelten Tagesablauf zu haben.
A: Das gibt es. Vielen fällt zu Hause die Decke auf den Kopf, wenn sie aus der Beschäftigung fallen. Die schaffen es nicht, sich eine sinnvolle Beschäftigung zu suchen. Die sind froh, wenn sie die in irgendeiner Form geboten kriegen. Ich kann mir eine Zeitung kaufen und sitze mit dieser Zeitung in der Straßenbahn und bin integriert in die, die zur Arbeit fahren. Ich darf dazugehören zu den Arbeitenden. Dieses Arbeitsethos ist ja tief verwurzelt.
B: Man kann ja Freunden und Nachbarn sagen, ich arbeite ja, ich bin ja nicht arbeitsscheu.
A: Der Ein-Euro-Jobber ist besser angesehen als der, der gar nichts macht. Schon die beiden Gruppen haben Schwierigkeiten, sich wechselseitig zu solidarisieren. Das gehört zum gelungenen Coup von Hartz IV dazu. Das ist politische Absicht.
Unsere Situation ist heute grundverschieden von derjenigen, die es bei Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 gab. Damals kam das auf eine große Gruppe von Menschen zu; ein Teil hat sich zur Wehr gesetzt. Die Montagsdemos waren ja mal richtig groß. Jetzt ist Hartz IV durchgesetzt und wir haben es oft mit einer Generation von Jüngeren zu tun, die gar nichts anderes mehr erlebt haben. Wenn wir denen jetzt sagen: „Weg mit Hartz IV“, dann denken die, wir wollten sie auf Null setzen. Heutzutage musst du das erklären. Die haben die Erfahrung nicht mehr, dass das mal ein klein wenig gerechter organisiert war und vor allem für die Betroffenen lange nicht so stressig und so bedrohlich war.

Noch einmal zurück zu Solidarität, soziale Bewegung…
A: Unser Verständnis von Solidarität geht ungefähr so: Wer hilflos ist und sich nicht wehren kann, verdient unsere Solidarität. Wir beziehen uns insbesondere auf die Unterdrückten und Ausgebeuteten, die bereits kämpfen. Damit können wir unser Verständnis von sozialer Bewegung, von sozialen Kämpfen zusammenfassen: Häuserkämpfe in Berlin, antirassistische Kämpfe in Dessau, Erwerbslosenkämpfe in Köln. Da finden real Auseinandersetzungen statt für soziale Gerechtigkeit. Wenn ich all das mental zusammenführe, ist das die soziale Bewegung, zu der ich gehören möchte. Nicht das Konstrukt einer Funktionärsbewegung, sondern eine authentische Bewegung derer, die kämpfen, die die alltäglichen Auseinandersetzungen führen.

Teuer für die Steuerzahler, wertvoll für die Bosse

In der Regel wird Hartz IV damit erklärt, dass die Kosten für das klassische soziale Netz, wie dieses bis 2004 existierte, aus dem Ruder gelaufen seien. Um diese einzudämmen, hätte das rot-grüne Kabinett unter Gerhard Schröder und Josef Fischer die Notbremse gezogen.
Das trifft nicht zu. 2004, im letzten Jahr vor Einführung von Hartz IV, mussten der Bund und die Kommunen für die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen rund 38 Milliarden Euro aufbringen. Nach Zusammenlegung der beiden Leistungen zum „Arbeitslosengeld II“ wuchs der finanzielle Aufwand auf 45 Milliarden Euro 2005. Hinzu kommen noch knapp 20 Milliarden Euro Grundsicherung für Rentner, Kranke und Behinderte, die nicht erwerbsfähig sind. Selbst 2011, nach einem deutlichen und allerorten gefeierten Rückgang der offiziellen Arbeitslosenzahl, wandten der Bund und die Kommunen allein für ALGII 42 Milliarden Euro auf. Fast jeder dritte Euro im Hartz-IV-System wird dafür ausgegeben, niedrige Löhne auf ein Mindestniveau anzuheben. Das heißt, die Steuerzahler übernehmen einen Teil der Lohnkosten der Unternehmen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt am 15. August 2012 einigermaßen offen: „Ein Beitrag zur Haushaltskonsolidierung war die Reform entgegen früherer Verheißungen nie.“

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