Glasgow-Effekt

Der Roman „Shuggie Bain“

Die 20 Stockwerke aufragenden Wohnhäuser im Glasgower Stadtteil Sighthill sind längst abgerissen. Erbaut in den 1960er Jahren, büßten sie schon bald an Attraktivität ein und verkamen zu Slums wie so viele Komplexe des damaligen modernen Wohnungsbaus, nicht nur in Großbritannien.

In so einer Hochhauswohnung lebt in Douglas Stuarts Roman der fünfjährige Shuggie zusammen mit seinen Großeltern, Eltern und den zwei älteren Halbgeschwistern aus erster Ehe seiner Mutter Agnes. Auf jeder Etage gibt es am Ende des Flurs eine Gemeinschaftswaschküche. Dorthin flüchtet sich manchmal Shuggie, streckt die Beine durch die Lüftungsschlitze im Mauerwerk und genießt Einsamkeit und Ruhe beim Anblick der Menschen und der Stadt weit unten.

„Shuggie Bain“ ist ein Bildungsroman, der in den 1980er Jahren spielt, in der Thatcher-Ära, als Kohleminen, Stahlwerke und Werften in und um Glasgow endgültig dicht machten, und große Teile der Bevölkerung in Arbeitslosigkeit und Armut stürzten. Alkoholismus und Erkrankungen ließen die Lebenserwartung bald auf weit unter 60 Jahre sinken, eine Auswirkung von Deindustrialisierung auch in anderen Regionen, die in der Medizin als Glasgow-Effekt bezeichnet wird.

Agnes ist eine wirkliche Schönheit, findet aber weder den passenden Rahmen für sich, noch den passenden Mann, verfällt dem Alkohol und hat in ihrem Jüngsten ihren einzigen und wahren Beschützer, der sie aber am Ende auch nicht retten kann.

Shuggies Vater schlägt sich mit Nachtschichten als Taxifahrer durch. Es gelingt ihm, eine Sozialwohnung zu bekommen, so dass er mit seiner Familie bei den Schwiegereltern ausziehen kann. Was als großes Glück erscheint, entpuppt sich als karge Unterkunft in einer ehemaligen Bergmannssiedlung am Rand einer stillgelegten Zeche, ein Elendsquartier voller Kohlenstaub und zänkischer Nachbarschaft. Ihr Mann setzt Agnes und die drei Kinder dort am hintersten Ende der Stadt ab und macht sich davon.

Douglas Stuart gelingt das Kunststück, die soziale Katastrophe so ergreifend und zugleich heiter zu erzählen, dass man der tragischen Geschichte fasziniert und anstrengungslos folgt. Der Autor weiß, wovon er schreibt, und er weiß mit Worten und Sprachbildern umzugehen, was auch die deutsche Übersetzung trägt.

„Er führt uns zahllose Beispiele monströsen Verhaltens vor, aber kein einziges Monster – nur Beschädigung. Er hat ein genaues Auge für Gebrochenheit, aber ein noch schärferes für das unauslöschliche Aufflackern verbliebener Liebe“, bemerkte die New York Times.

Stuart zeigt uns nicht nur die Gebrochenheit von Individuen, sondern auch die Gebrochenheit einer Klasse, die mit ihrer wirtschaftlichen auch ihre soziale Basis verloren hat und zu gemeinschaftlicher Auflehnung nicht mehr fähig ist. Bereits ein Jahr vor Beginn des großen Streiks der britischen Bergarbeiter 1984, der mit der Niederlage der National Union of Miners endete, war mit der Cardowan Colliery die letzte Grube in Glasgow geschlossen worden.

„Shuggie Bain“ ist Stuarts erster Roman und gewann sogleich den renommiertesten britischen Literaturpreis, den Booker Prize – und natürlich auch den Preis für den besten Debutroman, ausgelobt vom britischen Buchhandel. Weitere Preise und Nominierungen kamen hinzu. Die Qualität des Werks scheint sämtliche Jurys überzeugt zu haben. Um so erstaunlicher, dass das Manuskript von rund 30 Verlagen abgelehnt worden war, bevor die New Yorker Grove Press es im Februar 2020 veröffentlichte. Die deutsche Ausgabe erschien im August dieses Jahres bei Hanser.