Fair + nachhaltig + geschlechtergerecht

„Frauen ernähren die Welt, aber Männer erhalten den Ernährerlohn“

Im Frühling 2020 hat uns die weltweite Corona-Pandemie auch in unseren Breitengraden erreicht. Sie löste eine Krise aus, deren Ausmaß sich derzeit immer noch nicht abschätzen lässt. Aber sie beförderte vor allem die Schwächen unserer gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme zu Tage. Während des Lockdown war auf einmal von systemrelevanten Berufen die Rede, was bis dahin kaum entsprechende Anerkennung fand und kaum im Fokus stand. Es handelt sich um Branchen der personenbezogenen und haushaltsnahen Dienstleistungen, der Sorge- und Versorgungswirtschaft; Tätigkeiten, auf die nicht verzichtet werden kann. Es sind Bereiche, in denen vor allem Frauen arbeiten, in der Regel schlecht bezahlt, mit schlechten Arbeitsbedingungen ausgestattet und kaum wertgeschätzt. Zugleich sind es Tätigkeitsbereiche, die Frauen in Corona-Zeiten in besonderem Maß dem Infektionsrisiko aussetzen.

Die Nahrungsmittelversorgung

In jeder Lebenslage braucht es den ganzen Bereich Herstellen von und Versorgen mit Nahrungsmitteln. Wenn es um das Thema Landwirtschaft geht, kommen mehrheitlich Fragen um Ökologie oder um das Tierwohl zur Sprache. Konsumentinnen und Konsumenten interessieren sich in der Regel mehr für Aspekte der Produktqualität: Ob es allenfalls Pestizidrückstände gibt oder ob die Produkte nach biologischen Kriterien hergestellt werden. Aber die Qualität von Früchten und Gemüsen sagt wenig und nichts darüber aus, unter welchen Arbeitsbedingungen gesät und geerntet wird.

In der Nahrungsmittelproduktion und der Ernährung ist die Geschlechterdimension deutlich. Geht es um Sorgearbeiten, so stehen mehrheitlich Frauen in der Verantwortung. Geht es um Profite, haben vor allem Männer das Sagen. Frauen werden im Geschäft mit Nahrungsmitteln in den Führungsetagen zwar präsenter, aber nach wie vor gibt es eine Diskrepanz: Weltweit erhalten Bäuerinnen zu wenig bezahlt für ihre Produkte, Arbeiterinnen im Lebensmittelsektor haben zu niedrige Löhne und am Ende der Kette sind es letzten Endes Frauen, die sich um das Essen der Familie kümmern.

Nahrungsmittelproduktion hat heute nicht mehr viel mit einem idyllischen Bild von bäuerlicher Landwirtschaft zu tun. Immer mehr familienfremde Erntearbeitskräfte sind auf Bauernbetrieben anzutreffen, wie auch in kleinräumigen Landwirtschaftsgebieten. In unseren Breitengraden kommen sie unter anderem aus Polen, Rumänien oder aus Portugal. Es mutet geradezu zynisch an, wenn in einer Fernsehwerbung der Bauer der Verkäuferin im Supermarkt frisch vom Feld geerntete Tomaten zum Weiterverkauf überreicht.

In Tat und Wahrheit werden heute frisch geerntetes Gemüse und Früchte vielfach von Erntehelferinnen und Erntehelfern aus Ost- und Südeuropa für den Markt bereitgestellt. Diese müssen meist unter miserablen Arbeitsbedingungen schuften. So ist es nicht unüblich, dass von morgens um sechs bis abends um zwanzig Uhr gearbeitet werden muss. Die Arbeit ist so hart, dass sich der Körper kaum erholen kann; und die Löhne sind gering. In der Schweiz beträgt der Richtlohn etwas mehr als 3000 Franken brutto. Zudem können fast 1000 Franken für Kost und Unterkunft abgezogen werden. Im Klartext läuft das auf eine 55- bis 65-Stunden-Woche hinaus – und dies in einem der reichsten Länder der Welt und zu einem Lohn, der in der Schweiz kaum zum Leben reicht.

Südspanische Erdbeeren in unseren Supermärkten

Hand aufs Herz – wen erfreuen rote und gereifte Erdbeeren nicht, die nach den Wintermonaten in unseren Supermärkten zu kaufen sind? Kaum jemand aber weiß, unter welchen Bedingungen diese Früchte geerntet werden. Dank des Solifonds (Solidaritätsfonds für soziale Befreiungskämpfe in der Dritten Welt) in Zürich wissen wir mehr darüber. Die Ausbeutung der hauptsächlich aus Marokko stammenden Erdbeerpflückerinnen hat viele Gesichter. Der gesetzliche Mindestlohn von 40 Euro pro Tag wird selten eingehalten. Hinzu kommt, dass Überstunden oft nicht ausbezahlt werden. Obwohl die Frauen eine vertraglich zugesicherte Mindestbeschäftigung pro Woche haben, wird diese vielfach unterlaufen, indem gesagt wird, das Wetter zum Ernten sei zu schlecht, was massiven Lohnausfall für die Arbeiterinnen bedeutet. Außerdem leben, respektive hausen die Erntearbeiterinnen auf engem Raum, in sogenannten Mehrbettzimmern, oft mit fehlendem Wasser für die Hygiene; was nach langen und wettermäßig heißen Arbeitstagen dringend nötig wäre. Außerdem sind die Arbeiterinnen oft sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Es kommt vor, dass Arbeiterinnen geradezu fortgejagt werden ohne Lohnzahlung, nur weil sie sich Annäherungsversuchen von Vorgesetzten widersetzten. Begründet werden solche Missbräuche damit, dass die Frauen für die Erntearbeit nicht zu gebrauchen seien. Viele Marokkanerinnen sind aber gezwungen, solche Arbeiten, die sich nicht wesentlich von Sklavenarbeit unterscheiden, anzunehmen, weil sie als alleinerziehende Mütter auf das Geld angewiesen sind. Wie so oft hindert Scham die Frauen, über Missbrauch und Ausbeutung zu sprechen.

Nach Jahren der Lähmung und des Widerstands, der auch von Erntearbeiterinnen ausging, hat es die Gewerkschaft der spanischen LandarbeiterInnen SOC-SAT zu Beginn des Jahres 2019 geschafft, die Missstände mit Unterstützung des Solifonds offensiv anzugehen. Eine Informations- und Organisationskampagne unter den Erdbeerarbeiterinnen wurde gestartet. Demzufolge formiert sich nun Druck für die Einhaltung von arbeitsrechtlichen Bestimmungen und Menschenrechten, so dass, Berichten zufolge, die Arbeitgeber bereits nervös werden.

Stärkt nachhaltiger Handel die Position von Frauen?

Es stellt sich die Frage, ob Nachhaltigkeit bei der Nahrungsmittelversorgung zu mehr Geschlechtergerechtigkeit führen könnte. Denn weltweit stecken in der Produktion von Lebensmitteln, sei es für den Eigenverbrauch oder für den Markt, viele und unterschiedliche Formen der Arbeit von Landarbeiterinnen, Bäuerinnen und Familienmitgliedern. Die Stärkung von Frauenrechten ist international in den letzten Jahren zu einem Dauerthema geworden. Die Frauenrechtskonvention (Convention on the Elimination of Discrimination against Women, CEDAW) geht mit einer neuen Empfehlung auf die Situation von „Landfrauen“ ein und erklärt deutlich, dass Geschlechtergerechtigkeit erst dann besteht, wenn sich Frauen und Männer gleichwertig für ihre Ziele einsetzen können und demnach Frauen nicht mehr auf Grund ihres Geschlechts und der zugeschrieben Rollen soziale und wirtschaftliche Benachteiligungen erfahren müssen. Nach wie vor existiert eine Diskrepanz zwischen Gleichs tellung im geschriebenen Gesetz und sich informell fortsetzender Diskriminierung von Frauen. Zum Beispiel geht in der Schweiz auf Grund von gesetzlich ungeschriebener Erbfolge ein Bauernhof meist an einen Sohn und nur selten an eine Tochter über. Oder in Ruanda – mit einem Parlament, das einen Frauenanteil von über 60 Prozent ausweist und damit weltweit an der Spitze steht – verzichten viele Frauen unter Druck von Familie und Gesellschaft auf ihren gesetzlichen Anteil von Land.

Um auf die oben gestellte Frage zu antworten, stellen die Herausgeberinnen der Broschüre Essen.Macht.Arbeit. von Wide Switzerland fest, dass auch in sogenannten nachhaltigen Ernährungssystemen, wie zum Beispiel Fair-Trade- und Bio-Lebensmittelnetzwerken, bestehende geschlechterdifferenzierte Verteilungen von Rolle, Arbeit, Verantwortung und Entscheidungsmacht weniger verändert als reproduziert werden. Es spielt keine Rolle, ob es sich um konventionelle globale Agrar-Wertschöpfungsketten oder um alternative Lebensmittelnetzwerke handelt, die einen geschlossenen Kreislauf anstreben. So zeigt es sich, dass am Ende kein System automatisch geschlechtergerecht ist.

Dennoch muss eine Diskussion über faires und nachhaltig hergestelltes Essen die Geschlechterdimension miteinbeziehen. In den letzten Jahren haben dank internationaler Menschenrechts- und Umweltverträgen Nachhaltigkeitsprinzipien in Deklarationen an Konturen gewonnen. Etwas vereinfachend gesagt, «nachhaltig» ist demnach im Nahrungsmittelbereich eine Produktionsweise, die die Böden nicht zerstört, zum Erhalt der Biodiversität beiträgt und die Klimaerwärmung nicht vorantreibt. Um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen, braucht es aber mehr. Die Herausgeberinnen halten in ihrer Broschüre fest: „Um Geschlechtergerechtigkeit in den Ernährungssystemen voranzubringen, braucht es Frauenorganisationen, Frauenkooperativen und Netzwerke für Aktivistinnen, die für ihre Rechte einstehen.“

Therese Wüthrich ist Gewerkschafterin, journalistisch und publizistisch tätig, und arbeitet in verschiedenen frauen- und sozialpolitischen Projekten. Sie lebt in Bern.

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