Aus: LunaPark21 – Heft 17
In Deutschland haben sich die sogenannten Arbeitnehmer auf einen späteren Beginn der Altersrente einzurichten. Das Einstiegsalter wird ab Januar 2012 sukzessive auf 67 Jahre angehoben. Und ob es dabei bleibt, ist keineswegs sicher; es ist auch schon von 69 und 70 Jahren die Rede. Die EU-Kommission hat sogar vorgeschlagen, das Rentenalter völlig zu „flexibilisieren“, nämlich von der Lebenserwartung der Menschen abhängig zu machen.
Ganz auf dieser Linie erklärte der Direktor des Max-Planck-Instituts für demographische Forschung: Weil die Lebenserwartung in Europa bis 2050 um zehn Jahre steigt, muss die Hälfte der „geschenkten Zeit“ länger gearbeitet bzw. das Renteneintrittsalter um fünf Jahre angehoben, somit bis zur Vollendung des 72. Lebensjahrs gearbeitet werden.
Die von Politik und Pseudowissenschaft bereitgestellte Begründung für die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist stets dieselbe: Die Menschen werden älter, beziehen länger Rente, und deshalb müsse die Lebensarbeitszeit verlängert und damit die (voraussichtliche) Rentenbezugsdauer gekürzt werden; anderenfalls müssten die Rentenbeiträge der (noch) Arbeitenden erhöht oder die Renten selbst gekürzt werden. Mit dem Schlagwort „Generationengerechtigkeit“ wird den Angehörigen der jüngeren Generationen weisgemacht, dass sie sonst immer mehr für „die Alten“ arbeiten müssen und daher selber immer weniger verdienen dürfen. (In dieselbe Richtung geht auch die Überlegung, dass teure Medikamente und kostspielige Operationen von den gesetzlichen Krankenkassen für „Alte“ nicht mehr bezahlt werden sollen; die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen.)
Der erste Fehler in dieser Argumentation ist, dass mit nur zwei Generationen gerechnet wird. Die Generation der Erwerbstätigen hat aber durch ihre Arbeit schon immer, und nicht erst seit gestern, den Lebensunterhalt für drei Generationen zu sichern gehabt: Nicht nur für die eigene, sondern auch für die ältere, die schon aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist, aber genauso für die jüngere, die noch nicht in das Erwerbsleben eingetreten ist.
Die Betrachtung des Verhältnisses von Gesamtbevölkerung (alle drei Generationen) und Erwerbsbevölkerung (jeweils in Millionen) zeigt nach der amtlichen Statistik für die vergangenen hundert Jahre in Deutschland folgende Entwicklung:
Es ist also keineswegs so, dass die Erwerbstätigengeneration in Deutschland heute mehr für jene Bevölkerungsteile zu arbeiten hat, die nicht mehr bzw. noch nicht arbeiten. Grob gerechnet, muss seit hundert Jahren jede erwerbstätige Person eine weitere Person miternähren, entweder eine ältere (nicht mehr erwerbstätige) oder eine jüngere (noch nicht erwerbstätige). An diesem Resultat dürfte auch die Tatsache nicht viel ändern, dass zu den nicht Erwerbstätigen all jene gerechnet werden, die laut amtlicher Statistik zu den Selbständigen zählen, also Bauern, Handwerker, Freiberufler, Privatbanker usw.
Genauer betrachtet, zeigt sich: Selbst wenn im Jahre 2012 drei Millionen Erwachsene von heute auf morgen aus dem Erwerbsleben ausscheiden würden, wäre das Verhältnis G : E mit 2,189 immer noch etwas kleiner als vor hundert Jahren. Und nur im durchmilitarisierten „Großdeutschland“ von 1939, in dem es Arbeitsdienstpflicht und eine rigide Verfolgung von „Asozialen“ gab, war das Verhältnis noch ein bißchen besser als heute. Deshalb wohl planen einige „unserer“ Politikerinnen und Politiker eine parlamentarisch-demokratische Variante dieser Verhältnisse, bekämpfen die „Sozialschmarotzer“ und den angeblichen Sozialbetrug der Ärmsten, zwingen Arbeitslose in Ein-Euro-Jobs usw.
Andere wollen nicht nur zurück in die Jahre kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als das Renteneintrittsalter für industrielle „Arbeitnehmer“ in Deutschland, Frankreich und England noch bei siebzig Jahren lag, sondern noch viel weiter zurück gehen. Das ist der Fortschritt, der in dieser Gesellschaft bekanntlich immer zwei Seiten hat, zumeist eine gute für die Besitzenden und eine schlechte für die „Habenichtse“.
Und damit komme ich zu dem zweiten und viel schwerer wiegenden Fehler in der Argumentation; sie berücksichtigt in gar keiner Weise, in welch beträchtlichem Maße die Produktivität (präziser: die Arbeitsleistung) der Erwerbstätigen in den vergangenen hundert Jahren gestiegen ist. Dies zeigt schon eine einfache Modellrechnung:
Wenn die Beschäftigten doppelt so viel produzierten wie vorher, dann könnten von diesem Produkt bei gleichem Lebensstandard doppelt so viele Personen ernährt werden, also bei gleichbleibender Beschäftigtenzahl statt einer unbeschäftigten Person sogar drei. Allerdings hätten in diesem Fall die Erwerbstätigen überhaupt nichts von der Leistungssteigerung, was sicherlich nicht in ihrem Sinne wäre. Angenommen, sie würden ein Viertel mehr bekommen von dem nun doppelt so großen Kuchen, dann könnte ein Erwerbstätiger zwar nicht mehr drei, aber doch 2,2 nicht Erwerbstätige ernähren, wobei vorausgesetzt ist, dass alle Beteiligten im Sinne der Generationengerechtigkeit gleich viel mehr bekommen. Steigt aber die Zahl der nicht Erwerbstätigen nur auf 1,1 und der Lohn weiterhin um ein Viertel, so hat jede/r nicht Erwerbstätige sogar das Doppelte des ursprünglichen Einkommens zur Verfügung. Im System ist eine solche Steigerung zwar weder für die ältere noch für die jüngere Generation vorgesehen oder gar Realität geworden, wohl aber für die sogenannten Arbeitgeber, deren Unternehmergewinne genau deshalb so „wunderbar“ gestiegen sind.
Aber was hat diese simple Modellrechnung mit der Realität zu tun? Nicht sehr viel, denn in den vergangenen hundert Jahren hat sich die Arbeitsleistung – sehr unzureichend gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung – nicht verdoppelt und auch nicht verdreifacht, sie ist auf mehr als das Sechsfache gestiegen:
Die Daten sind deshalb so unzureichend, weil das Bruttoinlandsprodukt erstens eine Einkommensgröße ist, auch wenn der Name anderes suggeriert, und weil zweitens in diese Größe Einkommen aller Art eingehen, die Löhne und Gehälter der Erwerbstätigen ebenso wie die Einkommen der kleinen Selbständigen, von der „freien“ Journalistin bis zum Bäckermeister, die Altersrente wie das Kindergeld, die Gewinne „ordentlicher“ Kapitalisten ebenso wie die Spekulationsgewinne derer, die mit Finanzderivaten und Hedgefonds handeln. Nur weil all das zusammen in einen Topf geworfen wird, kommt am Ende heraus, dass heutzutage drei Personen so viel „verdienen“ wie hundert Jahre zuvor zwanzig!
Aber selbst diese unzureichenden („weichen“) Daten zeigen, auf welchem zweiten Grundfehler und auf welchem statistischen Trick alle die Rentenlüge scheinbar stützenden Argumentationen basieren: In ihnen ist weder der in den vergangenen hundert Jahren erzielte Produktivitätsfortschritt berücksichtigt noch die Umverteilung des produzierten Reichtums von unten nach oben.
Thomas Kuczynski lebt und arbeitet in Berlin. Er schreibt seit Heft 1 von Lunapark21 in jeder Ausgabe einen Beitrag zu „Geschichte & Ökonomie“